Edith Sheffer, Historikerin am Institute of European Studies, University of California, Berkeley, und Mutter eines Kindes mit Autismus-Diagnose, legt eine bemerkenswerte Studie über den Wiener Professor für Kinderheilkunde Hans Asperger vor. Das von diesem erforschte bzw. nach diesem benannte „Asperger-Syndrom“ begründete seine internationale Reputation und ist bis heute als Diagnose in Verwendung. Edith Sheffer geht es insbesondere darum, Aspergers Konzeption des Autismus als Erbe der „Nazi-Psychiatrie“ darzustellen. Ins Zentrum von Aspergers Denken rückt sie den Begriff des „Gemüts“ (S. 246ff.), der dazu gedient hätte, den „autistischen Psychopathen“ die Fähigkeit zur Einordnung in die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ abzusprechen. Diese These ist insgesamt wenig überzeugend; weder spielt das „Gemüt“ in den Schriften Aspergers die von Sheffer postulierte Rolle, noch stellt der Begriff eine zentrale Kategorie der „NS-Psychiatrie“ dar, die bei den Krankenmorden in erster Linie auf Selektionskriterien wie „minderwertig“ oder „bildungsfähig“ sowie (ökonomische und gesellschaftliche) „Brauchbarkeit“ und „Pflegeaufwendigkeit“ setzte.
Edith Sheffer hat die wissenschaftliche Literatur zum Komplex NS-Euthanasie, „Kindereuthanasie“ und „Heilpädagogik“, insbesondere für Wien, rezipiert und stützt sich in vielen wesentlichen Punkten auf vorangegangene Arbeiten des Wiener Medizinhistorikers Herwig Czech, der seit 2011 über Aspergers Rolle in der NS-Zeit publiziert hat.1 Nicht zu übersehen ist, dass Sheffer zahlreiche Archivquellen nur aus der Sekundärliteratur übernommen hat, wodurch sich Fehler ergaben. So erfolgten – laut Krankengeschichte – Aspergers Gutachten und die Überweisung von Elisabeth Landauf in das St. Josefsheim schon im Jänner 1940, ein halbes Jahr vor der Gründung der Kindereuthanasieanstalt Am Spiegelgrund, sodass die dreieinhalb Jahre später erfolgte Ermordung der Patientin in diesem Fall nicht Asperger angelastet werden kann. Insbesondere die wichtigen Bestände des Universitätsarchivs Wien und des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) wurden nicht ausgewertet. Unter anderen werden die aufschlussreichen sowjetischen Unterlagen zu Erwin Jekelius, einem Haupttäter der NS-Euthanasie in Wien und Kooperationspartner von Asperger, nur aus fragmentarischen Zitaten in einer Diplomarbeit herangezogen, ohne die im DÖW liegende deutsche Übersetzung einzusehen.
Sheffer beschreibt, wie der katholisch orientierte Hans Asperger, der als einer von wenigen in diesem Milieu nicht der NSDAP beitrat, sich von einem Mitarbeiter der ursprünglich progressiv und pluralistisch orientierten Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik unter dem Einfluss seines nazistisch gesinnten Chefs Franz Hamburger und nach einem „Lehraufenthalt“ bei Paul Schröder, einem führenden deutschen Kinderpsychiater in Leipzig, Schritt für Schritt NS-Positionen in der Kinderpsychiatrie annäherte. Nach der Nazifizierung Österreichs ab 1938 war Asperger – durchaus erfolgreich – bemüht, seine Karriere durch eine weitgehende Anpassung an die auf „Ausmerzung“ der „Minderwertigen“ und „Gemeinschaftsunfähigen“ abzielende NS-Gesundheitspolitik fortzusetzen. Er verstrickte sich tief in die NS-Euthanasieverbrechen, indem er als Gutachter psychisch beeinträchtige Kinder negativ beurteilte bzw. solche Kinder in die Tötungsanstalt „Am Spiegelgrund“ überstellte. Sheffer belegt diese mörderische Kooperation zwischen Asperger und Jekelius mit zahlreichen Fallbeispielen von kindlichen und jugendlichen Opfern. Sie zeigt auf, wie sich Aspergers Äußerungen in seinen Publikationen im Einklang mit der Radikalisierung des NS-Regimes verschärften und in seiner 1944 vorgelegten Habilitationsschrift „Die 'Autistischen Psychopathen' im Kindesalter“ ihren wissenschaftlichen Niederschlag fanden. Während einige Haupttäter der „Kindereuthanasie“ wie Jekelius und sein Nachfolger Illing nach 1945 gerichtlich zur Verantwortung gezogen wurden, konnte Hans Asperger seine tiefe NS-Involvierung verschleiern, sich als (katholisch fundierter) Regimegegner darstellen und seine wissenschaftliche Karriere als Professor und Leiter der Universitätskinderklinik in Wien (ab 1962) fortsetzen. Seine Arbeiten bereinigte er von NS-Termini und -Tendenzen und er appellierte nun an „christliche Werte“ (S. 266). Die britische Psychiaterin Lorna Wing machte schließlich 1981 Aspergers Diagnose der „autistischen Psychopathie“ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und setzte das von ihr so benannte „Asperger-Syndrom“ international durch, was sie später bereute.
Sheffers Buch wird durch eine Reihe von kleineren und größeren Ungenauigkeiten, Fehlern und Fehleinschätzung beeinträchtigt, von denen hier nur einige angeführt werden können:
Die „Kindereuthanasie“ war keineswegs, wie Sheffer meint, als „gesetzlicher, permanenter Bestandteil des NS-Gesundheitswesens“ (S. 21) konzipiert; sie beruhte ebenso wie die „Aktion T4“ lediglich auf Hitlers 1939 gegebene „Ermächtigung“ zum „Gnadentod“ an seinen Leibarzt Karl Brandt und NSDAP-Reichsleiter Bouhler, der sowohl Historiker als auch die Nachkriegsjustiz den gesetzlichen Charakter absprachen.
Sheffers Ausführungen zu den wissenschaftlichen Aspekten der „Kindereuthanasie“ sind ebenso wenig eine neue Erkenntnis wie das von ihr als „neue Sichtweise“ konstatierte „Diagnoseregime“ (S. 18). Die Ambivalenz von „Heilen und Vernichten“ und das Erfassen und Kategorisieren der Bevölkerung wurde schon von der frühen Euthanasieforschung in den 1980er-Jahren herausgearbeitet.2 Die Formulierung, dass die „Zunahme der Diagnosen“ zu einer in der Vernichtung der „Lebensunwerten“ mündenden „Radikalisierung“ (S. 20) führte, blendet den Hauptfaktor der Radikalisierung 1939 aus, nämlich die Kriegsvorbereitungen und den Kriegsausbruch sowie die damit einhergehende Intention Hitlers, „durch die Vernichtung dieser so genannten nutzlosen Esser (…) Ärzte, Pfleger, Pflegerinnen und anderes Personal, Krankenbetten und andere Einrichtungen für den Gebrauch der Wehrmacht freizumachen“.3
Der Wiener NS-Stadtrat Max Gundel war zwar ein Hauptakteur bei den NS-Euthanasieaktionen in Wien, für die „Verhaftung und Deportation Tausender Menschen“ und den „Abtransport der Wiener Juden“ (S. 104) war er allerdings nicht zuständig, sondern die Gestapo und die Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Sheffers Behauptung (S. 85), dass ein Fünftel der 1938 Verhafteten Nationalsozialisten gewesen wären, entbehrt jeder faktischen Grundlage. Ebenso unzutreffend ist die Einschätzung, dass die Österreicher (mit 8 Prozent Bevölkerungsanteil) „40 Prozent des Personals der Vernichtungsprogramme stellten“ (S. 240).4
Diese kritischen Anmerkungen sollen den Wert dieser Arbeit in ihrer Gesamtheit nicht in Frage stellen. Edith Sheffer hat in ihrem engagierten, sehr lesbaren und auch für Nichtmediziner verständlichen Werk einen beachtlichen Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Medizin in Wien und zur Infragestellung der Person und des Werkes von Hans Asperger geleistet. Es wird sich zeigen, ob ihr moralisch berechtigtes Anliegen – internationale Eliminierung der Bezeichnung Asperger-Syndrom – sich durchsetzen wird.
Anmerkungen:
1 Herwig Czech, Hans Asperger, National Socialism and “race hygiene” in Nazi-era Vienna, in: Molecular Autism (2018), https://molecularautism.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13229-018-0208-6 (31.10.2018); ders., Zuträger der Vernichtung? Die Wiener Universitäts-Kinderklinik und die NS-Kindereuthanasieanstalt „Am Spiegelgrund“, in: Arnold Pollak (Hrsg.), Festschrift 100 Jahre Wiener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Wien 2011, S. 23–54; ders., Dr. Hans Asperger und die „Kindereuthanasie“ in Wien – mögliche Verbindungen, in: Arnold Pollak (Hrsg.), Auf den Spuren Hans Aspergers. Fokus Asperger-Syndrom: Gestern, Heute, Morgen, Stuttgart 2015, S. 24–29.
2 Vgl. u. a.: Karl-Heinz Roth / Angelika Ebbinghaus / Heidrun Kaupen-Haas (Hrsg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984; Götz Aly / Karl-Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, Berlin 1984; Eberhard Wolf / Walter Wuttke-Groneberg, Volk & Gesundheit – Heilen & Vernichten im Nationalsozialismus, Tübingen 1982.
3 So Viktor Brack von der Kanzlei des Führers, zitiert nach: Ernst Klee (Hrsg.), Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt am Main 1985, S. 85f.
4 Bertrand Perz, Die österreichische Beteiligung an NS-Verbrechen. Anmerkungen zur Debatte, in: Helmut Kramer / Karin Liebhart (Hrsg.), Österreichische Nation - Kultur - Exil und Widerstand. In memoriam Felix Kreissler, Münster 2006, S. 223–234.