Cover
Titel
These Truths. A History of the United States


Autor(en)
Lepore, Jill
Erschienen
Anzahl Seiten
xx, 932 S.
Preis
$ 19.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mischa Honeck, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Der Geruch des Feuerwerks vom Vortag lag noch in der Luft, als Frederick Douglass am 5. Juli 1852 in Rochester im Bundesstaat New York eine Brandrede hielt, die es in sich hatte. Was bedeutet der Unabhängigkeitstag für die Sklaven Nordamerikas, fragte der schwarze Abolitionist und Bürgerrechtler? In den Freiheitsliedern des weißen Amerikas hörten seine geknechteten Brüder und Schwestern nur Maßlosigkeit, im Gleichheitspathos nur Hochmut, in der Tyrannenverachtung nur freche Tollkühnheit, und in den Selbstbestimmungsphrasen nur hohlen Spott. Und dennoch hofften und warteten die Sklaven Amerikas auf den Tag, so Douglass, an dem die „Wahrheiten“ des Selbstregierungsrechts und der unveräußerlichen Menschenrechte, auf die sich die Gründerväter der Vereinigten Staaten beriefen, auch endlich ihre Ketten sprengen würden.

Douglass’ Rede, die er neun Jahre vor Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs hielt, bildet in zweifacher Hinsicht eine Schlüsselszene in Jill Lepores hochgelobter monumentaler Geschichte der USA, die sich von der Kolonisierung Amerikas in der frühen Neuzeit bis zur Wahl Donald Trumps erstreckt.1 Lepore geht es wie Douglass um „diese Wahrheiten“ der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, die zugleich Titel, historischer Anker und moralischer Fluchtpunkt ihres Buches sind. Und es geht ihr darum, die wechselvolle Geschichte der Vereinigten Staaten weder in Form einer Lobeshymne noch eines Sündenkatalogs zu erzählen. Die Leser/innen sollen sich stattdessen auf einen „unbehaglichen Pfad“ begeben, der wegführt von „falschen Frömmigkeiten“ und „kleinen Triumphen“ (S. xix). Geschichte ist die Kunst der „kritischen Befragung“ (S. xvi), schreibt Lepore. Sie hält keine wohlfeilen Lektionen bereit und auch keine einfachen Geschenke. Ihr einziger Wert besteht darin, sie tastend kennenzulernen.

Im Grenzland zwischen historischer Forschung und gesellschaftspolitischer Intervention ist Jill Lepore wie keine Zweite zuhause. Bücher wie The White of Their Eyes, in dem sie den Geschichtsmissbrauch der rechtskonservativen Tea-Party-Bewegung bloßstellt, oder ihre feministische Spurensuche zu Wonder Women begründeten ihren Ruhm als öffentlichkeitswirksame Historikerin, die sich souverän zwischen Sach- und Fachbuch bewegt.2 Auch These Truths durchweht der Ethos der politisch engagierten Intellektuellen. An Gesamtdarstellungen zur Geschichte der USA herrscht kein Mangel, und an diesem Genre hat die Polarisierung des Landes ebenso Spuren hinterlassen wie in anderen Bereichen der Gesellschaft. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung erklärt sich auch die Verve, mit der Lepore eine liberal-zentristische Neubetrachtung der Nationalgeschichte anstrebt. In letzter Konsequenz will sie aber mehr: eine Wiederherstellung des Vertrauens in die Macht der empirischen Evidenz, die in den Wogen einer entfesselten digitalen Gefühlspolitik unterzugehen droht – ja gar eine Rehabilitation des Wahrheitsbegriffs in Zeiten postfaktischer Verirrungen.

Doch zunächst zum historischen Narrativ: Datiert man die Geburt der Vereinigten Staaten entlang ihrer Gründungsdokumente aus dem späten 18. Jahrhundert, entbehrt es nicht einer gewissen Anmaßung, dass Lepores Schilderung mit Christoph Kolumbus beginnt. Ihr Ritt durch die Kolonialzeit fördert jedoch durchaus Erhellendes zutage. Indem Lepore konsequent die Erfahrungswelten von weißen Siedlern, Ureinwohnern und afrikanischen Sklaven bündelt, gelingt es ihr, eine revolutionäre Tradition auf dem nordamerikanischen Kontinent freizulegen, die nicht erst nach dem Siebenjährigen Krieg einsetzte, sondern lange davor aus indigenem Widerstand und Sklavenaufständen gerann. Horizonterweiternd sind auch die Passagen, in denen der Unabhängigkeitskampf hemisphärisch erzählt wird. In der Ausdehnung des analytischen Blicks auf die britischen Besitzungen in der Karibik wird deutlich, wie sehr die Freiheitsrhetorik der dreizehn Kolonien von den Pflanzern in Barbados und Jamaika als Sicherheitsrisiko wahrgenommen wurde. In der Tat verlor das Britische Empire mit der Niederlage die Hälfte seiner Sklaven. Die Antisklavereibewegung in England florierte, während die Sklaverei die jungen USA fest im Griff hatte.

Die Kapitel zur frühen Republik und der Bürgerkriegsepoche fallen konventioneller aus. Hervorzuheben ist, dass Lepore die territoriale Expansion und demokratische Entwicklung der USA nicht nur von den politischen Machtzentren her denkt. Leser/innen stoßen auf ein Destillat von Regierungshandeln, sozialem Protest und technologischen Innovationen. Dazu zählen luzide Abschnitte zur Erfindung des Telegrafen und zum subversiven Potenzial der noch jungen Fotografie. Neben den Präsidenten Andrew Jackson und Abraham Lincoln werden weniger bekannte Personen wie die Abolitionistin Maria W. Stewart, der Dichter Henry Wadsworth Longfellow oder der Erfinder Samuel F.B. Morse zu handlungsstarken Akteuren. Dieser Erzählchor aus etablierten und marginalisierten Stimmen führt auch durch den dritten Teil des Buches, der das Jahrhundert von der Rekonstruktion bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges umspannt. Grundpfeiler der Diskussion sind die Herausbildung des modernen Staates und konkurrierender Konzepte von Staatsbürgerschaft, Konflikte um Immigration, „Rasse“ und Geschlechterhierarchien, die Entwicklung der Massengesellschaft, die Große Depression und die mobilisierte Nation im Zeitalter der Weltkriege. Überdacht werden die Pfeiler vom Interesse der Autorin am Einfluss neuer Medien auf die politische Kultur. Lepore erklärt die Yellow Press und den Investigativjournalismus zu Geburtshelfern der populistischen und progressiven Bewegungen um 1900. Als ähnlich disruptiv beurteilt sie die Einführung des Radios: ohne Hörfunk sei die Stärkung exekutiver Macht, wie sie Franklin D. Roosevelt im Zuge des New Deal verfolgte, völlig undenkbar.

Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 und die daran anknüpfende Nuklearisierung und Computerisierung der Gesellschaft läuten den letzten zeitgeschichtlichen Teil ein. Mehr noch als die Kollision der Ideologien im Kalten Krieg oder die Warenketten des globalen Kapitalismus bilden die Datenflüsse des anbrechenden Informationszeitalters das einende Band in Lepores Analyse. Entlang dieses Bandes entwickelt sie einige originelle Thesen. Am Beispiel von Campaigns Incorporated, eines 1933 in Kalifornien gegründeten Unternehmens, veranschaulicht Lepore die wachsende Bedeutung politischer Beraterfirmen in den Vereinigten Staaten der Nachkriegsjahrzehnte. Phillys Schlafley, deren antifeministische Kampagnen das Scheitern des Equal Rights Amendment (einem geplanten Verfassungszusatz, der Frauen gleiche Rechte zusichern sollte) mit verursachten, personifiziert den oft unterschätzten weiblichen Beitrag am Aufstieg des modernen Konservatismus. Konservativen Leser/innen wird dagegen kaum schmecken, dass Lepore die Überwindung des Kalten Kriegs nur in geringem Maße als Leistung Ronald Reagans verbucht. Über Parteigrenzen hinweg zielt hingegen ihre flammende Kritik am elitären Habitus einiger Globalisierungsgewinner, die weite Teile der Öffentlichkeit als für den politischen Prozess verloren erklären. Wer denkt da nicht an die „deplorables“ von Hillary Clinton oder die „47 percent of takers“ von Mitt Romney?

Sowohl Expertenrunden als auch ein breiteres Publikum werden an These Truths Gefallen finden. Doch der Spagat zwischen Fach- und Sachbuch hat seinen Preis. Wer eine historiografische Revolution erwartet, wird zwangsläufig enttäuscht sein. Das Buch geht den Weg moderater Umschichtungen und reflektierter Neugewichtungen, nicht den des radikalen Bildersturms. Wirtschaft, Kultur, Ethnizitäten und Alltagswelten landen in Lepores Verquickung von Politik-, Technik- und Mediengeschichte häufig auf dem Abstellgleis, was sie offen einräumt. Ihr Antrieb ist freilich ein anderer, nämlich die Frage historisch zu beantworten, wie sich Gesellschaften, die sich zusehends in ihre digitalen Echokammern zurückziehen, überhaupt noch auf fundamentale demokratische Wahrheiten verständigen können. Ob diese Frage eine methodische Rückbesinnung auf die Nation erfordert, darf kritisch diskutiert werden. In diesem Punkt fällt These Truths hinter andere Synthesen jüngeren Datums zurück, welche die Geschichte der USA stärker in ihren transnationalen Verflechtungen mit anderen Weltregionen kontextualisieren.3 Die Welt dient bei Lepore oft nur als Kulisse, vor der sich das Drama des Amerikanischen Experiments geradezu autark entfaltet. Der Einfluss der Europäischen Revolutionen von 1848 auf die Eskalation des Nord-Süd-Konflikts wird unterbewertet. Die transatlantischen Netzwerke der Sozialreform, wie sie Daniel Rodgers für das frühe 20. Jahrhundert vermessen hat, werden lediglich angedeutet.4 Über den internationalen Aktionsradius der Neuen Linken und der Bürgerrechtsbewegung erfährt man so gut wie nichts. In einem kürzlich erschienenen Essay verteidigte Lepore ihren Ansatz mit der provokanten Behauptung, dass der Nationalismus erst recht erstarke, wenn sich die Geschichtswissenschaft vermehrt globalen Themen zuwende.5 Daraus den Auftrag abzuleiten, nationale und globale Analyserahmen überzeugender miteinander zu verbinden, vermag sie aber nicht.

Deshalb Lepore eine exzeptionalistische Agenda zu unterstellen, geht wiederum zu weit. Hier schreibt eine Historikerin auf dem Höhepunkt ihres Könnens als besorgte Patriotin. An ihre Mitbürger und Mitbürgerinnen richtet sie den Appell, sich die Geschichte ihres Landes nicht länger als „rührseliges Gute-Nacht-Märchen“ zu erzählen, sondern als „aufwühlendes, furchteinflößendes, inspirierendes, beunruhigendes, erderschütterndes Epos“ (S. 788). Ich gestatte mir abschließend noch eine Verneigung vor der sprachlichen Qualität des Buches: These Truths ist der druckfrische Beweis dafür, dass analytische Ernsthaftigkeit und literarische Eleganz in keinem Widerspruch zueinanderstehen müssen. Mögen wir uns alle eine Scheibe davon abschneiden.

Anmerkungen:
1 Eine deutsche Übersetzung erscheint im Oktober 2019 beim C.H. Beck Verlag in München.
2 Jill Lepore, The Tea Party’s Revolution and the Battle Over American History, Princeton 2010; idem, The Secret History of Wonder Woman, New York 2015.
3 Siehe beispielhaft Thomas Bender, A Nation Among Nations. America’s Place in World History, New York 2006; Ian Tyrrell, Transnational Nation. United States History in Global Perspective since 1789, Basingstoke 2007.
4 Daniel Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, MA, 1998.
5 Jill Lepore, This America. The Case for the Nation, New York 2019.