Title
Lokal- und Regionalgeschichte.


Author(s)
John, Anke
Series
Methoden Historischen Lernens
Published
Frankfurt/M. 2018: Wochenschau-Verlag
Extent
270 S.
Price
€ 13,50
Reviewed for H-Soz-Kult by
Charlotte Bühl-Gramer, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Welchen Platz hat Lokal- und Regionalgeschichte im Geschichtsunterricht des 21. Jahrhunderts? Anke John lotet in diesem klugen und lesenswerten Buch alte und neue Perspektiven und Potenziale dieses Zugangs für das historische Lernen in vier Kapiteln aus. Acht Praxisbeispiele schließen sich im zweiten, unterrichtspraktischen Teil den theoretischen Ausführungen an.

Der eingangs vorgestellte konzise disziplingeschichtliche Überblick legt in neun kurzen Unterkapiteln zunächst die verschiedenen Relevanzzuschreibungen lokal- und regionalgeschichtlicher Zugänge für das historische Lernen im Geschichtsunterricht seit dem 18. Jahrhundert dar. Die Palette an Zwecksetzungen, erkenntnistheoretischen Positionen und postulierten Potenzialen ist dabei äußerst vielfältig und reicht von geschichtspolitischen Instrumentalisierungen, pädagogischen und geschichtstheoretischen Leitideen bis hin zu Konzepten zivilgesellschaftlicher Partizipation und politischer Selbstverantwortung.

Mit einigen gegenwärtigen und zukünftigen Perspektiven (S. 43–45) beendet John dieses Kapitel. Zunächst markiert sie hier vier wichtige Leerstellen der geschichtsdidaktischen Forschung: das Fehlen von Lehr-Lernkonzepten, die im Zuge des „spatial turn“ den Wechsel von einem statischen zu einem dynamischen Raumkonzept wirksam werden lassen, empirische Untersuchungen, die den Theorien und Thesen vom Mehrwert der Regionalgeschichte nachgehen, Forschungen zu einem auf die Region bezogenen Geschichtsbewusstsein und zu dessen Bedeutung für die Identitätsbildung Heranwachsender. Dem schließen sich drei neue Perspektiven auf die Relevanz von Lokal- und Regionalgeschichte im Geschichtsunterricht an, die im Folgenden weiter entfaltet werden:

1. eine Anknüpfung an die Kulturanthropologie mit ihrem Konzept des lokalen Wissens als besonders lebenspraktische Denkform (Antweiler)

2. die gestiegene Aufmerksamkeit für die uns umgebenden historischen Dinge

3. eine für das Buch zentrale These: John geht davon aus, dass spezifische historische Denkleistungen an der Beschäftigung mit lokal- und regionalgeschichtlichen Themen – spezifische landes-, regional- oder lokalhistorische Methoden gibt es nach Auffassung der Verfasserin nicht – besonders ertragreich ausgeprägt und gefördert werden können: Die Interpretation von im Original vorzufindenden Quellen, die mündlichen Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie die Partizipation an und Mitgestaltung von Geschichtskultur im nahen Umfeld (S. 45).

In drei Unterkapiteln vermisst die Verfasserin in Anknüpfung an Vadim Oswalts beschriebene räumliche Situierung historischen Lernens im zweiten Abschnitt des Buches das Feld der Raum- und Ortsbezüge, die lokal- und regionalgeschichtliches Lernen in der Unterrichtspraxis prägen: Die Handlungs- und Erfahrungsräume der Lernenden, die historischen Lerngelegenheiten, die sich am Unterrichtsort eröffnen, sowie die vom Lehrplan als relevant erachteten Geschichtsräume.

Hinsichtlich der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler plädiert John zurecht für eine deutlich differenziertere Reflexion der Lernvoraussetzungen und Interessenlagen. Sie verweist auf die häufige Fehleinschätzung, dass mit einem regional- oder lokalhistorischen Zugriff an Erfahrungen und Wahrnehmungen der Kinder und Jugendlichen angeknüpft werden könne, betont die Notwendigkeit von anleitender Hilfe historischer Wahrnehmung auch und gerade vor Ort und des Einbezugs der unterschiedlichen Raumbegriffe der Schülerinnen und Schüler sowie der erst anzubahnenden Herstellung eines Lebensweltbezugs auch im Nahraum. John sensibilisiert die Leserschaft für vorschnelle Vorannahmen von lokaler und regionaler Verwurzelung von Schülerinnen und Schülern und erinnert daran, dass eine besondere Popularität von lokal- oder regionalgeschichtlichen Zugängen bei Lernenden bislang empirisch nicht nachgewiesen wurde.

Als regionalgeschichtliche Lerngelegenheiten am Schulort betrachtet John historische Orte, lokale Archive sowie Heimat-, Stadt- und Landesmuseen. Die Ausführungen zu einigen Potenzialen sind treffend, wenn auch recht knapp gehalten. So wäre z.B. für die Museen auch noch auf neue partizipative Konzepte oder Perspektivenwechsel in transregional-europäischer Perspektive zu verweisen.1 Auf der normativen Ebene werden daraufhin die in den Lehrplänen als relevant erachteten Geschichtsräume und Raumbegriffe analysiert. John kann dabei zeigen, dass die Integration von Lokal- und Regionalgeschichte zwar als unverzichtbar erachtet wird, dabei aber die Darstellungsperspektive in der Funktion eines repräsentativen Fallbeispiels als lokaler Nachvollzug dominiert. Für die Lehrpläne im bilingualen Geschichtsunterricht bilanziert John einige Anregungen zum Vergleich historischer Regionen und verweist zurecht auf die bislang völlig unterschätzten Möglichkeiten des Einsatzes fremdsprachiger Quellen vor Ort und in der Region. Methodisch innovative Ansätze regionalgeschichtlichen Lernens finden sich nach dieser Analyse daher nicht in den Curricula, sondern in den Geschichtswettbewerben.

Boten also die Handlungs- und Erfahrungsräume von Schülerinnen und Schülern wie auch die Lehrpläne wenige, hier allenfalls postulierte Argumente für lokal- und regionalgeschichtliches Lernen, die Lerngelegenheiten vor Ort dagegen eine Fülle von didaktischen Möglichkeiten, so nimmt die Autorin die Begründungsbedürftigkeit und -notwendigkeit weiter ernst und wendet ihre Überlegungen zu Relevanz und Lernwürdigkeit von lokal- und regionalgeschichtlichen Themen im Unterricht ins Konkrete. In Anlehnung an Ulrich Mayer, Peter Gautschi und Markus Bernhardt beschreibt und analysiert sie äußerst kenntnisreich die drei Kriterien des geschichtskulturellen Angebots lokal- und regionalgeschichtlicher Zugänge (Geschichtswissenschaftliche Dimension, Schlüsselprobleme, Basisnarrative), um sie für die didaktische Konstruktion fruchtbar zu machen. Es folgen sechs programmatische Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung. Besonders aufschlussreich und weiterführend sind dabei die Erweiterung des Raumbezugs um eine soziale Dimension am Beispiel von Nachbarschaft sowie die Überlegungen zur Anschlussfähigkeit des Geschichtsunterrichts an gegenwärtige bildungspolitische Projekte zur Etablierung von Bildungslandschaften, wenn im Unterricht Archive, Museen und Gedenkstätten genutzt werden (S. 104).

Was die Relationen von Regionalgeschichte und allgemeiner deutscher Geschichte betrifft, so ist aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu betonen, dass regionale Perspektiven für die Vormoderne mit ihren Territorien, Landschaften und Städten sicherlich die Basisdisziplin bilden – ein Aspekt, der im Unterricht kaum Niederschlag findet. Die Beziehungen von Regionalgeschichte und allgemeiner Geschichte aus didaktischer Perspektive bzw. als wichtigen Baustein der Unterrichtsplanung lotet die Autorin im vierten Kapitel aus. Unter Rekurs auf die drei Varianten nach Thomas Leeb, erachtet sie die „Additionstheorie“ und die „Interdependenztheorie“ als für die Schule unbrauchbar und entwickelt eine überzeugende Typologie von vier didaktischen Funktionen der Mikrogeschichte für die Makrogeschichte: das repräsentative Fallbeispiel, Ort und Region als Ausgangspunkt und Einflussfaktor historischer Entwicklungen, womit auch Rückwirkungen auf die allgemeine Geschichte von „unten“ nach „oben“ sichtbar gemacht werden können, regionalgeschichtliche Fallbeispiele zur Enttypisierung, um die geschichtliche Individualität, das geschichtliche Profil einer Landschaft, einer Region, eines Ortes und die eigene historische Dignität zu wahren sowie globale Verflechtungsgeschichten von Orten und Regionen.

Die acht Praxisbeispiele fußen auf den drei im theoretischen Teil entfalteten besonderen historischen Denkleistungen durch lokal- und regionalgeschichtliche Themen. Zunächst werden die Spezifika des lokalen bzw. regionalen Beispiels aufgezeigt, sodann die intendierten Lernziele und Erweiterungschancen historischen Denkens erläutert und im Anschluss Quellen und Darstellungen mit Aufgaben und weiterführender Literatur präsentiert. Der direkten Übertragbarkeit auf andere Orte und Räume sind dabei natürlich Grenzen gesetzt. Doch auch wenn es inhaltlich nicht immer eine Transferoption geben mag, so zeigen die Beispiele eindrücklich, wie man über geschichtsdidaktische Potenziale regional- und lokalgeschichtlicher Themen reflektiert und wie diese Zugriffe zu legitimieren sind.

Eine Sozialisations- und Partizipationsfunktion werden Kenntnissen zur Lokal- und Regionalgeschichte eines jeweiligen (neuen) Schulortes z.B. für zugewanderte Schülerinnen und Schüler von der Autorin nicht zugewiesen – ein Potenzial, das jenseits der Frage von Identitätsstiftung sicherlich diskussionswürdig wäre. Stattdessen betont Anke John über die besonderen Möglichkeiten der Schulung historischen Denkens hinaus eine andere Chance des regional- oder lokalhistorischen Zugangs: Die Vermittlung lokalhistorischen Wissens, das im Zuge von Mobilität und Migration an allen möglichen neuen Lebensmittelpunkten verfügbar werden und Anwendung finden kann.

Anke Johns Buch ist ein äußerst kenntnisreicher, systematisch entwickelter Beitrag über Potenziale lokal- und regionalgeschichtlichen Lernens für einen Geschichtsunterricht des 21. Jahrhunderts. Es gelingt ihr, die Relevanz von Regional- und Lokalgeschichte jenseits so oft behaupteter, aber bislang nicht untersuchter Funktionen der Identitätsbildung für Heranwachsende zu entfalten. Das didaktische Potenzial von Lokal- und Regionalgeschichte ist – so konstatiert die Autorin zurecht – aufgrund der veränderten Erfahrungen Heranwachsender immer wieder neu zu durchdenken. Man folgt der Autorin gerne bei dieser Aufgabe.

Anmerkung:
1 Vgl. Anna-Lena Fuhrmann u.a., Making Europe visible. Re-Interpretation von Museumsobjekten und -themen. Ein Handbuch, Wien 2016.

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