Wo auch immer Sie diesen Sommer in Urlaub waren, vermutlich haben auch Sie Kirchen und Museen besichtigt, sind auf Türme und Burgen gestiegen, haben an Stadtführungen teilgenommen, sind durch Freilichtmuseen spaziert und haben vielleicht sogar ein Reenactment besucht. Wenn Sie mindestens einer dieser Tätigkeiten nachgegangen sind, dann waren Sie in „Retroland“. So nennt der Luzerner Mediävist Valentin Groebner in seinem neuen Buch den Geschichtstourismus, und dieser dürfte – abgesehen vielleicht von reinen Natur- oder Strandaufenthalten – Teil so ziemlich jeder Urlaubsreise sein. In dasselbe Land führt die amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin Christina M. Ceisel die Leserinnen und Leser mit ihrem Buch „Globalized Nostalgia“. Ceisel und Groebner teilen den ethnographischen Zugang und die eher unkonventionelle Darstellungsweise in der ersten Person. Statt akademischer Monographien haben wir es im einen Fall mit „einer Art Reisebericht“ zu tun (S. 13), im anderen mit einer „autoethnography“ (S. 10). Allerdings funktioniert dies bei Groebner wesentlich besser als bei Ceisel.
Der Titel „Retroland“ lässt vielleicht vermuten, Groebner rechne damit ab, wie der Geschichtstourismus die Vergangenheit ausbeutet und verzerrt. Das wäre nicht weiter überraschend, denn wie er selbst anmerkt: Den „meisten Historikern ist diese touristische Nutzung der Vergangenheit eher unangenehm oder gar peinlich, weil sie ihnen die begrenzten Möglichkeiten ernsthafter Wissenschaft vor Augen führt“ (S. 11). Anders jedoch als Simon Reynolds’ Buch „Retromania“, das Groebner en passant erwähnt, und Zygmunt Baumans Essay „Retrotopia“, mit dem es in der Presse in Verbindung gesetzt wurde, ist „Retroland“ erfreulicherweise kein kulturpessimistisches Manifest.1 Groebner kennt natürlich die kulturkritischen Analysen des Tourismus, aber: „originell ist das nicht“ (S. 32). Nein, Groebner ist sich nicht zu fein für die Niederungen seines Gegenstandes, er möchte das „Banale am Tourismus nicht abtun, sondern anschauen“ (S. 14). Diesem Anspruch wird er gerecht. Er macht keinen Hehl daraus, dass er auch selbst gelegentlich Tourist ist und als solcher Geschichte konsumiert, sich dem Histourismus also nicht nur im Interesse der Wissenschaft und seiner Leser/innen ausliefert. Seine Fragen stammen nicht aus Büchern, sondern aus der eigenen Anschauung.
Doch um welche Fragen geht es? Um die zentralen des Geschichtstourismus: Warum suchen wir auf Reisen so gern Orte mit Vergangenheit auf, und was genau suchen wir dort? Groebner nähert sich diesem Thema auf unterhaltsame Weise, indem er immer wieder eigene Erlebnisse einfließen lässt: von Reisen durch die Schweiz, nach Italien, Spanien, Griechenland, Sri Lanka. Mehr noch als mit Orten beschäftigt sich Groebner mit der Zeit, insbesondere jener Zeit, die sich an touristischen Orten konkretisiert. Er sieht den Tourismus als „Zeitwiederbeschaffungsmaschine“ (S. 16) und ordnet sein Buch ganz klassisch chronologisch. Auf eine konzeptionelle Einleitung folgen vier Kapitel, von denen das erste in Mittelalter und Frühe Neuzeit zurückführt, als die Pilger heutigen Touristen in manchen Dingen gar nicht so unähnlich waren. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem 19. Jahrhundert, in dem der moderne Tourismus und seine Infrastruktur – Eisenbahn und Reiseführer, Postkarte und Grand Hotel – erfunden wurden. Das dritte Kapitel deutet das 20. Jahrhundert als Zeitalter der „Postproduktion von Geschichte“ (S. 12), während das letzte Kapitel der für Geschichte ebenso wie für den Tourismus zentralen Kategorie der Authentizität nachgeht.
Es versteht sich, dass ein derart weitgespanntes Panorama zu Unschärfen im Detail führen muss. Die longue durée ermöglicht es, langfristige Entwicklungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Blick zu bekommen, doch wer sich vor allem für Geschichtskultur und -tourismus im Heute interessiert, müsste das 20. und 21. Jahrhundert stärker akzentuieren. Was Groebner auf die Zeit um 2000 datiert, hat sich bereits seit den 1960er- und 1970er-Jahren ausgeprägt, als der Massentourismus im heutigen Sinne entstand und parallel dazu neue Formen von Aneignung und Kommerzialisierung des Historischen aufkamen.2
Zudem ist die Kernfrage – gemessen an der Vielfalt der Phänomene und Praktiken und der Masse derjenigen, die an ihnen teilnehmen – zu groß, als dass sie letztlich beantwortet werden könnte. Warum lockt uns die Vergangenheit so? Weil sie „die einzige Zone [ist], in der wir uns halbwegs ausgekannt haben, und deswegen wollen so viele Leute wieder dorthin zurück“, wie Groebner schreibt (S. 126)? Gewiss, die Vergangenheit kann vertraut wirken, weil wir, anders als bei der ständig im Fluss befindlichen Gegenwart, wissen, „wie es ausging“. Aber ist sie nicht ebenso oft, wie in im vielzitierten Bonmot des britischen Schriftstellers L.P. Hartley (aus dem Roman „The Go-Between“, 1953), ein fremdes Land, dessen Sprache wir nicht beherrschen, dessen Gepflogenheiten und Rituale uns oft erstaunen und manchmal abstoßen? Der kanadische Schriftsteller Douglas Coupland bezeichnete den Geschichtstourismus als „historical slumming“. Ihm zufolge besuchen wir historische Orte vor allem, um „die anschließende Erleichterung“ zu genießen, „in ‚die Gegenwart‘ zurückkehren zu können“.3 Derartige Kritik verfängt allerdings nur bedingt, da Groebners Buch nicht auf ein akademisches, sondern auf ein breites Publikum abzielt. Und so ist es schade, dass es nicht schon früher erschienen ist als Mitte August. Kurzweilig geschrieben, taugt es zur Urlaubslektüre. Wer es reisend liest, kann Groebners Beobachtungen und Befunde direkt mit der eigenen Praxis verknüpfen und vergleichen.
Obwohl Groebner immer wieder Gefühle und deren Bedeutung für den Geschichtstourismus hervorhebt, erwähnt er die Nostalgie, die die Zeitdiagnostik à la Reynolds und Bauman gerade wieder einmal umtreibt, nur ein einziges Mal. Bei Christina Ceisel dagegen taucht sie bereits im Titel auf. Allerdings ist auch nach der Lektüre ihres Buches schwer zu sagen, was damit eigentlich gemeint ist, wer wonach nostalgisch ist und warum. Die Autorin scheint unter Nostalgie jedenfalls weniger die Sehnsucht nach der Vergangenheit zu verstehen als das Verlangen nach und die Vermarktung von Authentizität – im vorliegenden Fall von „authentischen“ galizischen Speisen, Wein und Kultur.
Auch Ceisel erkundet das Phänomen des Tourismus also anhand von konkreten Destinationen, vier in ihrem Fall, die alle im Umkreis von Santiago de Compostela liegen, woher ihre Familie stammt und wo sie ein Jahr als Austauschstudentin verbrachte. Dieser Ansatz ist ebenso legitim wie derjenige Groebners – da die globale Tourismusindustrie überall ähnliche Mechanismen anwendet, muss sie nicht unbedingt global untersucht werden. Ob die Kathedrale von Santiago oder die Kapellbrücke von Luzern: Hauptsache, es gibt sie als Kühlschrankmagnet und Schneekugel.
Zunächst wirkt es auch durchaus charmant, dass Ceisel keine konventionelle Dissertation vorgelegt hat, sondern in der Darstellung experimentiert. Schon beim Durchblättern sieht man, dass das Buch weniger aus Kapiteln als aus Passagen besteht: Reiseführer-Auszüge, Flyer touristischer Attraktionen, Protokolle von Führungen, Beschreibungen von Besuchen in Museen und auf Festivals, persönliche Eindrücke, sogar erfundene Dialoge. Beim Lesen führt dies jedoch zu wachsender Frustration, da diese Schnipsel mehr präsentiert als analysiert werden, sodass das Buch nicht wie eine Monographie, sondern wie ein ins Reine geschriebenes Feldtagebuch wirkt.
Schwingt sich die Darstellung doch einmal zur kommentierenden Analyse auf, kippt diese schnell in Jargon oder Klischees (Beispiel: „libraries are sites where knowledge is collected and collated“, S. 18). Wenn Groebner schreibt, dass das, was „im Namen der Identität aufgerufen wird [...], trotz anderslautender Bekundungen […] nicht der Stolz auf die eigene Herkunft, sondern die Angst vor Verlust“ sei, ist das originell, weil es einen Gemeinplatz in Frage stellt. Nichtssagend ist es hingegen, wenn Ceisel schreibt, „the cultural construction of identity is manifested through experience“ (S. 71). Wo Ceisel Konzepte wie „Identität“ und „Authentizität“ als selbstverständlich hinnimmt und damit essentialisiert, hinterfragt Groebner sie. Und während Groebner seine eigenen touristischen Erfahrungen einbringt, um etwas über den Tourismus herauszufinden, hat man bei Ceisel den Eindruck, dass sie ihr Thema benutzt, um über sich selbst zu sprechen. Und so hilft das Buch nicht dabei, die Nostalgie oder den Tourismus wirklich besser zu verstehen.
Wer von hier aus weitergehen will, muss vielleicht das Phänomen des Geschichtstourismus noch einmal genauer im Lichte seiner beiden Teile betrachten: dem der Geschichte und dem des Tourismus. Denn natürlich ist das Retroland größer als der Tourismus – man muss nicht in den Flieger steigen, um in die Vergangenheit zu reisen; es reicht schon, den Fernseher anzuschalten oder im eigenen Lebensumfeld den (unterschiedlich aufbereiteten) Spuren des Historischen nachzugehen. Umgekehrt zieht keines der beiden Bücher in Erwägung, dass die vielen vorgeblichen Geschichtstouristen möglicherweise gar nicht nach Geschichte suchen. Manche, die nicht ohne Arbeit sein können, machen aus dem Urlaub eine kulturelle Arbeit. Andere besuchen Museen, weil es regnet, weil sie die Zeit vor dem Abendessen überbrücken müssen oder weil es dort Angebote für Kinder gibt. Wieder andere folgen vielleicht nur den Anweisungen im Reiseführer, der ihnen nahelegt, welche Sehenswürdigkeiten sie abzuklappern haben. Was auf den ersten Blick also banal erscheinen mag, ist ebenso komplex wie schwer zu erklären – das zeigen beide Bücher. Umso wichtiger sind wissenschaftliche Expeditionen ins Retroland. Wer nach einem Reiseführer zum Einstieg sucht, wird bei Valentin Groebner fündig.
Anmerkungen:
1 Simon Reynolds, Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past, London 2011; Zygmunt Bauman, Retrotopia, Cambridge 2017, dt.: Retrotopia. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik, Berlin 2017; Nils Markwardt, Sehnsucht nach Retrotopia: Nostalgie, in: ZEIT, 30.08.2018, https://www.zeit.de/kultur/2018-08/nostalgie-vergangenheit-politisierung-trend/komplettansicht (23.09.2018).
2 Małgorzata J. Rymsza-Pawlowska, History Comes Alive. Public History and Popular Culture in the 1970s, Chapel Hill 2017; Tobias Becker, Rückkehr der Geschichte? Die „Nostalgie-Welle“ in den 1970er und 1980er Jahren, in: Fernando Esposito (Hrsg.), Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen 2017, S. 93-117, https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2009-3/Becker_2017.pdf (23.09.2018).
3 Douglas Coupland, Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur. Roman. Aus dem Englischen von Harald Riemann, Berlin 1994, S. 21.