Literaturwissenschaftliche Forschungsarbeiten zur deutschsprachigen Literatur über die Shoah und den Holocaust gibt es immer noch – im Vergleich etwa zu historischen Untersuchungen – verhältnismäßig wenige. Meistens nehmen sie die bekanntesten und kanonischen Texte in den Blick. Dies tut auch Dennis Bock in seiner Dissertationsschrift im Falle von zweien seiner drei Beispiele. Unter Literatur über die Shoah und den Holocaust (beide Begriffe verwendet er synonym und als heuristische Kategorien) versteht er dabei Werke von jüdischen Verfolgten.
Neu ist vor allem die Perspektive, unter denen Bock die Texte von Kertész, Millu und Klüger betrachtet1, nämlich im Hinblick auf ihr störendes Potenzial. Den Begriff der Störung leitet er von dem kultur- und geisteswissenschaftlichen Konzept der ‚Störung‘ ab und beruft sich maßgeblich auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann und die Kultur- und Literaturtheorien der Störung von Ludwig Jäger, Lars Koch und Carsten Gansel.2 Darauf aufbauend entwickelt er seinen Neuansatz einer sprechhandlungstheoretischen Perspektive. Der Begriff Störung wird dabei entgegen der alltagssprachlichen eher negativen Konnotation semantisch aufgewertet und als literarisches Verfahren verstanden, das individuelles und gesellschaftliches Wissen sichtbar macht. Diesem Ansatz liegt die Annahme zu Grunde, dass Rezipienten sich ein bestimmtes Wissen über literarische Texte aneignen und daraus Erwartungen ableiten, etwa im Hinblick auf die Verarbeitung bestimmter Stoffe oder die verwendeten Motive und Bilder in einem Werk. Bocks Fokus richtet sich demzufolge auf den im jeweiligen Text durch den Autor angelegten (produktiven) Charakter der Störung und die daraus resultierenden Erwartungsenttäuschungen. Diese sind natürlich „in ihrer Wirkmacht historisch variabel“ (S. 212), wie Bock betont. Nur auf der Basis gesellschaftlichen und individuellen Wissens können sich Störpotentiale entfalten. „Je ausgeprägter und etablierter das gemeinsame Wissen zum Thema des Gewussten ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Abweichung von dem Wissen als Störung empfunden wird“ (S. 213). Für leserseitige Störungen verantwortlich sei außerdem vielfach die historisch und situativ bedingte unterschiedliche Sprechsituation von Autor und Leser sowie die Suspendierung der Rückfrage, da die Irritationen nicht aufgelöst werden könnten.
Die untersuchten Texte sind so ausgewählt, dass sie einen breiten Publikationszeitraum von den 1940er- bis zu den 2000er-Jahren sowie unterschiedliche Formen der literarischen Erzählung über die Shoah abdecken. Mit Kertész und Klüger wählt Bock zwei Texte der Höhenkammliteratur, um zu zeigen, welchen „Mehrwert der in dieser Untersuchung zugrunde gelegte Neuansatz“ (S. 15) bietet. Mit dem Werk von Millu möchte er hingegen einen Text untersuchen, der, so Bock, noch kaum literaturwissenschaftlich untersucht worden sei und der bislang tabuisierte Themen wie etwa Sex-Zwangsarbeit behandle.
Bei Imre Kertész und seinem „Roman eines Schicksallosen“ (ungarisches Original 1975, 1996 auf Deutsch), den Bock in seiner Arbeit am ausführlichsten behandelt, entfaltet sich das Störpotenzial gleich in mehrfacher Hinsicht. Bereits die naive Perspektive, aus welcher der junge Protagonist György Köves zu Beginn der Handlung seine Lagererfahrungen schildert, ist, so argumentiert Bock, eine solche Störstrategie des Autors. Das anfänglich verzerrte Weltbild des Ich-Erzählers, der Stigmatisierung und Verfolgungserfahrungen bagatellisiert und die Täter verharmlost, sowie der Wissensvorsprung des Lesers im Hinblick auf die Lager, sorgen für leserseitige Irritation und Enttäuschungen der Lesererwartungen. Denn das vertraute Wissen des Lesers über den historischen Ort Auschwitz wird durch den Roman in Frage gestellt, der diesem „Post-Auschwitz-Wissen“ ein „Prä-Auschwitz-Wissen“ (S. 159) des Protagonisten entgegenstellt. Vor allem auch im Hinblick auf die Darstellung des ‚Muselmanns‘ im Roman wird das gängige Bild der Überlebenden- und Forschungsliteratur in Frage gestellt und ein Erwartungsbruch provoziert. Entgegen der meisten kanonisierten Narrative stellt Kertész den Muselmann nicht nur beobachtend von außen, sondern durch den erlebenden Protagonisten in der Innenperspektive dar. Im Gegensatz zum etablierten Bild führen hier körperlicher und seelischer Verfall nicht zwangsläufig in den Tod.
Liana Millus Werk „Rauch über Birkenau“ (italienisches Original 1947, 1997 auf Deutsch) entfaltet sein Störpotential nach Bocks Analyse von drei der insgesamt sechs Erzählungen vor allem in thematischer Hinsicht. Die Schilderung dezidiert weiblicher Erfahrungen im Konzentrationslager – im Gegensatz zu den Beispielen männlicher ‚Meisternarrative‘ – und die oftmals tabuisierten Themen der (sexuellen) Gewalt gegenüber Frauen und auch untereinander sowie des sexuellen Tauschhandels habe zu einer Marginalisierung des Werks geführt. Hinzu komme, dass Millu zusätzlich ‚störe‘, indem sie auf eine allzu simple Darstellung von passiven (weiblichen) Opfern auf der einen Seite und aktiven (männlichen) Tätern auf der anderen verzichte, ebenso wie auf moralische Urteile. (Zwangs-) Prostitution und sexueller Tauschhandel bedeuteten bei Millu nicht nur Demütigung und Hilflosigkeit, sondern seien ebenso auch manchmal Überlebens- und Bewältigungsstrategie der Protagonistinnen. Die Störung und der Erwartungsbruch bestehe darin, dass Millu den Leser so dazu zwinge, „eigene Deutungen zu entwickeln und aktiver Teil eines Lese- und Interpretationsprozesses“ (S. 365) zu werden.
In Ruth Klügers Autobiografie „weiter leben“ (deutsches Original 1992) sieht Bock, wie bereits einige vor ihm, ein impulsgebendes Beispiel einer gänzlich neuen Form der Zeugnis- und autobiografischen Holocaustliteratur. Klügers Konzept sei auf Herausforderung des Lesers und Widerspruch angelegt, ebenso wie ihr feministischer Stil. Sie provoziere in hohem Maße „Rückfragen und Störungen, die sich zunächst nicht auflösen lassen“ (S. 376). Klüger dekonstruiere nicht nur etablierte Motive und Positionen in der Literatur über die Shoah, sondern sie stelle sich auch quer zu anderen literarischen Darstellungen, die als kanonisiert gelten, etwa denen von Primo Levi. Klügers dialogisches Schreibverfahren, mit dem sie eine Auseinandersetzung des Lesers einfordere, aber gleichzeitig wegen der diachronen und diatopen Sprechsituation von Autor und Leser die Rückfragen suspendiere, habe jedoch, so Bock, auch streitbare Aspekte, die ebenfalls Störpotential böten. So stelle Klüger verschiedene pauschale Behauptungen auf – etwa im Hinblick auf SS-Frauen, die es nicht gegeben habe oder auf das mutmaßlich generell weniger brutale Verhalten von weiblichen Aufseherinnen, aber auch im Hinblick auf die politischen Häftlinge in Auschwitz und Buchenwald –, die sie zum einen teilweise durch den eigenen Text widerlege oder die zum anderen durch die Forschung als widerlegt gelten könnten. Klügers Subjektivismus und die Verallgemeinerungen in ihrer Autobiografie, die „nicht ohne den nötigen biografischen, politischen sowie literaturhistorischen Kontext gelesen“ (S. 443) werden könnten, sei Ausdruck ihrer ‚Unversöhnlichkeiten‘, wie Klüger es selbst nennt. „Insgesamt betrachtet oszillieren die textlichen Störpotenziale bei Klüger zwischen Aufklärung und Verallgemeinerung“ (S. 445) oder „zwischen erkenntnisgewinnenden und gegenaufklärerischem Gestus“ (S. 447), fasst Bock zusammen.
Bock weist in seiner sehr sorgfältigen und überzeugenden Arbeit schlüssig und kohärent nach, wie Störungen in den Texten von Kertész, Millu und Klüger jeweils etabliertes Wissen über die Lager und die Häftlinge in Frage stellen und neue Blickwinkel und differenzierte Wahrnehmungen ermöglichen (können). Er führt dabei selbst zu Recht aus, dass sich die von ihm gewählten Beispiele in grundlegender Weise von der Mehrzahl der Literatur über die Lager unterscheiden. Die Eingrenzung des gewählten Untersuchungsgegenstands ist jedoch sinnvoll und schlüssig. Bock zeigt, dass literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu Werken der Holocaustliteratur Erhebliches dazu beitragen können, zu erforschen, wie einerseits Wissen über die Lager in Erzählungen vermittelt und etabliert wird, aber andererseits auch, wie Literatur gleichfalls in der Lage ist, diese etablierten Muster und Perspektiven aufzubrechen und zu erweitern.
Anmerkungen:
1 Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen, Reinbek 1996; Liana Millu, Der Rauch über Birkenau, München 1998; Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992.
2 Ludwig Jäger, Verstehen und Störung. Skizze zu den Voraussetzungen einer linguistischen Hermeneutik, in: Fritz Hermanns / Werner Holly (Hrsg.), Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens, Tübingen 2007, S. 25–42; Lars Koch / Tobias Nanz / Johannes Pause, Imaginationen der Störung. Ein Konzept, in: BEHEMOTH. A Journal on Civilisation 9/1 (2016), S. 6–23; Carsten Gansel / Norman Ächtler, Das ‚Prinzip Störung’ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Das ‚Prinzip Störung’ in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin 2013, S. 7–13.