Vor 50 Jahren hat Marshall McLuhan das Ende der Moderne ausgerufen. Seitdem haben sich die kulturellen Möglichkeiten enorm vervielfacht. Heute führt diese Veränderung nach Ansicht von Felix Stalder zu einer Kultur des Digitalen. Der Professor an der Zürcher Hochschule der Künste hat einen spannenden Essay über das Internet, seine Infrastruktur, seine Userinnen und User, die Post-Demokratie sowie ‚Commons‘ geschrieben. Es lohnt sich, diesen Essay auch in den Geisteswissenschaften, respektive den Digital Humanities, zu rezipieren.
Der Ausgangspunkt für Stalders Überlegungen ist das Internet als ein Medium mit spezifischen Formen des Austauschs. Drei dieser Formen sind besonders charakteristisch für die Kultur des Digitalen: (1) Referentialität – öffentlich zugängliches Material wird für die Produktion von Kulturgütern verwendet; (2) Gemeinschaftlichkeit – Ressourcen werden allgemein zugänglich gemacht und Bedeutungen werden durch einen kollektiven Rahmen stabilisiert; sowie schließlich (3) das Prinzip der Algorithmen – Entscheidungsfindungen werden automatisiert und die Informationsüberlastung so reduziert.
Ziel von Stalders Essay ist es, zwei politische Tendenzen in der digitalen Kultur zu identifizieren und zu beschreiben: Post-Demokratie und ‚Commons‘. Sein Weg dahin ist für eine Analyse der Digitalisierung spannend. Digitalität bezeichnet eine hybride Vernetzung von analoger und digitaler Realität respektive Materialität (Manuel Castell), verweist auf die Bedingungen, unter denen die Menschen in einer digitalen Kultur leben. Der Titel der englischen Version von Stalders Essay lautet denn auch ‚The Digital Condition’. Digitalität weist auf historisch neue Möglichkeiten der Verknüpfung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren hin. Besonders interessant ist Stalders Analyse von Netzwerken als einem Aktionsraum. Sie ermöglichen die Kommunikation größerer Gruppen. Der Zwang, eine hierarchische Struktur einzuführen, wird obsolet. Die neuen Organisationsformen sind jedoch nur auf der Grundlage von Technologien möglich, die Teil der Infrastruktur des Internets sind. Digitale Technologien und soziales Handeln sind untrennbar miteinander verbunden. Die ‚Kultur der Digitalität’ wird also dominant.
Es erinnert an Clifford Geertz' ‚Deep Play’, wenn Stalder betont, dass Bedeutung von Menschen geschaffen wird, die an Beziehungen arbeiten. Dabei beziehen sie sich normalerweise auf bestehende Artefakte (Quellen). Dies schuf immer schon ein System von Referenzen und eine neue Form der Authentizität. Das wirklich neue in der digitalen Kultur sei nun aber das stetig wachsende Volumen der verarbeiteten Materialien. Kulturelle Werke werden mehr oder weniger – vgl. die laufenden Debatten um die Urheber- und Nutzungsrechte im Internet – frei verfügbar. All dies bringe eine kulturelle ‚Unordnung' mit sich. Archive, Bibliotheken und Museen schaffen es gemäß Stalder nicht mehr, die Informationsflut zu kanalisieren und umfassend zu organisieren. Europeana zum Beispiel sei eine „normale“ Datenbank, in der „alles gleich“ ist. Die einzelnen Objekte seien von ihren systemischen Referenzen gelöst. Hier überschätzt Stalder wohl die Absicht solcher 'Metadatenbanken'. Ein genauer Blick zeigt, dass sie als eine Art 'Hub' fungieren und, wie zum Beispiel das ‚Archivportal Europa‘, das Aufspüren und den Zugang zu Objekten ermöglichen, die dann auf den ‚Home-Sites‘ der einzelnen Archive näher beschrieben werden.
Nun, Stalder beschreibt die Situation als „verwirrend“, weshalb sich die Benutzerinnen und Benutzer die Referenzen selbst machen würden. Was sie mögen oder ‚retweeten‘, werde aufgewertet und erhalte somit eine Bedeutung. Aufgrund der Verbindungen, die zwischen ihnen gemacht werden, erregen die Dinge Aufmerksamkeit. In den letzten Jahren habe sich eine echte Kultur des ‚Remix‘ herauskristallisiert: Aktuell ist das, was recycelbar ist (Eran Schaerf). Damit entstehe aber auch eine neue Form der Vergemeinschaftung.
Gemeinschaften bilden einen sozialen Austauschraum, der eine Voraussetzung für die Produktion und die Vermittlung von Wissen ist (Jean Lave & Etienne Wenger). ‚Digitale Communities‘ entstehen in Bereichen, die sich durch einen eher informellen, aber dennoch strukturierten Austausch auszeichnen. Darin besteht ein Drang nach ständiger Kommunikation, beobachtet Stalder. Individuelle Authentizität existiere nur im Moment. Das wichtigste Motiv für Partizipation sei der Zugang zu Ressourcen. Etwas überraschend, aber nachvollziehbar, stellt Stalder fest: Im Grunde ist die Bildung der Gemeinschaft das eigentliche Thema der Kultur des Digitalen. Und dies erinnert wiederum an Charles Leadbeater, der Grundlagen für die ‚We-think'-Bewegung erarbeitet hat.1
Referentielle Verfahren verbreiten sich in Bereichen, in denen etablierte Prozesse zur Produktion gesellschaftlicher Bedeutung erodieren. Ein wichtiger Mechanismus für die dezentrale Kulturproduktion seien Algorithmen, die große Datenmengen sortieren. Eine Unterscheidung zwischen sozialen Prozessen in einer technischen Infrastruktur und technischen Prozessen, die sozial strukturiert sind, könne nicht mehr aufrechterhalten werden, argumentiert Stalder entlang von Überlegungen von Bruno Latour und seinem Konzept der ‚Aktanten’.
Ein Algorithmus ist eine Anleitung zur Verwendung einer Anzahl von Schritten zum Umwandeln eines ‚Input‘ in einen bestimmten ‚Output’. Algorithmen ermöglichen es, bisher für den Menschen reservierte Kulturtechniken zu automatisieren. Beispiele sind das Schreiben von Texten oder die Inhaltsanalyse von Bildern. Dynamische Algorithmen sind nun in der Lage, Programme durch Feedback halbautomatisch eigenständig (weiter) zu entwickeln.
Stalder beschreibt die von Algorithmen erzeugten Ordnungen als wichtigen Teil der Kultur des Digitalen. Am bekannten Beispiel der ‚PageRank‘ von Google zeigt er, dass der Wechsel von der Analyse der Daten (Inhalt) zur Analyse der Metadaten (Beziehungen) Voraussetzung für die Nutzung großer Informationsmengen ist. Information bilde keine äußere Realität mehr ab; sie bilde eine eigene, selbstreferentielle, geschlossene Welt – die Infosphäre. Für jede Benutzerin und jeden Benutzer werde eine separate, eigene Ordnung erstellt. Ein Beobachter weiß mehr über einen Akteur als dieser über sich selbst. Hier beschreibt Stalder einen sehr wichtigen Punkt in der Weiterentwicklung der Kultur des Digitalen.
Er analysiert schließlich zwei politische Entwicklungen: Post-Demokratie und ‚Commons‘. Die Post-Demokratie beschreibt eine Verschiebung der Legitimität öffentlichen Handelns. Heute steht die Qualität der für die Bürgerinnen und Bürger produzierten Dienstleistungen im Vordergrund (Output-Legitimation). Demokratie wird zu Governance. Stalder beschreibt diese Entwicklung als postdemokratisch, die zwar Partizipationsmöglichkeiten schafft, aber gleichzeitig die Entscheidungskapazitäten auf einer Ebene stärkt, in der Mitbestimmung ausgeschlossen ist. Es gebe eine Trennung zwischen sozialer Teilhabe und institutioneller Machtausübung. Ein Beispiel: Viele Plattformen basieren auf geschlossenen Standards, die verhindern, dass Benutzerinnen und Benutzer über die von den Anbietern definierten Grenzen hinaus kommunizieren. Benutzerinnen und Benutzer haben keine Kontrolle über die Bedingungen, unter denen sie arbeiten. Kommerzielle soziale Netzwerke konsolidieren eine Machtlücke zwischen der Nutzung an der Oberfläche und der dahinterliegenden Infrastruktur.
Dies bezeichnet Felix Stalder als die dunkle Seite der Kybernetik: Sie schreibe dem Einzelnen nicht vor, was er tun soll, sondern verändere einfach die Umgebung, in der er sich bewegt. Die Kybernetik begreift den Menschen als Organismus, der auf Reize reagiert. Wichtig ist allein sein Verhalten. Nur die Institutionen, die die Infrastruktur bereitstellen, können die Umgebung manipulieren, in der sich die Benutzerinnen und Benutzer bewegen. Sie maximieren ihre Gewinne und die Netzwerke werden zu Monopolen.
Diese Prozesse führen gemäss Stalder zu einer Black-Box-Gesellschaft, wie Frank Pasquale sie beschrieben hat. Eine solche Gesellschaft wird von Infrastruktur und Daten gesteuert. In dieser Post-Demokratie wird die Politik abgeschafft und durch die Verwaltung ersetzt, sagt Stalder eher pessimistisch. Aber es gibt ein Gegenmittel, betont er: ‚Commons‘. Wiki & Co. könnten ein horizontales Vertrauen schaffen, das in einer Netzwerkgesellschaft von größter Bedeutung ist und zu einer Erneuerung der Demokratie beitragen könnte.
Wer sich für die Entwicklung einer digitalen Kultur interessiert, kommt nicht umhin, das spannende Buch von Felix Stalder zu lesen. Auch die Exponenten und Exponentinnen der Digital Humanities täten gut daran, Stalders Thesen und Fragen zu debattieren. Die Argumentation ist mitunter zwar etwas allgemein, aber dennoch relevant. Insbesondere im letzten Drittel des Buches zur Post-Demokratie und den ‚Commons‘ lässt die Bedeutung der Thesen den Umfang und die Tiefe der verwendeten Argumente hinter sich. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, wie die Verwendung von genossenschaftlichen Konzepten aus der Vormoderne sich tatsächlich für die Beschreibung und Analyse von hypermodernen Phänomenen wie das Crowdsourcing nutzbringend einsetzen lassen. So gesehen hat Stalder sein Ziel, zwei neue politische respektive gesellschaftliche Tendenzen in der digitalen Kultur zu identifizieren und zu beschreiben, nicht vollumfänglich erreicht. Sein Weg dahin ist aber enorm spannend. Der Essay hilft uns, in den Geisteswissenschaften eine Theorie zu entwickeln, um mit der 'Totalität' der Digitalität zu Rande zu kommen.
Anmerkung:
1 Charles Leadbeater, We-think: Mass innovation, not mass production, London 2008.