O. Baustian: Handel und Gewerbe des Königreichs Westphalen

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Titel
Handel und Gewerbe des Königreichs Westphalen im Zeichen des ›système continental‹. Wirtschafts- und Zollreformen, staatliche Gewerbeförderung und Regulierung der Außenhandelsbeziehungen 1807–1813


Autor(en)
Baustian, Oliver
Reihe
Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Forschungen
Erschienen
Anzahl Seiten
632 S.
Preis
€ 99,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Gorißen, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Den nach wie vor maßgeblichen Interpretationsrahmen für die historische Einordnung des kurzlebigen, 1807 durch Napoleon geschaffenen Königreichs Westphalen setzte vor nun bald fünfzig Jahren Helmut Berding. Er zeigte, dass dieses neu zusammengefügte staatliche Gebilde zum einen gegründet worden war, um in einem Modellstaat der deutschen Bevölkerung die Segnungen eines modernen Staatswesens vor Augen zu führen und so Legitimation für die politische Hegemonie des Französischen Kaiserreichs auf dem Kontinent zu schaffen. Zum anderen besaß das Königreich Westphalen aber, wie die übrigen Staaten des Rheinbunds auch, unmissverständlich die Funktion eines französischen Satellitenstaates mit stark eingeschränkter Souveränität. Aufgabe der Rheinbundstaaten war es vor allem, die französische Vorherrschaft in Europa politisch und militärisch zu stabilisieren. Die bilanzierende Abwägung dieser beiden widerstreitenden Intentionen fällt bei Berding eindeutig aus: Die Erfordernisse des Satellitenstaats dominierten vollständig die Erwartungen an den Modellstaat, der „hinter den politischen, militärischen und ökonomischen Ansprüchen zurückstehen [musste], auf die der Kaiser zur Erhaltung und Ausweitung der französischen Vorherrschaft in Europa nicht verzichten konnte“.1

Die Forschung der vergangenen Jahrzehnte ist Berdings Urteil überwiegend gefolgt, indem sie sich um eine Einschätzung der Bedeutung der napoleonischen Staatsgründungen für längerfristige Modernisierungsprozesse von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft bemühte. Hinzu trat das vor allem von der Regional- und Lokalgeschichte verfolgte Interesse an einer Umsetzung der napoleonischen Reformen vor Ort, das sich mit Problemen der Wahrnehmung und Rezeption des neuen Staatswesens und seiner Verwaltung durch die Bevölkerung verband, der Frage also, ob das angestrebte Legitimationsziel ansatzweise erreicht wurde.2

Die hier vorzustellende Arbeit von Oliver Baustian, eine in Tübingen entstandene rechtsgeschichtliche Dissertation, setzt andere Akzente und hält sich mit Problemen der Legitimation des neuen Staatsgebildes nicht weiter auf. „Zentrales Anliegen“ des Autors ist vielmehr die Bearbeitung der „Frage, ob und inwieweit bis 1813 in wirtschaftlicher Hinsicht schrittweise eine erfolgreiche Integration des […] Königreichs Westphalen in Napoleons système continentale“ gelang (S. 15). Diese Frage nach der „Integration“ setzt die Legitimität der von Napoleon geschaffenen Ordnung voraus, zu der Baustian sich durchweg bemerkenswert affirmativ verhält. Zur Erforschung des Problems der „Integration“ sei es nötig zu erkunden, „inwieweit zum einen die dynamischen Aspekte des système continental die wirtschaftlichen Interessen Westphalens letztlich begünstigten und ob nicht die westphälische Regierung die sich aus der neuen Wirtschaftsordnung für das Land ergebenden Chancen selbst zum Teil vertan hat, ohne dass die Ursachen hierfür der napoleonischen Wirtschaftspolitik anzulasten waren“ (S. 21). Der Eindruck, dass es sich bei diesen Formulierungen weniger um Forschungsfragen, sondern vielmehr um Prämissen handelt, die der Autor mit seiner Arbeit begründen möchte, trügt nicht.

Zur Umsetzung seines Vorhabens untersucht Baustian detailliert die Gesetzgebung und Wirtschaftspolitik im Königreich Westphalen. Hierbei stützt er sich im Wesentlichen auf die Akten aus den Kasseler Ministerien im Geheimen Staatsarchiv Berlin, außerdem auf Dokumente aus französischen Regierungsarchiven, etwa die Akten des Pariser Außenministeriums und des französischen Zolls, aber auch Unterlagen des Pariser Kabinetts. Die umfangreiche Quellenarbeit verdient genauso Respekt wie die detaillierte Rekonstruktion von Debatten zur Wirtschafts- und Zollpolitik des napoleonischen Satellitenstaats. Nach einem einführenden Kapitel, in dem der Autor kurz die Wirtschaftsstruktur des Landes charakterisiert und die mit wirtschaftspolitischen Fragen befassten Minister des Königreichs Westphalen (Finanz-, Innen- und Außenminister) mit ihren Kompetenzen vorstellt, folgt ein erster längerer Abschnitt, der Möglichkeiten zur Gewerbeförderung durch die Einführung von Gewerbeordnung und Handelsgerichtsbarkeit, durch die Etablierung von Handelskammern und Handelsbörsen und von Einzelmaßnahmen zur Förderung verschiedener Gewerbezweige diskutiert. Hiervon wurde, wie der Autor bilanziert, kaum etwas umgesetzt. In der Verantwortung sieht Baustian Finanzminister von Bülow, der hartnäckig an der Vorstellung eines Agrarstaats festgehalten und die Förderung einer gewerblichen Entwicklung hintertrieben habe.

Der zweite Hauptabschnitt, mit mehr als 200 Seiten das umfangreichste Kapitel des Buches, befasst sich mit der Zollpolitik und Zollorganisation im Handelskrieg gegen England. Auch hier sieht Baustian wieder vor allem Versäumnisse in den Kasseler Ministerien. Den Ausbau eines effektiven Grenzzollsystems, das nicht nur den Bedürfnissen Frankreichs entsprochen, sondern im Sinne eines Schutzzollsystems auch eine prosperierende gewerbliche Entwicklung im Land ermöglicht hätte, habe man fahrlässig versäumt. Wieder hätten vor allem Finanzminister von Bülow und sein Nachfolger Malchus nicht nur „die einmalige Chance vertan, der westphälischen Wirtschaft durch eine rigorose Abwehr englischer Manufakturwaren mittels einer hermetischen Grenzzollorganisation“ einen nachhaltigen Wachstumsimpuls zu verleihen, sie hätten damit auch zu verantworten, dass der westphälische Satellit „seiner […] gebotenen [!] Verpflichtung im gemeinsamen Handelskrieg [gegen England] bis 1813 nicht gerecht“ geworden sei (S. 428f.).

Im letzten Teil seiner Arbeit bemüht sich Baustian schließlich, die Auswirkungen des système continental auf den Außenhandel Westphalens einzuschätzen. Der Autor verweist hier auf die schwierige Situation angesichts des sich verschärfenden Handelskriegs und betont die Zäsur des Jahres 1810, als Napoleon mit der Eingliederung Norddeutschlands sowie der Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck in den französischen Staat den Rheinbundstaaten alle regulären Zugänge zu Nord- und Ostsee versperrte. Zu den konkreten Auswirkungen der Handelsblockade auf die Gewerbe finden sich in der vorliegenden Studie allerdings nur wenige Hinweise, obwohl doch die regionalgeschichtliche Forschung in den letzten Jahrzehnten etwa die kurzfristige Scheinkonjunktur in den Leinengewerben des Königsreichs – von Baustian als „Nationalindustrie“ bezeichnet – angesichts der ausgesperrten englischen Konkurrenz im Jahr 1810 und der hierdurch verbesserten Absatzmöglichkeiten über die Warenmessen in Leipzig und Frankfurt am Main, aber auch den rapiden Konjunktureinbruch bereits im Sommer 1811 nach der konsequenten Abschottung des Landes, detailliert aufgearbeitet hat. Für Baustian hingegen schien in diesen Jahren „ein Handelsvertrag mit Frankreich der einzige Ausweg“ (S. 496). Statt der wirtschaftlichen Entwicklung in der Region nachzuspüren, referiert der Autor die Diskussionen um einen nie zustande gekommenen Handelsvertrag und um kleinere Handelsprivilegien und Zollreduktionen in ermüdender Ausführlichkeit.

In einem bilanzierenden Schlusskapitel, in dem der Autor die wirtschaftlichen Folgen für die verschiedenen Branchen diskutiert, sieht er vor allem verpasste Chancen: „Die durch das système continental Westphalen gebotene einmalige Chance, den Agrar- in einen Industriestaat zu verwandeln, wurde nicht genutzt. Die konservative, innovationsfeindliche Einstellung der Minister Bülow, Malchus und Wolffradt ist hierfür in hohem Umfang mitverantwortlich“ (S. 588).

Die Vielzahl fragwürdiger Urteile der vorliegenden Studie kann hier nicht im Einzelnen aufgearbeitet werden, erwähnt seien lediglich einige Motive: (1) Die Vorstellung, in den Jahren 1807 bis 1813 habe es irgendwo in Europa die Option einer Entwicklung hin zu einem „Industriestaat“ gegeben, ignoriert die Einsichten der wirtschaftshistorischen Forschung zur Periodisierung der Industrialisierung und zur Bedeutung des Zusammenspiels von agrarischer und gewerblicher Entwicklung. (2) Die von Baustian unterstellte Wirksamkeit einer staatlichen Zoll- und Subventionspolitik hätte jedem Kameralisten des 17. oder 18. Jahrhunderts gut angestanden, sie übersieht indes die begrenzte administrative Durchsetzungskraft des im Kern vormodernen Staates genauso wie sie seine finanzielle Leistungsfähigkeit mit einem Staatshaushalt am Rande des förmlichen Bankerotts überschätzt. (3) Wie soll man eigentlich die Souveränität des Königsreichs einschätzen, das 1807 durch Napoleons Gnaden zusammengestückelt wurde und dem 1810 auf einen Federstrich des Kaisers hin wieder etwa ein Drittel seines Staatsgebiets entrissen werden konnte? (4) Wenn der Autor die Bedeutung der Abschaffung der Zünfte im Königreich betont und unterstellt, hiermit sei „der Grundstock für den gewerblichen Aufschwung im Land gelegt“ (S. 202) worden, so zeigt sich hier ein mangelndes Verständnis der gewerblichen Produktionsverhältnisse der Zeit, waren doch die protoindustriellen Exportgewerbe, wie die Leinengewerbe der Region, gerade nicht in Zünften organisiert. Diese Liste ließe sich mühelos weiterführen – abschließend sei hier nur noch erwähnt, (5) dass dem Autor die ökonomischen Folgen der militärischen Auspressung des Landes durch Einquartierungen, Fouragedienste und Rekrutierungen bis zum Blutzoll, den die Bevölkerung im Russlandfeldzug zu leisten hatte, keinen eigenen Abschnitt wert sind.

Zu fragen bleibt, wie es zu dem befremdlichen Gesamtbild kommen konnte, das der Autor hier präsentiert. Zwei methodische Gründe seien genannt: Zum einen ist es frappierend, wie ignorant sich Baustian gegenüber der Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte verhält. Im knappen Literaturverzeichnis finden sich nur wenige der zahlreichen einschlägigen regional- oder wirtschaftshistorischen Studien.3 Die Folge sind fragwürdige Urteile im Detail und ein oftmals mangelndes Verständnis von historischen Zusammenhängen, die über die hier untersuchten sechs Jahre hinausreichen. Zum anderen bleibt der Autor – ohne eine entsprechende Absicherung durch die Forschungsliteratur – erkennbar ein Gefangener der von ihm ausgewerteten Quellen. Seinen Gewährsleuten, allesamt Akteure aus der Ministerialbürokratie, vertraut Baustian überwiegend unkritisch. Die naheliegende Frage, ob man in Kassel und in Paris die Verhältnisse vor Ort immer richtig einschätzen konnte, scheint sich Baustian allenfalls ausnahmsweise gestellt zu haben. Schon ein Blick in die Akten der Präfekten, Unterpräfekten oder der Mairien – ersatzweise in die diese Akten auswertende regionalgeschichtliche Literatur – hätte erwiesen, dass die Verhandlungen in den Ministerien nur ein Teil der Geschichte ausmachen.

Anmerkungen:
1 Helmut Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807–1813, Göttingen 1973, S. 109.
2 Vgl. etwa jüngst die Arbeit von Bärbel Sunderbrink, Revolutionäre Neuordnung auf Zeit. Gelebte Verfassungskultur im Königreich Westphalen. Das Beispiel Minden-Ravensberg 1807–1813, Paderborn 2015.
3 Wer sich ein Bild vom aktuellen wirtschaftshistorischen Diskussionsstand zur napoleonischen Zeit machen möchte, sei verwiesen auf den jüngst erschienenen Beitrag von Ulrich Pfister, Gewalt, institutionelle Schocks und Entwicklung. Wirtschaftliche Folgen der Koalitions- und napoleonischen Kriege (1792–1815) in Deutschland, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 107 (2020), S. 9–46.

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