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Titel
Träume der Gewalt. Studien der Unverhältnismäßigkeit zu Texten, Filmen und Fotografien. Nationalsozialismus – Kolonialismus – Kalter Krieg


Autor(en)
Peiter, Anne D.
Reihe
Lettre
Anzahl Seiten
1.099 S.
Preis
€ 114,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Peitsch, Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg

Die an der Universität von La Réunion lehrende Germanistin Anne D. Peiter, die 2006 im Graduiertenkolleg „Codierung von Gewalt im medialen Wandel“ an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert wurde1, hat sich mit den vorliegenden „Studien“ zu „Nationalsozialismus – Kolonialismus – Kalter Krieg“ an der Sorbonne Nouvelle habilitiert. Die 1.099 Seiten lange Untersuchung benutzt als „literarische[n] Ausgangstext“ (S. 14) Günter Eichs 1951 vom Nordwestdeutschen Rundfunk gesendetes Hörspiel „Träume“, dessen erste Buchpublikation 1953 ganze 47 Seiten umfasst hatte.2 Wiederholt betont die Verfasserin: „Dieses Buch ist also erneut nicht wirklich eines über Günter Eich“ (S. 386), denn Eichs „‚Träume‘ sind nichts als der Auslöser für ganz Anderes“ (S. 14). Peiter, die sich vor der Verwendung der 1. Person Singular des Personalpronomens generell nicht scheut, nennt den Text einen „kleinen Traumkern, der sich durch mein interpretatorisches Eingreifen ins Unabsehbare vergrößert“ (S. 386). Dadurch werde ihr Buch zu einem Werk „über unterschiedliche Facetten der Gewalt in der deutschen (und europäischen) Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Es geht um Kolonialismus und Genozid, um Krieg und Vernichtung, um Rassismus in seinen verschiedenen Ausprägungen.“ (S. 14)

Auf diese Vergrößerung bezieht sich der im Untertitel des Buches stehende Begriff der „Unverhältnismäßigkeit“ auch dadurch, dass er im Genitiv verwendet wird, der doppelt lesbar ist, als subjectivus und als objectivus – zu beziehen auf das Verfahren der Studien wie auch auf den Untersuchungsgegenstand. So spricht die Autorin von den drei Teilen „Nationalsozialismus“, „Kolonialismus“ und „Kalter Krieg“ als „meiner Unverhältnismäßigkeits-Trilogie“ (S. 989). Dennoch bestimmt Eichs Text die Anlage der Untersuchung; im ersten Teil werden unter „Nationalsozialismus“ der erste Traum „Zugreisen in die Vernichtung“, der zweite „Mit der Eisenbahn in den Ritualmord“ und der dritte „Geschichten von Vertreibung“ herangezogen, im zweiten Teil unter „Kolonialismus“ der vierte Traum „Koloniale Gewaltherrschaft“ und im dritten Teil unter „Kalter Krieg“ sowohl der fünfte „Das atomare Inferno“ als auch ein 1954 von Eich geschriebener, aber nicht in die Neuauflagen der Buchausgabe aufgenommener sechster Traum „Fallbeil auf Knopfdruck“.

In den Kapiteln zu Eichs „Träumen“ gelingt es Peiter durch ihr „closest reading“ (S. 19) vor allem, „Motive“ zu identifizieren, die es ihr ermöglichen, „historiographische Dokumente und literarische Texte“ (S. 386) zu Nationalsozialismus und Kolonialismus mit Eichs Text zu vergleichen, aber auch Fotos und Filme. Denn viele dieser Motive betreffen, selbst wenn ihre Benennung das nicht immer anzeigt – etwa „Kannibalenmotiv“ (S. 426) für den Blick auf „‚Neger‘-Zähne“ (S. 415) –, die Perspektiven von Gewaltopfern und -tätern: „Motiv der Blicke nach draußen“ (S. 29), „‚Chiasmus der Blicke‘“ als „Möglichkeit eines Blickwechsels zwischen Opfer und Täter“ (S. 37), „Blickverweigerung derer, die sich ausgeschlossen wussten“ (S. 39). Die am häufigsten herangezogenen Vergleichstexte sind Charlotte Delbos „Auschwitz et après“ (1970/71) und Primo Levis „Se questo è un uomo“ (1947), gefolgt von Jorge Semprúns „Le grand voyage“ (1963) und Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“ (1975).

Peiter hat die Absicht, mithilfe von Eichs „Träumen“ „an eine Realität heranzukommen“, die mit Kolonialismus, Nationalsozialismus und Kaltem Krieg „zu tun hatte“: „Durch die Konfrontation des […] eichschen Textes mit […] Texten aus anderen Kontexten versuche ich, […] neue Maßeinheiten zur Beurteilung der literarischen Imagination aus dem beginnenden Kalten Krieg aufzustellen. Ich folge dabei der Überzeugung, dass das Übermaß der einzige Weg ist, um wenigstens ansatzweise an eine Realität heranzukommen, die eben nicht nur mit dem Kalten Krieg selbst zu tun hatte, sondern auch mit dem (und den) vorangegangenen.“ (S. 755) Dass die Verfasserin einem, wie ein US-amerikanischer Rezensent schon zu ihrer Dissertation hervorhob, „stated concern for […] ethical engagement“3 „verpflichtet“ schreibt, wird deutlich, wenn sie betont: Die „Erkenntnis, wie Unverhältnismäßigkeiten der Vergangenheiten – hier im Kalten Krieg – funktionierten“, führe, „so hoffe ich, zur Vermeidung ihrer Wiederholung. Der Unverhältnismäßigkeit meines Vorgehens und meiner Genauigkeit liegt nichts anderes zugrunde als die Hoffnung auf neue Verhältnisse, jenseits der Gewalt.“ (S. 770)

Genauigkeit will die Verfasserin ausdrücklich nicht auf die philologische Ebene beschränkt wissen: „Jeder historischen Epoche wird, angeleitet von Eichs Traum-Texten, in extrem kleinschrittigen Lektüren nachgegangen, doch nicht mit dem Ziel, zunftgemäß ein Stück literarischer Interpretation zu schreiben. Vielmehr dienen mir schon existierende, historiographische Dokumente und literarische Texte als Traummaterial für unverhältnismäßige Erweiterungen. Meine Analysen werden uns vom Ausgangstext weit wegführen.“ (S. 386) So kann von der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte jeweils abstrahiert werden. Nur an einer Stelle werden auf eine bezeichnende, nämlich „erinnerungskulturelle“ Weise die historisch-gesellschaftlichen Kontexte der Entstehung von „Träume“ und diejenigen ihrer heutigen, kulturwissenschaftlichen Rezeption in Beziehung gebracht: „Mein Versuch, zu sehen [sic], woran Eichs ‚Träume‘ heute erinnern, verfolgt also gleich zwei Ziele: Zum einen geht es mir darum, zu verstehen, was sie für mich und – über mich hinausgehend – für größere Kollektive bedeuten. Zum anderen schiebt sich jedoch auch der Unterschied zwischen dem, woran Eich mit dem Hörspiel zu erinnern glaubte, und dem, woran seine ‚Traumdinge‘ heute erinnern, in meine Bedeutungsherstellung. In dieser Hinsicht sind meine Träume Gegen-Träume.“ (S. 396)

Was, wie bereits zitiert, in der Einleitung des ersten Teils zunächst als „ganz Anderes“ des Eich‘schen Textes, der aber „Auslöser“ sei (S. 14), bezeichnet worden ist, wird hier zu einem Gegenpol. Auf die „Erinnerungspolitik“ der Bundesrepublik nimmt Peiter im zweiten Teil Bezug, um zu begründen, weshalb sie „zwischen kolonialistischen und nationalsozialistischen Zeugnissen hin und her [springe], um Unterschiede und Ähnlichkeiten aufscheinen zu lassen“: „Ein Gedanke ist für mich entscheidend: dass eine Kritik der Erinnerungspolitik, die auf das ‚Dritte Reich‘ folgte, an Glaubwürdigkeit zunimmt, wenn sie auch eine Kritik an der Gewalt einschließt, die sich im Jahrhundert zuvor, den Augen der Mehrheit entzogen und doch nicht unbeobachtet, in den afrikanischen Kolonien Bahn gebrochen hatte. Hannah Arendts Totalitarismus-Buch hat hier entscheidende Anregungen gegeben.“ (S. 419) Weil an keiner Stelle von Peiters Buchs entweder die „Erinnerungspolitik, die auf das ‚Dritte Reich‘ folgte“, oder „eine Kritik“ an ihr behandelt wird, sind die wenigen Passagen bedeutsam, an denen von konkurrierenden Erinnerungen die Rede ist. So erklärt die Autorin die Paraphrase eines Satzes aus Dan Diners Essay „Gegenläufige Gedächtnisse“ von 2007 zu einem „Beschreibung“ genannten zutreffenden Urteil über Eichs Text: „Dan Diners Hinweis, der Genozid an den Juden Europas habe in den ersten Jahren, die auf die Kapitulation Deutschlands folgten, nur ‚sekundär Erwähnung‘ gefunden4, beschreibt Eichs Text exakt.“ (S. 156) Und kurz darauf lässt sie Diner „gelten“ „[a]ls Vertreter eines Ansatzes, der wie Arendt der Position des Hörspiels diametral entgegengesetzt ist“ (S. 158). Von Hannah Arendt stammen nicht nur die „Anregungen“ zur Zusammenstellung von Nationalsozialismus, Kolonialismus und Kaltem Krieg (S. 419) und zur „Unverhältnismäßigkeit“ als einer „generellen Beschreibung für das Verhältnis von Mittel und Zweck“ (S. 1.007)5, sondern auch 24 der Motti, die über die 181 (!) Unterabschnitte der drei Teile gesetzt sind, so viele wie von keinem der als „literarisch-philosophische“ „Vorbilder“ (S. 16) der Verfasserin genannten Autoren: Walter Benjamin (eins), Karl Kraus (sechs) und Robert Musil (vier). Historisch und gesellschaftlich interessierte Leser/innen werden sich auch durch die essayistische Vortragsweise kaum für die scharfsinnigen, aber zugegebenermaßen sehr „kleinschrittigen“ (S. 386) Text- und Bildanalysen gewinnen lassen.

Anmerkungen:
1 Buchveröffentlichung: Anne D. Peiter, Komik und Gewalt. Zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoah, Köln 2007.
2 Günter Eich, Träume. Vier Spiele, Berlin 1953, S. 144–190.
3 William Collins Donahue, Rezension zu: Anne D. Peiter, Komik und Gewalt. Zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoah, in: German Studies Review 32 (2009), S. 214–216, hier S. 215.
4 Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007, S. 10: „Wenn überhaupt, so fand Auschwitz allenfalls mit Hiroshima, dem Menetekel der nuklearen Selbstvernichtung der Menschheit, sekundär Erwähnung.“
5 Vgl. die Einleitung eines folgenden Zitats aus Arendts „Macht und Gewalt“: „Nach einer generellen Beschreibung für das Verhältnis von Mittel und Zweck suchend, hat Hannah Arendt zu einer Einsicht gefunden, die ich für außerordentlich bedeutsam und weitreichend halte […]: ‚[D]er Zweck, der die Mittel bestimmt, die zu seiner Erreichung notwendig sind und sie daher rechtfertigt, wird von den Mitteln überwältigt. […] daher sind die zur Erreichung politischer Ziele eingesetzten Mittel für die Zukunft der Welt zumeist von größerer Bedeutung als die Zwecke, denen sie dienen sollen.‘“ (S. 1.007f.)