Titel
Unruhige Zeiten. Politische und soziale Unruhen im Raum Essen 1916–1919


Autor(en)
Wisotzky, Klaus
Reihe
Veröffentlichungen des Hauses der Essener Geschichte/Stadtarchiv (1)
Erschienen
Münster 2019: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Schmitten, Centre Marc Bloch, Berlin

Mit dem langjährigen Leiter des Essener Stadtarchivs, Klaus Wisotzky, hat einer der profiliertesten Kenner der Geschichte Essens eine Studie zu den „unruhigen Zeiten“ von 1916 bis 1919 vorgelegt. Wisotzky verbindet seine Untersuchung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüche dieser Jahre mit einer ausführlichen Darstellung der Lebensverhältnisse der Essener (Arbeiter-)Bevölkerung in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit. Dafür stützt er sich neben Zeitungen und weiteren Quellen aus dem Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv vor allem auf Unterlagen aus dem Historischen Archiv der Firma Krupp, dem Bergbau-Archiv in Bochum und dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Ergänzend werden auch Akten aus dem Landeshauptarchiv Koblenz, dem Bundesarchiv sowie den Stadtarchiven Bochum und Recklinghausen herangezogen.

Wisotzky geht zunächst auf die Auswirkungen des Krieges auf die Essener Industrie und die von Hunger und Verarmung geprägte soziale Lage der Bevölkerung während der zweiten Kriegshälfte ein. Zu Protesten von Frauen aufgrund der unzureichenden Versorgung mit Lebensmitteln kam es bereits im Mai 1916 und Januar 1917. Diese verliefen jedoch noch friedlich. Im Juni 1917 hingegen kam es in Rellinghausen und Kray zu gewaltsamen Protesten mit Plünderungen; in Kray versuchte die Menge, ins Rathaus einzudringen (S. 17f.). Die Streiks während des Krieges sind Thema des zweiten Kapitels. Die hier exemplarisch abgedruckte Eingabe eines Arbeiters an die Direktion der Firma Krupp aus dem „Steckrübenwinter“ 1916/17 bietet einen beeindruckenden Einblick in die Lebenssituation und die Beschwerden der Belegschaft (S. 38). Hier, wie auch bei den Streiks der Bergarbeiter spielten Lebensmittelknappheit und -teuerung eine zentrale Rolle. Lebensmittelunruhen wie Streiks entzündeten sich dabei weniger an der Knappheit der Güter selbst als an ihrer ungleichen Verteilung (S. 53). Anders als in Berlin und anderen industriellen Zentren kam es im Januar 1918 in der Krupp’schen Gussstahlfabrik allerdings nicht zum massenhaften Streik. Als Gründe diskutiert Wisotzky hier unter anderem das Fehlen einer in der Belegschaft verankerten radikalen Gruppierung, den mäßigenden Einfluss der christlichen Gewerkschaften sowie der unternehmerfreundlichen „wirtschaftsfriedlichen Organisationen“, sowie die Werkspolitik der Firma Krupp (S. 65–74). Entscheidend für den Abbruch des Bergarbeiterstreiks im August 1918 war die Einberufung von über 500 Streikenden, darunter viele Gewerkschaftsfunktionäre, durch die Militärbehörde (S. 77).

Die nächsten Kapitel befassen sich mit der Novemberrevolution in Essen, der Zusammensetzung und den Tätigkeiten des Arbeiter- und Soldatenrates. Wie in anderen Großstädten verlief die Revolution auch in Essen friedlich. Auf die Rolle des aus Neuruppin stammenden Sanitätsunteroffiziers Fritz Baade, der am 8. und 9. November eher zufällig in eine Führungsrolle der revolutionären Bewegung in Essen hineinwuchs, geht der Autor ausführlich ein und kann hier die Darstellung der bisherigen Forschung korrigieren, die Baades Selbststilisierung als „Vorsitzender“ des Arbeiter- und Soldatenrates allzu unkritisch folgt (S. 91f., 102f.). Mit Baades Zitat von der „Aktion Ruhe und Ordnung“ hat Wisotzky das Kapitel zu den Tätigkeiten des Arbeiter- und Soldatenrates treffend überschrieben, sah der Rat seine Hauptaufgabe doch zunächst in der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung, um Lebensmittelversorgung und Wirtschaft im Gang zu halten und die Demobilmachung der Soldaten durchzuführen. Die Soldaten- und Volkswehr als Ordnungsorgane des Arbeiter- und Soldatenrates sind Thema des siebten Kapitels. Nach Auflösung der Volkswehr am 28. Februar 1919 durch General von Watter wurde eine neue, 600 Mann starke Sicherheitswehr gebildet, in die ausschließlich als politisch zuverlässig eingeschätzte Gewerkschafter aufgenommen wurden (S. 126).

Nach einer knappen Abhandlung der Ereignisse im Landkreis Essen im achten Kapitel stehen die Entwicklung der Parteien und die Wahlen 1919 im Zentrum des neunten Kapitels. Der Verfasser beschreibt hier auch die Reaktionen der verschiedenen Parteien auf die Einführung des Frauenwahlrechts und ihre Versuche, Frauen für ihre Anliegen zu mobilisieren. Aufschlussreich ist der Vergleich der Wahlergebnisse der Reichstagswahl 1912 und der Wahl zur Nationalversammlung 1919. Hier zeigt sich eine nahezu gleichbleibende Stimmenverteilung zwischen Zentrum, Bürgerblock und Arbeiterparteien, obwohl sich die Zusammensetzung der Wählerschaft durch das Frauenwahlrecht, die Herabsetzung des Wahlalters und den Bevölkerungszuwachs während des Krieges deutlich verändert hatte (S. 160). Bei den Kommunalwahlen vom 2. März 1919 wurde die Stadtverordnetenversammlung erstmals nach allgemeinem, gleichem und nicht nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht gewählt, was zu einer deutlichen Veränderung der Machtverhältnisse führte: Während die im „Nationalen Verein“ zusammengeschlossenen Nationalliberalen und Konservativen stark an Einfluss verloren, gewannen die Arbeiterparteien und besonders das zur „städtischen Verwaltungspartei“ (S. 170) aufsteigende Zentrum erheblich hinzu. Durch die auf den Listen von MSPD und USPD aufgestellten Arbeiter veränderte sich auch die soziale Zusammensetzung der Versammlung, in der die SPD bisher nur zwei Abgeordnete gestellt hatte. Noch größer als in Essen waren die Veränderungen in den nunmehr ausschließlich aus gewählten Mitgliedern bestehenden Gemeinderäten, in denen zuvor die Haus- und Grundbesitzer bestimmenden Einfluss gehabt hatten (S. 172).

Themen der folgenden Kapitel sind der Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft (Kapitel 10), die soziale Lage der Bevölkerung nach der Revolution (Kapitel 11) und der Mitgliederzuwachs der Gewerkschaften (Kapitel 12). Die großen Streikbewegungen im Bergbau in der unmittelbaren Nachkriegszeit sind ein weiterer Schwerpunkt der Studie (Kapitel 13 und 14). Bereits in den ersten Tagen nach dem politischen Umsturz war es immer wieder zu Arbeitsniederlegungen auf einzelnen Zechen gekommen. In den folgenden Monaten wurde dann vielfach gestreikt. Als im Januar wegen der ausbleibenden Kohlelieferung die Elektrizitätsversorgung zusammenzubrechen drohte, sah sich der Arbeiter- und Soldatenrat zum Handeln gezwungen und rief am 10. Januar die Sozialisierung aus, um den Streikenden Entgegenkommen zu signalisieren. Als ebenso wichtig für das Abbröckeln der Streikbewegung schätzt Wisotzky jedoch die am 9. Januar zugestandene Teuerungszulage ein (S. 231). Eine Umsetzung der von den Bergleuten geforderten Maßnahmen blieb jedoch aus. Nachdem im Februar 1919 viele Belegschaften nur auf Druck radikal linker Kräfte gestreikt hatten, folgten Anfang April zahlreiche Bergarbeiter den Streikaufrufen zur Durchsetzung der Sechsstundenschicht. Von den Gewerkschaften, die den Ausstand angesichts der wirtschaftlichen Notlage verurteilten, fühlten sich die Streikenden nicht mehr vertreten. Die Reichsregierung reagierte auf den Generalstreik mit der Verhängung des Belagerungszustands und der Entsendung von Truppen ins Ruhrgebiet, wobei vor allem das brutale Vorgehen des Freikorps Lichtschlag für Empörung sorgte.

Um Kontinuitäten und Brüche zwischen Kaiserreich und Republik noch präziser benennen zu können, wäre hier möglicherweise eine stärkere Einordnung in die Bergarbeiterstreiks der Vorkriegszeit hilfreich gewesen. So stellt sich etwa die Frage, inwiefern die Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und Streikbrechern/Arbeitswilligen beim großen Bergarbeiterstreik 1912 gewissermaßen Vorläufer für die 1918/19 unter den Bergmännern aufbrechenden Konfliktlinien waren, oder ob die Enttäuschung über das Ausbleiben einer sozialen und wirtschaftlichen Umgestaltung nach der politischen Revolution vom November und der wachsende Einfluss radikal linker, gewaltbereiter Gruppierungen zu einer gänzlich veränderten Dynamik geführt hatte. In anderen Ruhrgebietsstädten erlangten die Spartakisten größeren Einfluss, teilweise kam es zu kommunistischen Putschen. Eine so prägnante Herausarbeitung der Spezifika der Situation in Essen, wie der Autor sie im Vergleich mit Berlin immer wieder vornimmt, hätte man sich stellenweise auch auf regionaler Ebene gewünscht.

Klaus Wisotzky ist es mit dieser detail- und kenntnisreichen Studie gelungen, ein Desiderat der Essener Geschichtsschreibung zu füllen und an die Forschung zu anderen Ruhrgebietsstädten anzuschließen.1 Nicht zuletzt durch die abgedruckten Fotografien und Plakate dürfte der Band über das Fachpublikum hinaus auch die interessierte Öffentlichkeit ansprechen. Der Zugang zu den zahlreichen Streikaktionen wird durch das zusätzlich zum Personenregister enthaltene Verzeichnis der thematisierten Zechen und Firmen erleichtert. Auf weitere Bände der neuen Publikationsreihe des Hauses der Essener Geschichte, die hoffentlich auch die Rote Ruhrarmee und die französisch-belgische Besatzung thematisieren, darf man gespannt sein.

Anmerkung:
1 Verwiesen sei hier etwa auf Wilfried Reininghaus, Die Ruhrgebietsstädte Dortmund, Bochum und Gelsenkirchen in der Revolutionszeit 1918/19, in: Detlef Lehnert (Hrsg.), Revolution 1918/19 in Preußen. Großstadtwege in die Demokratiegründung, Berlin 2019, S. 249–308 sowie Karl-Peter Ellerbrock (Hrsg.), Erster Weltkrieg, Bürgerkrieg und Ruhrbesetzung. Dortmund und das Ruhrgebiet 1914/18–1924, Münster 2010.

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