Titel
Neapels Unterwelt. Über die Möglichkeit einer Stadt


Autor(en)
van Loyen, Ulrich
Erschienen
Berlin 2018: Matthes & Seitz
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carolin Kosuch, Georg-August-Universität Göttingen

Ulrich van Loyens Ethnografie der „Unterwelt“ Neapels komplementiert eine ganze Reihe von historischen und soziologischen Studien, die sich mit (süd)italienischer Kultur in ihren sozialen, ethnologischen und religiösen Dimensionen befassen. Seine Arbeit legt den Fokus auf neapolitanische Totenkulte, ihre Ursprünge, besonders aber ihre rezenten Ausprägungen und ergänzt damit im Sinne der longue durée Publikationen jüngeren Datums zur Geschichte des Todes in Italien, etwa jene Diego Carnevales, Hannah Malones oder Moritz Buchners.1 Ihrem zentralen Sujet – der religiösen Kultur und dem religiösen Wandel in einer (post)modernen Großstadt – folgend rührt die Studie ferner auch an Säkularisierungsfragen.2 Über die Themenstellung rückt das Buch schließlich in den Fragehorizont des Süddiskurses, wobei es eher nachgeordnet eine Historisierung von Zuschreibungen und die kritische Auseinandersetzung mit Alteritätsphänomenen intendiert.3 Das zentrale Moment der Arbeit ist vielmehr die Liminalität im Sinne Turners – der Schwellenzustand von Personen jenseits der etablierten Ordnung (bei van Loyen unter anderem „Priester“, „gefährliche Frauen“, „Transsexuelle“, „Krüppel“, S. 359). Auch vielfältige biologisch, sozial, respektive religiös determinierte Grenzen und ihre rituelle Überschreitung fallen hierunter. Ein solcher Ansatz erscheint ungewöhnlich und vielversprechend. Den individuellen und gesellschaftlichen Facetten dieser Liminalität wendet sich der Autor am Beispiel Neapels in einer wissenschaftlich rückgebundenen, aber durchaus subjektiven Aneignung zu. Dabei folgt er den Aufzeichnungen seines Feldtagebuches.

Die ersten der fünf Hauptkapitel führen ein in die Welt der Krypten und Ossuarien, der Prozessionen und Devotion, der Träume, Ahnungen und Eingebungen. Ferner stellen sie den selbst liminalen, identitätsstiftenden Schädelkult als Ausweis der von der Amtskirche geduldeten – weniger geschätzten – katholischen Volksfrömmigkeit in den Mittelpunkt, wie sie sich van Loyen während seiner Recherchen in den neapolitanischen Stadtvierteln Sanità, Secondigliano und dem Stadtzentrum (Basilica di San Pietro ad Aram) präsentierte. In ihrem Verlauf verlässt die Darstellung die Stätten der unterirdischen Totenkulte indes mehr und mehr und stößt am Beispiel des von verschiedenen Vereinen gepflegten Kultes der Madonna dell’Arco (Sant’Anastasìa) zur Stadtoberfläche mit ihrer Öffentlichkeit vor. Der Schlussteil nimmt Gesamtitalien in den Blick, ohne, dass damit Neapels Sonderstellung als „zivilisatorisch deviant“ (S. 301) wesentlich relativiert würde. Dem Buch sind ein Endnotenapparat, eine Bibliografie und zahlreiche Fotografien beigegeben, ein Register fehlt.

Das Narrativ generiert sich aus einem dichten Gewebe aus Metaphern, Bildern, Filmen, Texten sowie ethnologischen und religionswissenschaftlichen Theorien. Besonders aber schöpft es aus persönlichen Kontakten zu einzelnen, mit der Fürsorge für die anonymen Toten befassten Neapolitanerinnen und Neapolitanern und ihrer Affiziertheit von Politik, Katholizismus und Stadtgeschehen. Durchzogen wird es von zwei Konstanten – Gender- und Klassenfragen – in deren Deutungspotenzialen sich der Totenkult auflöst. Es sind diese beiden Momente, in denen Kapitalismus und Devotion, Stadt und Provinz, Priester und Laien sowie Globales und Lokales eine untrennbare Verbindung der Gegensätze eingehen. Zu Letzteren zählen die Arbeits- und Perspektivlosigkeit einer nicht selten gebildeten und polyglotten Jugend, die sich im Versuch, Erwerb zu generieren und ihre Viertel touristisch aufzuwerten, für die Vereine, Bräuche und Kultur der neapolitanischen „Unterwelt“ engagiert; weiter die mafiösen Strukturen, die zum Teil mit den Kulten verflochten sind und die mit dem in Neapel gleichfalls präsenten bürgerlichen „Empowerment“ gegen Mafia und Regierungspolitik konfligieren; zudem auch der Emigrationsdruck, dem lokale Familiennetzwerke der unteren Mittelschicht als einzig belastbare wirtschaftliche Absicherung und Horte des volkskatholischen Brauchtums entgegenzustehen scheinen. Ambivalent besetzt ist außerdem die Rolle der Priester, die nicht selten zugleich Quartiers-, Kultur- und Sozialmanager und Träger von religiösem Charisma sind, und schließlich der Exorzismus, der – näher betrachtet – eigentlich einer manifesten Sehnsucht nach politischer Revolution Ausdruck verleiht.

In dieser Stadtszenerie der Mehrdeutigkeiten sind es vielfach Frauen, die sich der Schädel annehmen, sie „adoptieren“, pflegen und mit ihnen in Beziehung treten. Der Kult ermöglicht es ihnen, ihre kulturell und religiös zugewiesene Macht- und Sprachlosigkeit zu überwinden, er erlaubt ihnen, das Stigma einer fehlenden Mutterschaft zu kompensieren und stiftet Sinn und Aufgabe für Alleinstehende, Ältere und Witwen in einer katholisch geprägten Welt. Ihr karitatives Tun verheißt ihnen soziale Anerkennung. Über seine – Subjektivität und Ergriffenheit zulassende – ethnografische Methode der „Feldforschung als sinnliches Interagieren mit Menschen (und Dingen)“ (S. 366) gelingt es dem Autor, in dieses von außen schwer zu durchdringende Netz aus Beziehungen, Traditionen und Abhängigkeiten vorzustoßen und es zum Sprechen zu bringen.

Dennoch stößt die Methodik auch an ihre Grenzen. Wenn es eine Strategie ist, das Liminale der Stadt und ihrer Bewohner in einen an einen bildreichen und persönlich gehaltenen Gedankenstrom erinnernden Text zu übersetzen, dann bietet diese Form des Schreibens einerseits viel Platz für Esprit. Die nicht immer griffige Systematik und die stellenweise ausbleibende, abgrenzende Reflexion scheinen andererseits einer gewissen Oberflächlichkeit Vorschub zu leisten. So wird Forschungsliteratur zwar angeführt und für Erklärungen herangezogene Theorien werden umrissen, indes nicht immer ausbuchstabiert (etwa S. 210), was die Auswahl gelegentlich beliebig erscheinen lässt. Wiederholt wird es den Lesenden überlassen, Synthesen zu bilden. Obzwar Begegnungen und Wahrnehmungen plastisch geschildert und breit gedeutet werden, wäre zudem doch an einigen Stellen eine stärkere Distanzierung von den unmittelbaren Eindrücken wünschenswert gewesen. Bei der Attribuierung der im Rahmen der Feldforschung begleiteten Frauen (S. 80, 85, 91, 94) und dem Verweis auf die „süditalienische Frömmigkeit“ als durch ihre „kanonische Übersetzung von magischen Praktiken in Fürsorge“ (S. 84) gekennzeichnet etwa greift die Schilderung auf ein Reservoir stereotyper Blicke und Urteile zurück, die es besser aufzubrechen, deren Unabdingbarkeit für den Text es im Einzelfall kritisch zu reflektieren, oder die es durch Vergleich zu relativieren gilt, statt sie auf eine bestimmte Region oder bestimmte Individuen festzuschreiben. Auch im Rückbezug auf politische Haltungen und die aktuelle politische Situation wäre mehr Sorgfalt und erklärende Abwägung möglich gewesen (vgl. etwa S. 204, 369).

Dessen ungeachtet überwiegt der positive Eindruck. Die Arbeit ist voller scharfsichtiger Beobachtungen, luzider Erklärungen und kluger Schlüsse, und sie ist auch sprachlich ein Lesevergnügen. Dem vorgebildeten Publikum wird sie fraglos einen bereichernden Zugang zu Fragen der Italianistik, Kulturwissenschaft, Ethnologie, Stadtsoziologie und Religionswissenschaft bieten.

Anmerkungen
1 Diego Carnevale, L’affare dei morti. Mercato funerario, politica e gestione della sepoltura a Napoli (secoli XVII−XIX), Rom 2014; Moritz Buchner, Warum weinen? Eine Geschichte des Trauerns im liberalen Italien (1850–1915), Berlin 2018; Hannah Malone, Nationhood and the Architecture of Death. Monumental Cemetries of Nineteenth Century Italy, London 2018.
2 Vgl. etwa Martin Papenheim, Roma o morte. Culture Wars in Italy, in: Christopher Clark / Wolfram Kaiser (Hrsg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth Century Europe, Cambridge 2009, S. 202–226. Siehe ferner Roberto Cipriani / Maria Mansi, Sud e religione. Dal magico al politico, Rom 1990.
3 So bei Nelson Moe, Un paradiso abitato da diavoli. Identità nazionale e immagini del Mezzogiorno, Neapel 2004.

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