K.A. Reinartz u.a. (Hrsg.): Das Kriegstagebuch des Albert Quinkert

Titel
Das Kriegstagebuch des Albert Quinkert (1914–1919).


Herausgeber
Reinartz, Karl Arnold; Rudolph, Karsten
Erschienen
Münster 2018: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Scheel, Lehrgebiet Geschichte der Europäischen Moderne, FernUniversität Hagen

Seitdem sich die Weltkriegsforschung ab den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen zuwandte, rückten neben den „traditionell von der Geschichtsforschung herangezogenen Tagebüchern [und Kriegserinnerungen] der militärischen und politischen Entscheidungsträger“ auch Ego-Dokumente „einfacher“ Kriegsteilnehmer/innen in den Blick1, – liefern diese doch Hinweise auf den Kriegsalltag und die (deutende) Kriegswahrnehmung von Personen, die Geschichte nicht geschrieben, aber maßgeblich erfahren haben. Umso erstaunlicher ist es, dass in den Jahren 2014 bis 2018, in denen sich zunächst der Ausbruch, dann die verlustreichen Schlachten und schließlich das Ende des Ersten Weltkrieges und die „Novemberrevolution“ zum hundertsten Mal jährten, zwar eine Vielzahl von Publikationen zur Geschichte des „Großen Krieges“ erschien, die Zahl der wissenschaftlich edierten Kriegstagebücher „einfacher“ Soldaten jedoch überaus überschaubar blieb. Wenn überhaupt wurden solche Diarien (oft auf Initiative der Nachfahren) über entsprechende Internetportale, seltener über kleinere Verlage zugänglich gemacht. Daher ist es ein großes Verdienst von Karl Arnold Reinartz, Experte für historische Themen mit Sauerland-Bezug, und des Bochumer Historikers Karsten Rudolph, mit dem Kriegstagebuch des Infanteristen Albert Quinkert (1896 bis 1976) eine Quelle wissenschaftlich erschlossen und ediert zu haben, die – in der Tradition einer „Militärgeschichte von unten“2 – Einblick in die Erfahrungs-, Gefühls- und Gedankenwelt eines Mannschaftssoldaten während dreier, überwiegend im Schützengraben verlebter Kriegsjahre gibt. Somit ist dieses Kriegstagebuch nicht allein für die historische Forschung wertvoll; es kann und soll, so Reinartz und Rudolph im Vorwort, als „authentische Lektüre für jeden Interessierten“ auch eine „möglichst große und nicht zuletzt jüngere Leserschaft direkt ansprechen“ (S. 8).

Albert Quinkert, Jahrgang 1896, war Spross einer kinderreichen Handwerkerfamilie katholischer Konfession aus dem sauerländischen Eslohe. Im nahegelegenen Schmallenberg erlernte er das Druckerhandwerk. Zwar übte Quinkert seinen Beruf nur kurze Zeit aus, durch ihn aber „wurde er im Krieg zum Lesenden und Schreibenden“ (S. 10). Den Kriegsausbruch im August 1914 erlebte Albert Quinkert in seiner sauerländischen Heimat. Wie Millionen seiner Landsleute war auch er der Überzeugung, Deutschland führe einen Verteidigungskrieg gegen „französische Revanchesucht, englische[n] Konkurrenzneid, russische[n] Chauvinismus“ (S. 25). Anders als viele seiner Schulfreunde meldete Quinkert sich aber nicht freiwillig. Erst Ende Dezember 1915, 19-jährig, wurde er gemustert und für kriegsverwendungsfähig befunden. Der in Charlottenburg absolvierten militärischen Grundausbildung bei einem preußischen Garde-Grenadier-Regiment folgte im Juni 1916 seine „Feuertaufe“ (S. 51ff.) im russischen Wolhynien. Ende November 1916 wurde Quinkerts Division an die Westfront verlegt. Dort nahm er – als Granatwerfer und später Maschinengewehrschütze stets in vorderster Linie – an den großen Materialschlachten, unter anderem um Verdun, an der Aisne, in der Champagne und in Französisch-Flandern teil. Dreimal wurde Quinkert verwundet, zuerst Mitte April 1917 in der Schlacht um Reims. Im Kriegslazarett Charleville halbwegs wiederhergestellt, schickte man ihn umgehend zurück an die Front. Nur ein halbes Jahr später überlebte Quinkert als Einziger seiner Kompanie schwerverletzt die Gefechte am Chemin des Dames. Erneut landete er „auf dem Umwege über die Garnison wieder in kurzer Zeit im Schützengraben“ (S. 353). Das Kriegsende, von dem Quinkert in einem Köthener Lazarett erfuhr, ersparte ihm ein ähnliches Schicksal nach einer Ende September 1918 in Nordfrankreich erlittenen Verwundung.

Sicherlich kann ein annähernd 700 Seiten umfassendes Tagebuch nicht im Schützengraben verfasst worden sein. Erst nach Ende des Krieges formulierte Quinkert die in Ruhezeiten oder Gefechtspausen festgehaltenen Notizen aus und schrieb sie ins Reine. Dass die Aufzeichnungen trotz der mit Blick auf mögliche nachträgliche Umdeutungen problematischen zeitlichen Distanz zwischen Erleben und Niederschreiben nicht an Authentizität verlieren, verdanken sie ihrem Entstehungskontext: Quinkert dachte zu keiner Zeit an eine Veröffentlichung des Tagebuchs; was er schrieb, schrieb er für sich. Es ging ihm nicht darum, für ein breites Publikum „Heldentaten und große Abenteuer zusammen zu lügen“ (S. 650). Das Schreiben war für Quinkert vielmehr „ein Überlebensmittel im Krieg“, im Anschluss diente das Tagebuch als ein „persönliche[r] Erinnerungsort, an den er danach jederzeit zurückkehren konnte“ (Klappentext).

So steht Albert Quinkerts Kriegstagebuch exemplarisch für die Kriegserfahrung zahlreicher „einfacher“ Soldaten seiner Generation und zeigt die Wandlung eines jungen Grenadiers, der im Frühling 1916 zwar nicht begeistert, aber mit „romantischen Einbildungen von Krieg und Heldentum“ (S. 612) auszog, zum erfahrenen Frontkämpfer. Ohne heroisches Pathos und vollkommen ungeschönt beschreibt Quinkert den durch Stellungskrieg und Materialschlacht geprägten Frontalltag: das stunden-, gar tagelange zermürbende Ausharren im massiven Trommelfeuer der feindlichen Artillerie, verlustreiche Sturmangriffe, die damit verbundene Konfrontation mit grauenhaften Verletzungen und dem oftmals qualvollen Tod der Kameraden. Gerade diese Schilderungen konterkarieren eindrucksvoll die zeitgenössisch-offizielle Lesart des Massensterbens als „Heldentod“ für das Vaterland. Angesichts der Allgegenwart aktiver und passiver Gewalterfahrung emotional zunehmend abgestumpft, doch wiederholt den Krieg verfluchend, versuchte Quinkert zu keiner Zeit, dem Schützengraben durch Desertion oder Selbstverstümmelung zu entkommen.

Was aber nährte seine Durchhaltebereitschaft? Zunächst sollte ein Krieg auf deutschem Boden und dessen fatale Konsequenzen für Bevölkerung und Landschaft unbedingt verhindert werden: „Wehe dem Lande, das die Bühne hergeben muss für das große Kriegstheater“, notierte er im März 1917 unter dem Eindruck der Zerstörung Reims durch deutschen Artilleriebeschuss (S. 189). Doch mit fortdauernder Kriegszeit wurde Quinkert die Heimat immer fremder. Bei seinen seltenen Heimatbesuchen schien ihm der Alltag der Zivilisten nichtig; über die furchtbaren Kriegserlebnisse konnte und wollte er mit Daheimgebliebenen nicht sprechen. Umso wichtiger wurde Quinkert die Kameradschaft, „das unbedenkliche Einsetzen des eigenen Ichs, um einen andern zu retten, […] den man vorher nie gekannt“ (S. 612). Damit steckt er auch die Grenzen der propagierten „Frontgemeinschaft“ ab: Denn verraten fühlten sich gewöhnliche junge Frontkämpfer wie Albert Quinkert nicht allein von Reklamierten, „Drückebergern“, „Kapitalisten“ und „Kriegslieferanten“ (S. 145) in der Heimat, sondern auch von „Etappenschweinen“ (S. 146) oder verantwortungslos handelnden Frontoffizieren. Insbesondere Juden zählt Quinkert zum erstgenannten Personenkreis. Hier treten seine antisemitischen Dispositionen deutlich zu Tage: Wann immer von Juden die Rede ist, werden sie als feige, schmutzig, auf ihren Vorteil bedacht beschrieben. Auch die Schuld für die deutsche Niederlage schreibt Quinkert „Verrätern“ in der Heimat zu. Hier zeigt sich bereits die für die erste deutsche Republik so unheilvolle Legende vom Dolchstoß. Letztlich wurde die Kriegskameradschaft für Quinkert zum einzig gültigen Maßstab. Nach 1918 mythisch überhöht, bot diese vielschichtige „Deutungskategorie“, um mit Thomas Kühne zu sprechen, vermeintliche Lösungsangebote angesichts der gesellschaftlichen Verwerfungen der Weimarer Republik, bevor sie im Nationalsozialismus zum „offiziellen Ordnungsprinzip“ erhoben wurde.3

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass diese repräsentative und historiografisch aussagekräftige Quelle bedeutsam ist für die Lehre und Forschung, aber auch für ein breiteres interessiertes Publikum, trägt sie doch maßgeblich dazu bei, heutigen Rezipient/innen die Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918 näherzubringen. Darüber hinaus erlaubt sie einen profunden Einblick in die Denkweise und Perspektive einer sich um ihre Jugend betrogen fühlenden Generation, die glaubte, in einem sinnlosen Krieg umsonst geopfert worden zu sein, und ihren Platz im zivilen Leben suchte: „Was soll das werden, wenn der Krieg zu Ende ist und alle diese blut- und mordgewohnten Männer mit den versteinerten Herzen kehren in die Heimat zurück?“, fragte sich Quinkert schließlich: „Werden da nicht mehr neue Zuchthäuser wie neue Kirchen gebaut werden müssen!“ (S. 237)

Anmerkungen:
1 Irina Renz, „Die Toten bleiben jung“. Ego-Dokumente in der Lebensdokumentensammlung der Bibliothek für Zeitgeschichte, in: Portal Militärgeschichte, 3. März 2015, http://portal-militaergeschichte.de/renz_egodokumente (20.08.2020).
2 Zur „Militärgeschichte von unten“ vgl. Wolfram Wette (Hrsg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992.
3 Vgl. Thomas Kühne, Kameradschaft, in: Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2014, S. 602–603.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension