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Titel
Allied Internment Camps in Occupied Germany. Extrajudicial Detention in the Name of Denazification, 1945–1950


Autor(en)
Beattie, Andrew H.
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 248 S.
Preis
£ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Franziska Landau, Gedenkstätte Buchenwald

Ein „Stiefkind der Forschung“ nannte Lutz Niethammer 1998 die Geschichte alliierter Internierungslager nach dem Sieg über Nazi-Deutschland. Zwar liegen Studien für einzelne Besatzungszonen und Lager vor, es fehle insbesondere der systematische Vergleich der alliierten Internierungspolitik und -praxis.1 Diesen Vergleich zieht nun der Historiker Andrew H. Beattie (Sydney) in einem konsistent argumentierenden Band. Er vergleicht nicht nur die Internierungspolitik der Alliierten in Deutschland, sondern bezieht die alliierte Politik in Österreich mit ein. Dabei räumt er mit einigen allzu bequemen Annahmen und Fehlinterpretationen der bisherigen Forschung auf. Drei analytische Unschärfen stellt er auf den Prüfstand:

Zum Ersten werde auch jenseits des Kalten Kriegs die sowjetische Politik häufig „exotisiert“. Der sowjetischen werde das ahistorische Bild einer idealtypischen „westlichen Politik“ gegenübergestellt, ohne beide in ihre historischen – hier interalliierten – Zusammenhänge einzuordnen. Zum Zweiten problematisiert Beattie Unschärfen in der Verwendung des Begriffs „Entnazifizierung“: Dieser umfasse zum einen aus der Gegenwart an die Vergangenheit gerichtete Erwartungen an eine allgemeine Entfernung nationalsozialistischer Strukturen aus der Gesellschaft, zum anderen konkrete Maßnahmen der Alliierten zur politischen Säuberung. Aus dem engeren Verständnis des Begriffs „Entnazifizierung“ jedoch, das sich vor allem auf die Prozeduren der Spruchkammern oder Spruchgerichte, die Entlassungen, Fragebögen etc. konzentriert habe, falle die Internierung weitgehend heraus. Dieser eng gefasste Entnazifizierungsbegriff habe wiederum zu der Fehlannahme geführt, dass Internierungen per se nichts mit der Entfernung des Nationalsozialismus aus der deutschen Gesellschaft zu tun gehabt hätten – ein Argument, das in Bezug auf die sowjetischen Speziallager besonders hervorgehoben worden sei.

Die dritte von Beattie kritisierte Unschärfe betrifft die Internierungspolitik selbst: Da die Internierung meist in einen direkten und ursächlichen Bezug mit der Verfolgung und Verurteilung von NS-Verbrechen gesetzt werde, würden ihre eigentlichen Ziele verdeckt: Internierung nach dem Zweiten Weltkrieg lasse sich, so Beattie, primär als eine präventive Maßnahme der Alliierten verstehen, die durch die Neutralisierung potentiell gefährlicher Personengruppen die Sicherheit der Besatzungstruppen gewährleisten sollte. Dieser Befund durchzieht gleichsam als „cantus firmus“ das gesamte Buch. Weitere gemeinsame Ziele kämen hinzu: die Rekrutierung von Arbeitskräften (ein Anliegen nicht nur von sowjetischer, sondern auch von britischer und französischer Seite), politischer Gesellschaftsumbau (ebenfalls von allen Alliierten in unterschiedlicher Weise mit der Internierung verbunden), Entnazifizierung (im weiteren Sinne) und die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen.

Alle diese mit der Internierung verbundenen Ziele seien von den Alliierten lange vor Ende des Zweiten Weltkriegs diskutiert worden. Dabei sei die Internierung in erster Linie als eine eigenständige, sicherheitspolitische Maßnahme verstanden worden, wie Beattie in den Quellen zur European Advisory Commission oder der Alliierten Kontrollkommission nachweist. Diese Gemeinsamkeiten seien bislang vernachlässigt worden. Gleichzeitig bestätigt Beattie die großen Unterschiede in der Internierungspraxis, die sich vor allem im Laufe des Jahres 1946 immer deutlicher abzeichneten: in der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medizin, der Gewährung von Kontakten mit der Außenwelt, den Versuchen der Umerziehung und der Vorbereitung auf ein Leben in Freiheit. Die sowjetischen Lager hoben sich auf drastische Weise von den übrigen Internierungslagern ab: Den Insassen blieb jeglicher Kontakt mit der Außenwelt versagt, sie litten unter Beschäftigungslosigkeit und hatten keine Möglichkeit, sich zu äußern oder zu verteidigen. Sie wurden nur unzureichend ernährt und medizinisch versorgt, die Sterblichkeit war erschreckend hoch (zwischen 25 und 33 Prozent).

Wer wurde interniert und für wie lange? Beattie trägt akribisch die bislang zugänglichen Zahlen zusammen und bestätigt die bisher bekannte Größenordnung von über 400.000 Menschen; in allen Zonen waren dies zu zwei Dritteln Männer zwischen 40 und 60 Jahren. In den Westzonen dauerte die Internierung häufig länger als angenommen, so befanden sich im August 1947 noch 44.000 Menschen in amerikanischer Internierung. Der größte Teil der ca. 280.000 Internierten in den Westzonen wurde bis Ende 1948 entlassen. In der sowjetischen Besatzungszone mit insgesamt etwa 130.000 internierten Deutschen wurden im Sommer 1948 etwa 28.000 Personen entlassen, 43.000 verstarben in Haft, 15.000 blieben bis 1950 und 14.000 darüber hinaus in Haft. Im Hinblick auf den internierten Personenkreis widerspricht Beattie Annahmen, die auch in Überblicksdarstellungen zur deutschen Geschichte genannt werden: Etwa, dass in sowjetischen Lagern überdurchschnittlich viele Fabrikbesitzer und Bürgerliche einsaßen (nein, nur etwa 2 Prozent, bei 30 Prozent Arbeitern) oder „more Social Democrats than Nazi leaders“2 – dies gelte nur, wenn man unter „Nazi leaders“ ausschließlich Funktionäre der Gau- und Reichsebene verstünde (S. 118). Die Westmächte hätten sich keineswegs nur auf die „Kerntruppen des Dritten Reichs“ konzentriert und überwiegend SS-Mitglieder interniert (S. 132f.; etwa ein Drittel bis ein Viertel). In allen Zonen seien mehr Parteifunktionäre der unteren als der oberen Ebene interniert worden, was auch der pyramidalen Struktur der NSDAP entsprach.

Beattie diskutiert umfänglich die umstrittene Frage nach der Belastung der Internierten: Es seien, so Beattie, die ursprünglich geltenden Kriterien der Alliierten anzuwenden, die im Nürnberger Prozess alle Ränge der SS sowie alle politischen Leiter der NSDAP, einschließlich der Block- und Zellenleiter, in die Anklage aufgenommen, im Urteilsspruch vom Oktober 1946 allerdings die lokalen Funktionäre unterhalb der Ebene der Ortsgruppenleiter ausgeschlossen hatten. Die unteren, unbezahlten Funktionäre hätten jedoch als das „Fundament der Diktatur“ zu gelten – so Carl-Wilhelm Reibel 2002 in seiner Studie zu den NSDAP-Ortsgruppen: In den lokalen NSDAP-Stellen wurden Haushaltungskarteien geführt, Denunziationen angenommen und weitergeleitet, die Verfolgung deutscher Juden und politischer Gegner umgesetzt, „Fremdarbeiter“ überwacht und Menschen für den „Volkssturm“ rekrutiert.3 Diese letzte Funktion erscheint auch im Kontext einer sicherheitspolitisch motivierten Internierung relevant. Die sowjetische Besatzungsmacht – mit der Bedeutung lokaler Parteistrukturen aus eigener Praxis vertraut – schätzte die unteren Parteifunktionäre als gefährlich ein und internierte sie in großer Zahl. Da es in der sowjetischen Zone keine Entlassungsstrategie gab, resultierte aus diesem Faktum eine doppelte Tragik: Diese Gruppe wäre zum großen Teil in den Westzonen nicht interniert worden – in der SBZ überlebte fast jeder Zweite aus dieser Gruppe die Haft nicht.

In weiten Teilen liest sich Beatties Buch als kritischer Kommentar zu jüngeren Darstellungen der Geschichte sowjetischer Speziallager.4 Anders als dort behauptet, seien die Internierten zu ihrer NS-Vergangenheit befragt und entsprechend kategorisiert worden; es seien Akten angelegt und viele Internierte an sowjetische oder deutsche Gerichten übergeben worden – auch wenn hier keinesfalls von fairen Verfahren die Rede sein kann (S. 91f.).5 Es sei zwar richtig, dass über Entlassungen aus sowjetischen Lagern danach entschieden wurde, ob die Internierten eine Gefahr für die Sicherheit der Besatzungsmächte darstellten, aber die westlichen Besatzungsmächte hätten sich angesichts eines grundsätzlichen Misstrauens gegenüber den Deutschen die gleiche Frage gestellt. Internierung sei Beattie zufolge nicht als Untersuchungshaft für potentielle Kriegsverbrecher zu verstehen, sondern eine im Kontext des Kriegsendes präventiv gedachte Absicherung der Besatzungsherrschaft aller Alliierten. Bei der Betonung interalliierter Gemeinsamkeiten geraten jedoch manchmal die Besonderheiten aus dem Blick, etwa in der Parallelisierung der Legal Branch der britischen Militärregierung, ab April 1946 zuständig für britische Internierungslager, mit dem sowjetischen Innenministerium MWD und dessen Unterabteilung Gulag, zuständig für die sowjetischen Speziallager ab 1948 (S. 159).

Dies ist ein notwendiges Buch, das Gemeinsamkeiten und Unterschiede gesamtalliierter Internierungspolitik auf einer breiten Quellenbasis nüchtern und gründlich herausarbeitet und eine sachliche Grundlage schafft, auf der weiter zu forschen ist: über die in der Kriegs- und Nachkriegszeit entstandene Kooperation der Alliierten in Fragen der Internierung und bei der Verurteilung von NS-Verbrechen wie auch über die Grenzen dieser Kooperation. Wenn die sowjetischen Lager begrifflich als „stalinistische Internierungslager“ am besten zu fassen und von den westalliierten Internierungslagern nicht zu trennen, aber doch zu unterscheiden sind, so bleibt ihr unmenschlicher
Charakter doch weiterhin konkret zu benennen. Eine breite Wahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit – auch mittels einer deutschen Übersetzung – ist dem Buch zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Lutz Niethammer, Alliierte Internierungslager in Deutschland seit 1945. Vergleich und offene Fragen, in: Sergej Mironenko u.a. (Hrsg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland, Bd. 1: Studien und Berichte, Berlin 1998, S. 97–116; zuletzt zur amerikanischen Besatzungszone: Kathrin Meyer, Entnazifizierung von Frauen. Die Internierungslager in der US-Zone Deutschlands 1945–1952, Berlin 2004.
2 Stefan-Ludwig Hoffmann, Germany Is No More. Defeat, Occupation, and the Postwar Order, in: Helmut Walser Smith (Hrsg.), The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford 2011, S. 602.
3 Carl-Wilhelm Reibel, Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen 1932–1945, Paderborn 2002.
4 Bettina Greiner, Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland, Hamburg 2010 [englische Ausgabe: Suppressed Terror. History and Perception of Soviet Special Camps in Germany, Lanham 2014]; Ulrich Merten, The Gulag in East Germany. Soviet Special Camps, 1945–1950, Amherst 2018. Zu Letzterem finden sich auch zahlreiche Richtigstellungen der aufgeführten Zahlenangaben.
5 Siehe auch Andreas Weigelt u.a. (Hrsg.), Todesurteile sowjetischer Militärtribunale gegen Deutsche (1944–1947). Eine historisch-biographische Studie, Göttingen 2015.