Cover
Titel
Kolonialität und Geschlecht. Eine Geschichte der weißen Schweiz


Autor(en)
Purtschert, Patricia
Reihe
Postcolonial Studies 33
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Althaus, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich

Grellweiß leuchtet der Leserin das Gesicht einer (Haus-)Frau auf dem Buchumschlag entgegen. Weiß wie das Schweizerkreuz in der Hand des daneben abgebildeten Bergsteigers, dessen Haut zwar braungebrannt, aber ebenfalls unverkennbar weiß ist. Was haben diese beiden für das (weiße) Schweizer Selbstverständnis zentralen Figuren – die Hausfrau und der Bergsteiger – mit Kolonialität zu tun? Und welche Rolle spielt dabei die Kategorie Geschlecht? Diese Fragen sind der Ausgangspunkt der – theoretisch durchdachten, empirisch erfüllten und scharfsinnig argumentierten – Studie von Patricia Purtschert. Ihr Interesse gilt der kolonialen Herkunft und Verflechtung schweizerischer Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Sie fragt insbesondere danach, wie koloniale Denkweisen „das populäre Wissen und die Alltagswelt durchdringen“ (S. 13). Mit dieser lebensweltlichen Fokussierung gelingt es ihr aufzuzeigen, wie tief koloniale Strukturen gesellschaftlich und (alltags-)kulturell verankert sind und wie wirkmächtig sie im Hinblick auf die Konstitution schweizerischer Geschlechterverhältnisse waren. Als Hauptquellen nutzt die Autorin Bilder und Texte, die populäres Wissen generieren und transportieren. Sie stammen aus Zeitschriften, Plakatwerbungen, Tageszeitungen, autobiografischen Erfahrungsberichten und Ähnlichem.

Das Quellenmaterial analysiert Purtschert mit Hilfe diverser theoretischer Konzepte aus der postkolonialen und feministischen Forschung, mit denen sie die Leser/innen in einem einleitenden Grundlagenkapitel vertraut macht. Wichtiger Ausgangspunkt ihrer Argumentation ist die Feststellung einer „kolonialen Amnesie“, die sie in Anlehnung an Stuart Hall formuliert (S. 31). Damit ist ein aktives Vergessen-Machen der eigenen kolonialen Vergangenheit gemeint. Die spezifisch schweizerische Ausprägung der kolonialen Amnesie fasst die Autorin mit dem prägnanten Satz „kolonial waren die anderen“ zusammen (S. 33). Als Land, das nie Kolonien besessen hat, war es in der Schweiz – im Gegensatz etwa zu Großbritannien – einfacher, die eigene Kolonialgeschichte zu verdrängen. Das aktive Vergessen ging mit der Konstruktion der Schweiz als rein weiße Nation einher – etwa durch Tilgung nicht-weißer Menschen und ihrer Leistungen aus dem kollektiven Gedächtnis und der Historiografie. Als Beispiel nennt Purtschert die 1971 gewählte Nationalrätin Tilo Frey. Dass diese bis vor Kurzem vollkommen in Vergessenheit geraten ist1, hängt nicht nur mit ihrer Hautfarbe zusammen, sondern auch mit ihrem Geschlecht. Ein zweiter Teil der Einleitung fokussiert auf den intersektionalen Zusammenhang von Kolonialität, Geschlecht und Sexualität. Purtschert arbeitet – insbesondere mit Bezug auf die feministischen Theoretikerinnen Anne McClintock und María Lugones – heraus, dass koloniale Differenzen untrennbar mit Geschlechter- und Klassenunterschieden verflochten sind. Sie legt dar, wie koloniale Dominanz weißer Männer hergestellt wird: durch die Feminisierung nicht-weißer Männer, die Sexualisierung nicht-weißer Frauen sowie die Abwertung weißer Frauen. Letztere konstruieren ihre weiße Bürgerlichkeit wiederum in Abgrenzung zu Frauen of color.

Eine weitere wichtige Denkfigur, die die spätere Analyse ihres Quellenmaterials schärft, ist das aus der postkolonialen Theorie bekannte Konzept des Othering. Das heißt, die „konstitutive Verflechtung weißer Subjektformation und kolonialer Alterität“ (S. 45) – also die Herstellung des (weißen, zivilisierten, fortschrittlichen) Selbst in Abgrenzung zu einem imaginierten (schwarzen, wilden, rückständigen) Anderen. Dazu gehört etwa, das koloniale Gegenüber nicht als Individuum, sondern als Teil eines Kollektivs zu positionieren oder die eigene Zivilisiertheit durch Entmenschlichung des Anderen herzustellen. Solche „kolonialen Fantasien“ (S. 54) von primitiven Wilden und ihren exotischen Existenzweisen waren, wie Purtschert überzeugend darlegt, zentral für die Konstruktion des schweizerischen Nationalverständnisses gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Koloniale Fantasien steigerten das Zugehörigkeitsgefühl zu Europa und ermöglichten es, sich als christliches und zivilisiertes Land zu imaginieren und damit innere politische, religiöse und soziale Spannungen zu überbrücken. Die Ausbildung von Schweizer Selbst- und Fremdwahrnehmungen war fest im kolonialen Setting verankert. Die Hausfrau (als ideale Schweizerin) und der Bergsteiger (als prototypischer Schweizer) sind in ihrer Genese nur vor dem Hintergrund einer kolonialen Matrix zu verstehen, wie Purtschert sodann in zwei Fallstudien ausführt.

Im ersten Kapitel, das die Erfindung der Schweizer Hausfrau in den 1930er-Jahren untersucht, nimmt die Autorin vorwiegend Reklamen – von Weißwaren über Schokolade und Zahnpasta bis zu Elektrogeräten – in den Blick. Denn in der neu entstehenden Konsumgesellschaft fanden koloniale Vorstellungen und rassistische Bilder gerade mittels Werbung weite Verbreitung. Diese spezifische Form des Rassismus bezeichnet Purtschert in Anlehnung an Anne McClintock als „Warenrassismus“ (S. 79). In der Folge untersucht sie Logiken und Funktionen des spezifisch schweizerischen Warenrassismus. Die analysierte Werbung transportierte koloniale Bilder von exotischen Welten, primitiven (tierähnlichen) Wilden, unhygienischen und passiven Schwarzen, sexuell verfügbaren nicht-weißen Frauen und verweiblichten nicht-weißen Männern. Mit solchen Fantasien wurde die Zugehörigkeit zu einer weißen „Rasse“ vermittelt. Sie boten den weiblichen Konsumentinnen, an die sich die Werbungen als Verwalterinnen des Haushaltes häufig ganz explizit richteten, ein Identifikationsangebot. Es sollte ihnen als Frauen die Teilhabe an einer „überlegenen, weißen Zivilisation“ ermöglichen, obwohl sie durch ihre ökonomische, politische, rechtliche und soziale Ungleichbehandlung faktisch davon ausgeschlossen blieben (S. 86). Das Ideal der Hausfrau, das sich ab den 1930er-Jahren für breite Bevölkerungsschichten durchzusetzen begann, vollzog sich in einem kolonialen Setting. Diese Erkenntnis ermöglicht Purtschert, die – oft beschriebene – Entwicklung der weiblichen Zurückdrängung in den reproduktiven Bereich differenzierter zu fassen: das Ideal, das sich durchsetzte, war das Bild der weißen Hausfrau.

Im zweiten Kapitel, das sich den Schweizer Bergsteigern im Himalaya der 50er-Jahre widmet, stützt sich Purtschert in ihrer Analyse vor allem auf populäre Erfahrungsberichte. Sie legt ein Augenmerk auf die erzählten Beziehungen zwischen Schweizer Bergführern, die sich in imperialer Manier am Wettrennen um die Erstbesteigung der höchsten Gipfel der Erde beteiligten, und den einheimischen Expeditionsteilnehmern in Nepal. Das Verhältnis, so Purtschert, war von einem ambivalenten Spiel zwischen Nähe und Distanz, Ähnlichkeit und Differenz – einer „ungleichen Ähnlichkeit“ (S. 246) – gezeichnet. Einerseits identifizierten sich Schweizer Bergführer (auch wenn sie bürgerliche Städter waren) als „Bergler“ mit der nepalesischen Bergbevölkerung, andererseits positionierten sie diese mit kolonialem Blick als vormoderne, ungebildete, auf ihre physische Kraft reduzierte Assistenten. Diese hierarchische Abgrenzung bei gleichzeitiger Identifikation, die auch im nationalistischen Alpendiskurs der Jahrhundertwende von Bedeutung war, bezeichnet Purtschert als „Berg-Othering“ (S. 211). Das identifikatorische Moment ermöglichte den Schweizer Bergführern in Zeiten der Dekolonisation die Beziehung zu den einheimischen Expeditionsteilnehmern als egalitär darzustellen. Auf diese Weise gelang es ihnen, ihre koloniale Praxis des Entdeckens und Eroberns umzudeuten, ohne dabei die „Kolonialität der Macht“ aufzulösen (S. 281). Koloniale Fantasien – wie die rassifizierende und verweiblichende Darstellung der Sherpas – strukturierten nicht nur die hierarchischen Beziehungen am Berg, sondern sind ein wichtiger Aspekt in der Konstruktion Schweizer Männlichkeit als aktiv, pioniergeistig, modern und weiß.

Mit ihrem Buch demonstriert Purtschert eindrucksvoll, wie sinnhaft und fruchtbar es ist, die Schweizer Geschichte als Kolonialgeschichte zu verstehen und eine solche mit feministischem Blick und unter Berücksichtigung postkolonialer Forschungsansätze zu analysieren. Die Autorin überzeugt mit pointierten Analysen ihrer Quellen, die sie mit theoretisch informiertem Blick immer in ihrem historisch konkreten Kontext einbettet. In der sprachlichen Gestaltung zeichnet sich die Studie durch einen schönen Flow aus, der die Lektüre zum Genuss macht. Das Werk ist in vielerlei Hinsicht anschlussfähig für weitere Forschungen. So könnte es zum Beispiel den theoretisch-diskursiven Boden für Arbeiten bereiten, die auf einer praxeologischen Ebene die Wirkmächtigkeit kolonialer Episteme in der schweizerischen Alltagskultur untersuchen wollen.

Anmerkung:
1 Erst kürzlich wurde ein Platz vor der Universität Neuenburg, der nach dem Rassetheoretiker Louis Agassiz benannt war, in Espace Tilo-Frey umbenannt, vgl. Kaspar Surber, Platz da! Von Louis Agassiz zu Tilo Frey, in: WOZ. Die Wochenzeitung 37, 13.9.2018, https://www.woz.ch/1837/platz-da/von-louis-agassiz-zu-tilo-frey (12.2.2020).

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