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Titel
Constructing a Civic Community in Late Medieval London. The Common Profit, Charity and Commemoration


Autor(en)
David Harry
Erschienen
Woodbridge 2019: Boydell & Brewer
Anzahl Seiten
XI., 216 S.
Preis
£ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veit Groß, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Kulturwissenschaftliches Zentrum, Georg-August-Universität Göttingen;

Die regierende Elite des spätmittelalterlichen London, die Gruppe der sogenannten Aldermen, hatte ein Abgrenzungsproblem: wohlhabend, mächtig und durchaus Akteure, mit denen man auf der politischen Bühne Englands zu rechnen hatte, konnten sie zwar ihren Reichtum vererben, aber nicht ihre Ämter. Standesgrenzen trennten sie von adliger oder religiöser Autorität. Damit standen sie für David Harry, den Verfasser des anzuzeigenden Buchs, vor einem simplen Problem: „London’s ruling class could not simply assert their authority, it had to be earned“ (S. 28). Seine Studie will rekonstruieren, wie die Aldermen des 15. Jahrhunderts dieses Problem lösten.

Für Harry geschah dies mittels bewusster Ideologieproduktion. Die „aldermannic class“ adaptierte und manipulierte vorhandene Ressourcen des politischen Raums, um für ihre Machtstellung eine Legitimationsgrundlage zu konstruieren (vgl. S. 7). In dieser Hinsicht zeigt sich Harry von John Watts beeinflusst, dessen Arbeiten zur Geschichte politischer Strukturen des 14. und 15. Jahrhunderts in den Mittelpunkt stellen, wie sich Akteure solche Strukturen zunutze machen. Watts nähert sich politischen Strukturen gleichsam aus einer bottom-up Perspektive und versteht sie als „frames, forms and patterns which (…) supplied politicians with tools, solutions, ideas, possibilities“.1 Diese Denkfigur liegt auch Harrys Studie zugrunde, die aufzeigt, welche der verfügbaren Strukturen am Ende des 14. Jahrhunderts für Londons Obrigkeiten besonders nahegelegen haben musste: die Rede vom „Common Profit“, deren rasanten Bedeutungszuwachs für die politische Sprache Englands in dieser Zeit Mark Ormrod aus den Parlamentsrollen rekonstruiert hat.2

Der „Common Profit“ ist für David Harry mehr als ein inhaltsleeres Schlagwort. Er war eine eigenständige Ideologie, die von den Aldermen Londons ganz bewusst entworfen worden war, um ihrer Amtsausübung Würde und spirituelle Bedeutung zu verleihen und so ihre – aus der Perspektive der ständischen Ordnung betrachtet – prekäre Position im „uneven middle ground (…) between those who worked and those who ruled“ (S. 29) zu festigen. In dieser Ideologie machten die Aldermen sich laut Harry zu primi inter pares, die vorgeblich zum Wohle der finanziellen und spirituellen Interessen aller Londoner die Stadt nach außen vertraten und nach innen beherrschten.

Harrys Erzählung setzt bei einer Krise der Aldermen-Herrschaft ein, die eine „reconfiguration of political authority“ (S. 41) erforderlich machte, nämlich in den zwei Jahrzehnten nach dem sogenannten „Good Parliament“ von 1376, das als eine Art Initialzündung für die Phase gelten darf, die man im Anschluss an Ruth Birds klassische Studie „the turbulent London of Richard II“ nennen könnte.3 In dieser verfassungsgeschichtlich bedeutsamen Zusammenkunft des englischen Parlaments wurde der Diskurs des „Common Profit“ intensiver genutzt denn je. Er stellte potente Metaphern bereit, um die Tugendkampagne der Commons gegen vermeintliche Korruption und Sünde bei Hof zu untermauern.4 Der Aldermen-Elite konnte dies schwerlich verborgen bleiben, denn einige der Ihren fanden sich selbst im Fadenkreuz der Commons wieder, was wiederum einem gewissen John Northampton zum Vorwand gereichte, sich selbst als „Moralunternehmer“ (F.Rexroth) zu betätigen und sich – gestützt auf die niederen Zünfte – zeitweise zum Bürgermeister aufzuschwingen.5 Dies versetzte laut Rexroth „dem Prinzip ‚Obrigkeit‘ einen solchen Schlag, daß der der Aldermännerrat Jahre brauchte, um sich davon zu erholen“.6

Harry geht über diesen Befund noch hinaus, indem er darauf hinweist, dass auch die traumatische Erfahrung der Erstürmung der Stadt im Zuge der sogenannten „Peasants‘ Revolt“ 1381 und der demütigende Verlust der königlichen Freiheiten von 1392 bis 1397 aus Sicht der Obrigkeit wohl eine „more careful and rigorous control of political language“ (S. 39) ratsam erscheinen ließen.7 Wie dies aussah, zeichnet Harry anhand von äußerst lebendigen Gerichtsquellen nach, in denen ein Bemühen erkennbar wird, die Würde städtischer Ämter als unverletzbar zu propagieren.

In den folgenden fünf Kapiteln wird dann gezeigt, wie die Aldermen nach 1400 die Entwicklung einer neuen Legitimationsgrundlage für ihre immer exklusiver werdende Herrschaft strategisch betrieben, wobei jedes Kapitel andere Quellen in den Mittelpunkt stellt. Diese Quellen ordnet er jedoch möglichst chronologisch, so dass sich ein Durchgang durch das 15. Jahrhundert ergibt. Dieser beginnt mit dem 1419 fertiggestellten Liber Albus des Stadtschreibers John Carpenter, selbst Angehöriger der Londoner Elite (Kap. 2). Dabei kann Harry zeigen, dass diese berühmte Sammlung und Indizierung bedeutsamer städtischer Dokumente nicht nur als Beleg für die zunehmende Komplexität städtischer Verwaltungstätigkeit gewertet werden sollte, sondern Carpenters zielgerichtete Rezeption des Materials einen Akt des bewussten Neu-Schreibens darstellt, das im Dienst eines ideologischen Programms stand: Die „fragile position at the mercy of the crown“ (S. 60), von der aus die Aldermen operieren mussten, war eine Not, aus der Stadtschreiber Carpenter eine Tugend machte, indem er die Stadtoberen als Garanten des „gemeinen Nutzen“ im Dialog mit der Krone darstellte.

Dieser Dialog mit dem Herrscher rückt dann bei einer Analyse verschiedener Herrschereinzüge in den Blick (Kap. 3), deren Ereignishaftigkeit Harry deutlich weniger interessiert als ihre Darstellung in den Londoner Quellen; diese „sought to preserve a record of an event that maintained the political ideology of the common profit“ (S. 90). Carpenters Mission im Auftrag der Aldermen habe gelautet: „working with the constitutions and charters of the city, to imbue their position with the significance and rank of hereditary peers“(S. 60).

Doch es ging den Aldermen-Eliten nicht nur um eine zu den weltlichen Fürsten analoge Legitimation, sondern auch um religiös begründete Autorität. Anhand von Inschriften macht Harry deutlich, wie sie ihre herausgehobene Position innerhalb der Bürgerschaft auch mit karitativem Handeln untermauerten (Kap. 4). Dabei waren sie jedoch stets bestrebt zu betonen, dass dies ein reziproker Prozess sei, aufgrund dessen die spirituelle Eintracht der Stadt von der tugendhaften Führung durch die bestehenden Eliten abhänge. Dem Bekleiden städtischer Ämter wohne eine „sacred significance“ (S. 148) inne.

In welchem Ausmaß die Aldermen ihrer Herrschaft spirituelle Bedeutung beimaßen, erweist auch Harrys anschließende akribische Untersuchung einiger Handschriften, die in der Forschung „common profit books“ genannt werden (Kap. 5). Harry führt sie als Beleg dafür an, dass Londons Eliten religiöse Erbauungsliteratur in Umlauf brachten und dass dies vor dem Hintergrund der Ideologie des „Common Profit“ zu verstehen sei, die es erlaubt habe, dies als Investition in die Institutionen der gesamten Stadt und damit zum Wohle aller darzustellen. Harrys Erzählung schließt gegen Ende des 15. Jahrhunderts mit William Caxton (Kap. 6), dem ersten Buchdrucker Englands, wobei er hier den Fokus darauf legt, wie wiederum von Gruppen unterhalb der Aldermen-Elite der „Common Profit“-Diskurs emuliert wurde.

David Harrys Studie gelingt es, die Selbstlegitimation der Londoner Obrigkeiten aus Quellen zu rekonstruieren, die für die Beantwortung dieser Frage keinesfalls sofort auf der Hand liegen. Er kann diese versprengten Mosaikstücke überzeugend als Teile eines kohärenten Ganzen präsentieren, eben der Ideologie des „Common Profit“, welche die Selbstsicht dieses elitären Milieus bestimmt habe. Dieses Gesamtbild scheint freilich nicht allein aus den disparaten Quellen entwickelt worden zu sein. Vielmehr gleicht Harry in einem deduktiven Vorgehen den Quellenbefund mit einem plausiblen Narrativ ab, was Kennern der Quellenlage wahrscheinlich einsichtig ist. Harrys Argument, die Londoner Eliten hätten sich als Garanten des „Common Profit“ begriffen, ist nichtsdestotrotz überzeugend.

Inwieweit diese Eigenwahrnehmung der Londoner Eliten auch die Grundlage ihrer Selbstlegitimierung vor einer – wie auch immer definierten – städtischen Öffentlichkeit war, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Eine Wirkung in die breitere Stadtgesellschaft hinein muss bei fast allen analysierten Quellen fraglich bleiben. Eine Herrschaft der Londoner Aldermen über „manufacturing consent“, im Sinne des von Harry angeführten Noam Chomsky, lässt sich zumindest aus diesen Quellen nicht belegen.8 Harrys lesenswerte Studie regt jedoch auch hier zu weiteren Fragen an, etwa wie die Londoner Eliten im Sinne von Antonio Gramsci Hegemonie herstellten, indem sie ihre Partikularinteressen als Allgemeininteressen darstellten – anders ausgedrückt: als „Common Profit“.

Anmerkungen:
1 John Watts, The Making of Polities. Europe, 1300–1500, Cambridge, UK / New York 2009. S. 35.
2 W. M. Ormrod, "Common Profit" and "The Profit of the King and Kingdom". Parliament and the Development of Political Language in England, 1250–1450, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 46 (2015), S. 219–252.
3 Ruth Bird, The turbulent London of Richard II, London 1949.
4 W. M. Ormrod, The Good Parliament of 1376. Commons, Communes, and "Common Profit" in Fourteenth-Century English Politics, in: David Nicholas u.a. (Hrsg.), Comparative perspectives on history and historians. Essays in memory of Bryce Lyon (1920–2007), Kalamazoo 2012, S. 169–188. Das Fehlen von Christopher Fletchers einschlägiger Studie im Literaturverzeichnis irritiert hier, hätte sie doch Harrys Argument gestützt. Vgl. Christopher Fletcher, Virtue and the Common Good. Moral Discourse and Political Practice in the Good Parliament, 1376, in: Katherine L. Jansen / Miri Rubin (Hrsg.), Charisma and religious authority. Jewish, Christian, and Muslim preaching, 1200-1500, Turnhout 2010, S. 197–214.
5 Frank Rexroth, Das Milieu der Nacht. Obrigkeit und Randgruppen im spätmittelalterlichen London, Göttingen 1999. S. 176.
6 ebd.
7 Die mannigfaltigen Verbindungen zwischen Good Parliament und Peasants‘ Revolt werden in der Forschung leider meist übersehen, so auch hier. Vgl. Gwylim Dodd, A Parliament full of Rats? Piers Plowman and the Good Parliament of 1376, in: Historical Research 79 (2006), S. 21–49. Hier: S. 43 u. passim.
8 Edward S. Herman / Noam Chomsky, Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media, London 1988.

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