In dem 2015 von Frank Bösch herausgegebenen Sammelband „Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000“ ist der Titel Programm: Die Doppeldeutigkeit, zum einen im Sinne von „getrennter“ und zum anderen wiederum in der Form der „gemeinsam erlebten“ Geschichte beider deutscher Staaten und Deutschlands nach der Wiedervereinigung, kommt in jedem der elf Aufsätze zur Geltung. Für die englische Übersetzung, die 2018 bei Berghahn Books erschienen ist, wurde der Titel präzisiert: „A History shared and divided. East and West Germany since the 1970s“. Die mit 608 Seiten deutlich umfangreichere englischsprachige Ausgabe weist neben den End- bzw. Fußnoten zusätzlich nach jedem Aufsatz eine eigenständige Bibliografie sowie einen Index für das gesamte Buch auf.
Frank Böschs gut lesbare und auf den aktuellen Forschungsstand zur deutsch-deutschen Geschichte und ihre Methodenproblematik rekurrierende Einleitung nimmt bereits viele mögliche Kritikpunkte vorweg: So entfallen denkbare Themen wie Kirchen und Populärkultur. Gender-Fragen wurden durch die Herausgeber nicht systematisch berücksichtigt, sondern finden sich in einigen Aufsätzen wieder, so etwa im Text von Frank Bösch und Jens Gieseke zur Frauenemanzipationsbewegung (S. 63–64, p. 68)1 oder bei Winfried Süß zur Frage der Gleichberechtigung (S. 172, p. 206). Bemerkenswert ist das Konzept: „Beide Teile Deutschlands sind geteilte Vorgeschichten unserer gesamtdeutschen Gegenwart“ (S. 21, p. 12). Teilweise wird hier auf Ansätzen wie der „shared history“ aus der postkolonialen Forschung oder Überlegungen aus dem viel diskutierten Buch „Nach dem Boom“ von Lutz Raphael und Anselm Doering-Manteuffel aufgebaut (S. 8, p. 2).2 Die Diskussion dazu entstand 2011 am Zentrum für Zeithistorische Forschung, dem auch die meisten Autor/innen dieses Bandes angehören. Mit dem nun vorliegenden Sammelband werden auch für ein englischsprachiges Publikum Annäherungen an eine Erzählung für eine deutsch-deutsche Geschichte vorgeschlagen, die durchaus an Vorgängerpublikationen3, insbesondere aber an Christoph Kleßmanns Konzept einer „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“4, anknüpfen. Die „geteilte Geschichte“ fragt sowohl nach Ähnlichkeiten und Interaktionen zwischen Bundesrepublik und DDR als auch nach Trennlinien und Unterschieden.
Offen gelassen wird die Frage nach der „Nation“: „Und schließlich ist nicht vorschnell von einer nationalen Einheit oder gemeinsamen Identität der Deutschen beider Teilstaaten auszugehen, die bereits die übergreifende Perspektive rechtfertigt“ (S. 21, p. 13). Das ist für die bisherige Forschung durchaus innovativ. Bösch stellt zu Recht heraus, dass das Konzept „Nation“ im Verhältnis zur deutschen Zweistaatlichkeit noch nicht hinreichend erforscht sei (S. 21, p. 13). Durch die Zurückweisung der a priori-Annahme „einer deutschen Nation“ nach der Einheit, erhalten die Autor/innen damit die Möglichkeit, die durchaus widersprüchlichen Effekte der Zweitstaatlichkeit in unserer heutigen Gesellschaft zu analysieren. Die Hauptfrage der Aufsätze bezieht sich deshalb zumeist mithilfe des Vergleichs (S. 8, p.1) auf die Transformation der beiden deutschen Staaten und Gesamtdeutschlands. Dabei liegt die augenscheinlich inhaltliche Stärke dieses Buches in der deutlichen Überwindung der Zäsur 1989/90. Durch die verlängerte Perspektive gelingt es einerseits, heutige Probleme beim Zusammenwachsen beider deutscher Teile herauszufiltern. Andererseits verschiebt sich dadurch der Ausgangspunkt der Analyse einer gesamtdeutschen Gegenwart auf die 1970er- und 1980er-Jahre, die perspektivisch als „Vorgeschichte“ aktueller Schwierigkeiten beleuchtet werden.
Der untersuchte Wandel bezieht sich zwar auch auf die ehemalige DDR, zielt jedoch ebenso auf Veränderungen in der alten und neuen Bundesrepublik ab – eine bisher in der Forschung nicht ausreichend beachtete Perspektive.5 Interessant ist beispielsweise, welche Einflüsse von Ost nach West gelangten oder sich erhielten – auch wenn das wissenschaftlich nicht immer einfach nachzuweisen ist. So geht Süß auf die Übernahme der in der DDR praktizierten fortschrittlicheren Gleichstellung von Mann und Frau im Arbeitsleben nach der Wiedervereinigung ein (S. 180, p. 215). Emmanuel Droit und Wilfried Rudloff zeigen, dass nach der Einheit ein weiterentwickeltes schulisches Zwei-Säulen-Modell aus dem Osten auch von einigen westdeutschen Bundesländern übernommen wurde (S. 367, p. 426).
Die Aufsätze gehen chronologisch vor, wobei abwechselnd auf die Bundesrepublik und die DDR Bezug genommen wird. So entsteht eine ausgewogene Betrachtungsweise von Bundesrepublik, DDR und wiedervereinigtem Deutschland, die in der bisherigen Forschung nicht selbstverständlich ist, da meist nur ein deutscher Staat im Fokus der Betrachtungen steht. Mit seinen Beiträgen ist dieser Sammelband hochaktuell, was die Themen Digitalisierung, Sozialstaat und auch Migration anbelangt. So hebt beispielsweise Maren Möhring in ihrem gelungenen Beitrag hervor, wie vielschichtig bzw. auch brüchig die viel beschworene deutsche „Kulturnation“ nach der Einheit war: Westdeutsche erhielten für den Zuzug in die neuen Bundesländer Geld, das umgangssprachlich auch als „Buschzulage“ bezeichnet wurde, was ehemalige DDR-Bürger/innen zu „Anderen“, zu wilden, unbekannten Ostlern werden ließ. Zwar schuf die Ausgrenzung von Asylant/innen und Ausländer/innen in Ost- als auch Westdeutschland eine neue gemeinsame deutsche Identität. Allerdings konnte sich auch hier der Westen als fortschrittlicher gerieren, da die Gewalt und der Rassismus in der Öffentlichkeit als vornehmlich ostdeutsches Problem wahrgenommen wurde (S. 402, p. 474). Auch Bösch und Gieseke gehen auf die politische Rechte nach 1990 ein und sehen die Entwicklungen als grenzüberschreitendes, europäisches Phänomen an (S. 74–75, p. 77–79). Angesichts jüngster politischer Entwicklungen ist dies ein spannendes und relevantes Thema für künftige Forschungen.
Jürgen Danyel und Annette Schuhmann revidieren in ihrem Beitrag „Wege zur digitalen Moderne“ die These, in der DDR hätte man keinen Zugang zu Computern gehabt. Sie zeigen im Gegenteil, dass die „Computerisierung der Gesellschaft“ vor allem in den Bereichen des Militärs und der Überwachung durch das MfS sowie in Verwaltung, Wissenschaft und Bildung Vorrang hatte (S. 300–301, p. 363–364), weshalb auch insbesondere Jugendliche mit der Technik in Kontakt kamen.6 Auch Droit/Rudloff verweisen darauf, dass die DDR Ende 1985 das Fach „Informatik“ ab der 9. Klasse aufwärts in das Schulkurrikulum integrierte, und damit nicht sehr viel später als die Bundesrepublik auf einen digitalen Kurs im Bildungswesen einschwenkte (S. 348–349, p. 413).7
An diesen Beispielen wird bereits deutlich, dass es den Beiträger/innen des Bandes eher darum geht, grenzüberschreitende Phänomene wie beispielsweise Umweltverschmutzung (Frank Uekötter) oder Sportbegeisterung (Jutta Braun) ausfindig zu machen und die unterschiedlichen Reaktionen beider deutscher Staaten darauf zu analysieren. Ähnliche Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland, wie etwa die Mediennutzung (Bösch zusammen mit Christoph Classen, S. 453, p. 555–556) oder auch der Übergang von der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft (Rüdiger Hachtmann), mündeten häufig in strukturelle Unterschiede, die bis heute nachwirken. Das wohl markanteste grenzüberschreitende Phänomen ist die Globalisierung. Sowohl Süß (S. 187–188, p. 221) als auch Hachtmann (S. 195, p. 240) widersprechen vor allem der unter ehemaligen DDR-Bürger/innen verbreiteten Auffassung, dass der soziale Druck nach der Wiedervereinigung auf die Einheit zurückzuführen sei. Stattdessen machen sie globale Entwicklungen wie Deregulierungsprozesse, Flexibilität und Polarisierung von Qualifikationen in der Arbeitswelt für die wachsende soziale Ungleichheit verantwortlich.
Die vergleichende Perspektive auf DDR und Bundesrepublik ist so gesehen nicht neu. Der Band zeigt, dass es Verflechtungs- und Entflechtungstendenzen sowie auch parallele Entwicklungen in beiden deutschen Staaten zu beobachten gibt. Durch die Verschiebung des Zeitkontextes über 1989/90 hinaus werden jedoch auch Wiederannäherungen und damit zusammenhängende Probleme deutlicher hervorgehoben. Trotz des für Zeithistoriker/innen schwierigen Quellenzugangs aufgrund der Dreißigjahresfrist gelingt es dennoch, Wandel in den alten und neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung ausfindig zu machen. Somit verdeutlicht der Band, dass 40 Jahre Systemunterschied bleibende Spuren hinterlassen haben, was auf den ersten Blick wenig überraschend erscheint. Die Einbettung in globale Prozesse, wie beispielsweise Liberalisierungstendenzen, sowie der lange Zeithorizont ermöglichen es jedoch, die Rolle der Wiedervereinigung ein wenig zu differenzieren und den Blick auf übergreifende Phänomene zu weiten. Damit regt der Sammelband dazu an, sich aus wissenschaftlicher Perspektive – gerade im Jubiläumszeitraum 2019/20 – nochmals kritisch mit der deutschen Wiedervereinigung auseinanderzusetzen. Auch zeigt er für die Forschung durchaus blinde Flecken auf, wie beispielsweise den erneuten Rechtsruck in Deutschland oder die Problematisierung von Nation und Zweistaatlichkeit. Insgesamt ist somit „A history – shared and divided“ durchaus gewinnbringend für die deutsch-deutsche Geschichtsschreibung und bietet relevante Anknüpfungspunkte für Diskussionen im Fach.
Anmerkungen:
1 Die Angaben (S. = Seite) und (p. = page) beziehen sich jeweils auf die deutsche (S.) bzw. englische Ausgabe (p.) des Bandes.
2 Vgl. Lutz Raphael / Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
3 Udo Wengst / Hermann Wentker (Hrsg.), Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Bonn 2008; Frank Möller / Ulrich Mählert (Hrsg.), Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte, Berlin 2008.
4 Christoph Kleßmann, Spaltung und Verflechtung. Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990, in: ders. / Peter Lautzas (Hrsg.), Teilung und Integration. Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Problem, Bonn 2006, S. 20–37.
5 Passend dazu: Frank Witzel / Philipp Felsch, BRD Noir, Berlin 2016.
6 Siehe auch Dennis Gießler, Videospiele in der DDR. Die Stasi spielte mit, in: Zeit Online, 21.12.2018, https://www.zeit.de/digital/games/2018-11/videospiele-ddr-stasi-ueberwachung-gamer-szene-computer (28.02.2019).
7 Siehe hierzu auch den Beitrag von Jürgen Danyel und Annette Schuhmann im rezensierten Band.