Felix Bohrs Die Kriegsverbrecherlobby ging aus einem Promotionsvorhaben mit dem seinerzeitigen Untertitel „Offene und verdeckte Hilfe aus der Bundesrepublik Deutschland für die NS-Täter Herbert Kappler und die ‚Vier von Breda‘ (1949-1989)“ hervor. Seit der Publikation des Buches im Oktober 2018 erschien eine Vielzahl von positiven Rezensionen in der Presse (Frankfurter Rundschau, NZZ, SZ, taz, ZEIT)1 und im Radio (Deutschlandfunk Kultur, SWR2)2. Harald Biermann bildet mit seinem in der FAZ veröffentlichten Verriss eine Ausnahme.3 Zur außergewöhnlich breiten Rezeption trugen der veröffentlichende Suhrkamp Verlag mit seiner Entscheidung zur Aufnahme ins Hauptprogramm sowie der Autor selbst bei, der in den sozialen Medien sowie auf Vortragsveranstaltungen sehr aktiv ist. Der niedrige Preis von 28 Euro sowie der für die Publikation abgewandelte Untertitel „Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter“ dürften ein Weiteres zur Verbreitung in der geschichtlich interessierten Öffentlichkeit beitragen.
Diese Laienöffentlichkeit zählt erkennbar zu Bohrs Zielgruppe, was sich unter anderem in der Wahl eines dramatischen Einstiegs, in der Sprache sowie in der Gestaltung (z.B. End- statt Fußnoten) zeigt. Felix Bohr wählte also eine ungewöhnliche Art, seine Dissertation zu vermarkten – und das ist in diesem Fall sehr zu begrüßen. Historikern nämlich, die sich einigermaßen mit der Vergangenheitspolitik der BRD bis zur Wiedervereinigung auskennen, bietet das Buch nur wenig Neues. Bezüglich der betrachteten Fälle des wegen Massenmordes in den Fosse Ardeatine in italienischer Haft sitzenden Kappler beziehungsweise der wegen NS-Verbrechen in den Niederlanden inhaftierten „Vier von Breda“ liegen jeweils Monographien sowie eine Vielzahl von Aufsätzen für den gesamten Untersuchungszeitraum vor.4 Gegenstand eigener Monographien waren auch bereits sämtliche der drei von Bohr schwerpunktmäßig untersuchten Lobby-Organisationen: die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG), die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“ sowie der „Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen“ (VdH).5 Eine klaffende Forschungslücke über „ein bislang größtenteils unbekanntes Kapitel der bundesdeutschen Geschichte“ (S. 15) lag also nicht vor. Aus Bohrs integrierender Darstellung folgt denn auch keine Neubewertung, sondern eine Bestätigung bekannter Deutungen, insbesondere jenen von Norbert Frei zur westdeutschen Vergangenheitspolitik.
Dass Bohr die Akteure, zu denen er auch einige Kirchenvertreter, Beamte und Politiker zählt, „erstmals konsequent als Lobbygruppe“ (S. 369) zusammenfasst, sollte auch unter Fachleuten nicht so kontrovers beziehungsweise innovativ sein, wie er selbst glaubt (S. 24–25, S. 369–370). Die Pressereaktionen zeigen jedoch, dass sein entschieden und überzeugend geführter Angriff auf das „Erfolgsnarrativ“ (S. 377) der Bonner Republik einen gesellschaftspolitischen Nerv getroffen hat. Gerade jene Vielzahl von Historikern, die wie der Rezensent in der gegenwärtigen dritten Welle der Behördenforschung zur „zweiten deutschen Schuld“ (Ralph Giordano) mitschwimmen, können sich bei Bohr abschauen, wie die notwendige Brücke zur geschichtsinteressierten Öffentlichkeit geschlagen werden kann. Sein Buch unterscheidet sich ferner auch deutlich von dem im Februar dieses Jahres von Willi Winkler bei Rowohlt veröffentlichten populärwissenschaftlichen Werk Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde.6 Während Winkler basierend auf minimaler eigener Archivrecherche den sattsam bekannten Forschungsstand zusammenträgt und literarisch anzureichern versucht, besuchte Bohr insgesamt 18 Archive in den drei betreffenden Ländern und erschloss dabei beim BND und im Archiv des Auswärtigen Amts auch neue Quellen (S. 28–29).
Bohr gliedert sein Buch in fünf Abschnitte. An eine gedrängte Darstellung der Verbrechen und Verurteilungen schließen sich chronologisch die Kapitel zum Entstehen der Lobby (bis 1961), zum Wandel „von der offenen zur verdeckten Hilfe“ nach dem Eichmann-Prozess (1961–1969), zur „Kriegsverbrecherfrage in der sozialliberalen Ära“ (1969–1982) sowie ein Kapitel über den Weg zur schließlich 1989 erfolgten Begnadigung der letzten „Zwei von Breda“ an. Den größten Raum nimmt dabei das Kapitel zur sozialliberalen Koalition ein, denn nicht dem Engagement der „Brothers in Crime“ (S. 368) oder der erzkonservativen Politiker und Beamten der Adenauer-Ära gilt Bohrs ganz besonderes Interesse, sondern der erfolgreichen Beeinflussung jener Politiker und Spitzenbeamten, die doch eigentlich mehr Demokratie hatten wagen wollen.
Die Deutung von Norbert Frei aufgreifend stellt Bohr fest, dass auch die Kabinette Brandt und Schmidt wie alle Bundesregierungen vor ihnen der von der „Lobby“ forcierten Strategie einer absichtlichen Verquickung der Kriegsverbrecherfrage mit dem Kriegsgefangenenproblem verfielen. Diese „Verunklarung […] beförderte die Relativierung der schweren und grausamen Verbrechen, für die die NS-Täter rechtskräftig verurteilt worden waren“ (S. 92–93, ähnlich S. 298–299). Entsprechend hätten „sich die Sozialdemokraten in vielen vergangenheitspolitischen Themenfeldern […] kaum von der konservativen politischen Konkurrenz“ (S. 373) unterschieden. Weil der Kontext des Handelns sich in den 1960er- und besonders in den 1970er-Jahren grundlegend von jenem ab 1949 unterschied, hinkt der Vergleich zwar. Er erscheint jedoch angesichts von Bohrs ausführlicher Rekonstruktion einigermaßen vertretbar. Dass aber an anderer Stelle Brandt vorgeworfen wird, in Sachen konservativer Vergangenheitspolitik „alle seine Vorgänger und Nachfolger“ (S. 263) übertroffen zu haben, ist nicht haltbar. Es erschließt sich auch nicht, warum Brandt in seinem Bemühen, für die SPD ebenfalls „Wählerstimmen aus dem rechten Milieu“ (S. 21) zu gewinnen und die Integration ehemaliger Nationalsozialisten in die Bundesrepublik voranzutreiben, im historischen Vergleich besonders verwerflich gehandelt haben soll. Für den in dieser Hinsicht ungleich hemmungsloseren und wirkmächtigeren Konrad Adenauer hat Bohr entsprechend harte Worte nicht übrig.
Gekonnt hat Bohr das vielseitige, verstreute und mehrsprachige Quellenmaterial gesammelt und zu einem umfangreichen Narrativ geordnet. Für eine Qualifikationsarbeit ist allerdings erstaunlich, dass er zu seiner Methodik nur zwei dürre Absätze erübrigt. Es wird dort auch nicht klar, was er meint, wenn er schreibt, er verfolge „keinen netzwerktheoretischen, sondern einen genuin politischen Ansatz“ (S. 25). Die sehr kurzen Ausführungen zu seinem theoretischen Hintergrund versteckt Bohr in den Endnoten (z. B. S. 457, 468, 479). Damit führt die Einleitung nicht richtig in die Arbeit ein, sondern umreißt nur das Thema und nennt einige der Ergebnisse. Der erkennbare Versuch, eine Alternative zu den in der Tat häufig ermüdend gleich aufgebauten Einleitungen geschichtswissenschaftlicher Dissertationen (also: Erkenntnisinteresse, Forschungsstand, Quellen, Theorie, Arbeitsverfahren) zu finden, ist hier nicht geglückt.
Eindrucksvoll gelingt Felix Bohr dagegen der Abschluss seines Buches, wo er auch auf die geschichtsrevisionistischen Positionen der AfD zu sprechen kommt. Überzeugend vertritt er die Auffassung, dass der Parteichef und ehemalige Christdemokrat Alexander Gauland Positionen des rechten CDU-Flügels der alten Bundesrepublik vertrete und damit ein nie verschwundenes, nun aber in den letzten Jahren wieder verstärktes Engagement der Kriegsverbrecherlobbyisten verkörpere. Zur Bekämpfung der „erinnerungskulturelle[n] Orientierungslosigkeit“ (S. 387) hat Bohr – bei aller Kritik im Einzelnen – einen wirkungsvollen und gesellschaftspolitisch wichtigen Beitrag geleistet.
Anmerkungen:
1 Matthias Arning, Rezension zu: Felix Bohr, Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, Berlin 2018, in: Frankfurter Rundschau, 23.10.2018, https://www.fr.de/kultur/literatur/verschwiegene-vergangenheit-10965894.html (05.04.2019); Judith Leister, Rezension zu: Felix Bohr, Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, Berlin 2018, in: Neue Zürcher Zeitung, 05.02.2019, https://www.nzz.ch/feuilleton/felix-bohr-eine-kriegsverbrecherlobby-unterstuetzte-ns-taeter-ld.1456624 (05.04.2019); Knud von Harbou, Rezension zu: Felix Bohr, Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, Berlin 2018, in: Süddeutsche Zeitung, 19.11.2018, https://www.sueddeutsche.de/politik/nazi-verbrecher-bekamen-hilfe-in-adenauer-zeit-1.4157578 (05.04.2019); Klaus Hillenbrand, Rezension zu: Felix Bohr, Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, Berlin 2018, in: taz, 09.10.2018, http://www.taz.de/!5538441/ (05.04.2019); Gerhart Baum, Rezension zu: Felix Bohr, Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, Berlin 2018, in: Die ZEIT, 05.12.2018, https://www.zeit.de/2018/51/die-kriegsverbrecherlobby-felix-bohr-rezension-nachkriegszeit-ns-verbrechen-beihilfe (05.04.2019).
2 Marko Martin, Rezension zu: Felix Bohr, Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, Berlin 2018, in: Deutschlandfunk Kultur, 03.12.2018, https://www.deutschlandfunkkultur.de/felix-bohr-die-kriegsverbrecherlobby-gehaetschelte.950.de.html?dram:article_id=434821 (05.04.2019); Roman Herzog, Rezension zu: Felix Bohr, Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, Berlin 2018, in: SWR2, 09.01.2019, https://swrmediathek.de/player.htm?show=b2d47d90-1420-11e9-9a07-005056a12b4c (05.04.2019).
3 Harald Biermann, Schwärende Wunde. Der Einsatz deutscher Politiker für im Ausland inhaftierte Kriegsverbrecher, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.02.2019.
4 Joachim Staron, Fosse Ardeatine und Marzabotto. Deutsche Kriegsverbrechen und Resistenza. Geschichte und nationale Mythenbildung in Deutschland und Italien (1944-1999), München 2002; Harald Fühner, Nachspiel. Die niederländische Politik und die Verfolgung von Kollaborateuren und NS-Verbrechern, 1945-1989, München 2005.
5 Karsten Wilke, Die "Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit" (HIAG) 1950-1990. Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepublik, Paderborn 2011; Oliver Schröm, Stille Hilfe für braune Kameraden. Das geheime Netzwerk der Alt- und Neonazis, Berlin 2001; Birgit Schwelling, Heimkehr, Erinnerung, Integration. Der Verband der Heimkehrer, die ehemaligen Kriegsgefangenen und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, Paderborn 2010.
6 Willi Winkler, Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde, Berlin 2019.