A. Rifeser: Frömmigkeitskultur der Maria Hueber (1653–1705) und der Tiroler Tertiarinnen

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Titel
Die Frömmigkeitskultur der Maria Hueber (1653–1705) und der Tiroler Tertiarinnen. Institutionelle Prozesse, kommunikative Verflechtungen und spirituelle Praktiken


Autor(en)
Rifeser, Sr. Anna Elisabeth
Reihe
Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 172
Erschienen
Münster 2019: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
XVI, 759 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele Jancke, Friedrich Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Das Thema dieser Studie ist ein dreifaches: ein Mädchenschulprojekt, ein religiöses Projekt gemeinschaftlichen Lebens und die Biographie der Einzelperson, die dabei eine zentrale Rolle spielte. Von der Makro- bis zur Mikroebene wird eine so genaue geschlechtergeschichtliche Rekonstruktion vorgenommen, dass sich diese Gründerfigur aus verengten hagiographischen Geschichtsbildern herauslösen und in die Kontexte der frühneuzeitlichen Gesellschaft wieder hineinstellen lässt. In Bezug auf Personen wie Institutionen verfolgt die Verfasserin einen methodisch konsequent umgesetzten Verflechtungsansatz, der über enge person- oder hausbezogene Ansätze der Forschung hinausreicht. Die Arbeit lässt sich als biographische Studie zu einer „starken“ Frau lesen, die erst in den wechselseitigen Verflechtungen von Institutionen, Netzwerken und Praktiken als Person in Kontexten erschließbar ist.

Die umfangreiche kirchenhistorische Dissertation von Anna Elisabeth Rifeser beruht auf gründlich neu recherchierter Quellenbasis, die gegenüber bisherigen Arbeiten maßgeblich erweitert ist und so auch zu neuen Ergebnissen führt. Mit Maria Hueber stellt die Studie eine ehemalige Dienstmagd in den Mittelpunkt. Hueber setzte zusammen mit anderen Frauen und einem Netzwerk von zum Teil adligen Unterstützerinnen um 1700 in Brixen die Etablierung einer Mädchenschule ohne Schulgeld durch – eine für den Tiroler Raum wegweisende Pionierleistung. Institutionell und personell war dieses innovative Schulprojekt in eine Gemeinschaft von franziskanischen Tertiarinnen eingebunden, die ebenfalls von Hueber und einigen anderen gegründet wurde. Die Kommunität hatte für die Gründerinnen zwei Zwecke: Erstens sollte sie das Schulprojekt betreiben. Das hieß sowohl dessen Finanzierung durch eigene Erwerbsarbeiten der Schwestern sicherzustellen als auch die für den Unterricht nötigen Lehrkräfte anzuwerben. Denn die Gründungsmitglieder der Gemeinschaft waren zwar überzeugt von der Wichtigkeit ihres Mädchenschulprojektes, verfügten aber nicht auch über die Qualifikation zum Unterrichten dieser Kompetenzen. Zweitens sollte die Kommunität durch die Einbindung in den franziskanischen Ordensverband auch ihnen selbst etwas Grundlegendes bieten, nämlich den Raum für eine strukturierte religiöse Lebensweise. Ein zentraler Teil dieser persönlichen Lebensvorstellungen waren ungestörte Rückzugsräume der Schwestern für individuelle religiöse Praktiken kontemplativer Art. Eine vita activa wurde von ihnen mit einer vita contemplativa in ein- und derselben institutionalisierten Lebensform verbunden – etwas, was in den Strukturen der nachtridentinischen Kirche für Frauen nicht vorgesehen war. Auch von den zuständigen franziskanischen Beichtvätern als den vorgesetzten Aufsichts- und Leitungspersonen wurde dies nur sehr bedingt unterstützt.

Maria Hueber und ihre Kolleginnen setzten bei der institutionellen Form des Drittordens an, wodurch sie als sogenannte Semireligiosen eingestuft wurden. Dieser kirchenrechtlich fixierten institutionellen Logik zufolge wurden sie nicht dem lebenslangen geistlichen Stand zugerechnet. Zugleich entwickelten sie eigene Vorstellungen davon, wie diese institutionelle Struktur für ihre Zwecke auszugestalten und weiter zu entwickeln sei. Sie sahen diesen Einstieg als einen Ausgangs- und nicht als den für sie maßgeblichen Endpunkt. So wollten sie sich einerseits zwar einer klösterlichen Lebensweise annähern, die für Frauen in aller Regel strenge Klausurierung und Kontrolle bedeutete. Andererseits wollten sie aber auch die für den Schulbetrieb nötige Offenheit des Hauses und die Bewegungsfreiheit seiner Mitglieder bewahren. Die Elemente eines kontemplativen religiösen Lebens waren ihnen so wichtig, dass sie dafür viele Konflikte um ihre Kleidung, um das Ablegen von lebenslangen Gelübden und um die genaue Ausgestaltung von Klausurelementen auf sich nahmen. Für lange Zeit ergab sich daraus eine Gratwanderung, bei der die Tertiarinnen sich eine für sie passende institutionelle Form erkämpfen mussten, so dass ihre beiden Anliegen zum Zuge kommen konnten. Für andere Akteure ging es hingegen in der Logik einer institutionell vorgegebenen Zwangsläufigkeit lediglich um ein Entweder-Oder, bei dem die beiden Anliegen als unvereinbar erschienen und nur gegeneinander ausgespielt werden konnten.

Das Anliegen der Frauen bestand darin, eine Dienstleistung für die Bevölkerung der Stadt zu kombinieren mit eigenen Vorstellungen davon, wie sie leben wollten. Lesen und Schreiben wurden – wie auch in anderen Schulen – mit Religionsunterricht verbunden. Durch die Vermittlung dieser kulturellen Kerntechniken sollten Schülerinnen auch aus den niedrigeren und finanziell schwächeren sozialen Schichten im Feld der kulturellen Leitgröße Religion eigene Orientierungsmöglichkeiten aufbauen können. Zugleich wollten die Schwestern ihr persönliches Lebensprojekt in der gefundenen institutionellen Form auch transgenerational verfügbar machen. Es mussten also die Voraussetzungen geschaffen werden, diese Lebensform über die Lebenszeit der Gründungspersonen hinaus dauerhaft realisieren zu können.

Hier befanden sich auch diese Frauen, die als Einzelpersonen sowie als Gruppe und als Netzwerk „stark“ waren und „stark“ agierten, in einer strukturellen Position relativer „Schwäche“. Das zeigte sich in den jahrelangen Kämpfen um die beabsichtigte Gründung ebenso wie in den anschließenden Kämpfen um die Integration klosterähnlicher Elemente in eine auch nach außen offene Institution. Schließlich manifestierte sich diese Position struktureller Schwäche auch in der Frage der Deutungshoheit über die Gründungsgeschichte und die Gründungspersonen. Diese nämlich wurde nach dem Tod Maria Huebers von den franziskanischen Beichtvätern und ihren männlichen Ordenskollegen beansprucht. Die von ihnen entwickelten und schriftlich tradierten Geschichtskonstruktionen bestimmten und bestimmen seit dem 18. Jahrhundert maßgeblich das Geschichtsbild der späteren Generationen, innerhalb und außerhalb der wissenschaftlichen Darstellungen.

Mit Rifesers gründlicher und reflektierter Arbeit wird diese Geschichte erstmals in ihrer ganzen Reichweite und in ihrer Verflechtung in die frühneuzeitlichen Verhältnisse rekonstruiert. In einem einleitenden Teil werden Fragestellung, Methoden, Quellen und Ziele vorgestellt und insbesondere die weibliche Frömmigkeitskultur der Frühen Neuzeit auf der Basis von Religiosität und Mystik diskutiert. Ein erster Teil über institutionelle Prozesse befasst sich mit den Tiroler Tertiarinnen und ihrem kontemplativen Ideal. Dazu gehören auch die rechtlichen und institutionellen Konflikte, die sich daraus ergaben, dass kontemplative Elemente für Tertiarinnen in der Ordensstruktur nicht vorgesehen waren. Im zweiten Teil geht es um kommunikative Verflechtungen. Hier werden „Matronage“, Ressourcennutzung und Machtkompetenzen im Freundeskreis Maria Huebers untersucht. Dem in der Forschung üblichen Begriff der „Patronage“ mit seiner Betonung männlicher Akteure stellt die Verfasserin den selbst geprägten Terminus der „Matronage“ zur Seite, um die thematisierten Netzwerke unter Frauen auch begrifflich präziser fassen zu können – eine wichtige Anregung für die weitere Forschung. Im dritten Teil schließlich werden am Beispiel der Jesuskind-Statue als Objekt individuellen Besitzes spirituelle Praktiken untersucht. Die persönlichen Praktiken der Tertiarinnen im Rahmen ihrer Frömmigkeitskultur werden als eine Erweiterung für die Handlungsräume der strukturell und institutionell Schwachen beschrieben und mit Hilfe der Individualitäts-Konzepte von Michel de Certeau analysiert. Im Anhang finden sich ausführliches Bildmaterial, eine biographische Dokumentation der Tiroler Tertiarinnen, eine Bibliographie und ein Personenregister. Die Studie arbeitet (a) mit einem kulturwissenschaftlich-praxeologischen und (b) mit einem beziehungs- und netzwerkorientierten Ansatz sowie (c) mit einer komplexen Kontextualisierung. Durch diese methodologisch-theoretische Orientierung am aktuellen Stand der Geschichtswissenschaft lässt sich, wie die Untersuchung beispielhaft zeigt, Religion als eine akteur/innenbezogene, verflochtene Größe frühneuzeitlicher Gesellschaften in neuen Dimensionen sichtbar machen.

Das Potential dieser Arbeit liegt nicht zuletzt darin, den biographischen Blick auf Hueber mit einer geschlechtergeschichtlich differenzierten, strukturellen und transgenerationalen Tiefendimension zu versehen. Mit dem konsequent verfolgten Verflechtungsansatz lässt sich die Stoßkraft der Akteurinnen zusammen mit der Reichweite der Probleme analysieren: individuelle Räume innerhalb einer religiösen Institution zu schaffen und mit einer Dienstleistung für andere zu verbinden. Deutlich werden sowohl die Grenzen als auch die Möglichkeiten weiblicher Akteurinnen, sich institutionell gerahmte und stabilisierte Räume nach eigenen Vorstellungen zu schaffen und diese auch an die nächste Generation weiterzugeben. Es liegt damit ein wichtiger Baustein zu der Frage vor, wie in der Frühen Neuzeit die Leistungen und Impulse von Frauen über ihre eigene Lebensspanne hinaus wirksam gemacht und zum Ausgangspunkt einer Tradition werden konnten – und welche Gefahren dann durch institutionelle und historiographische Verformungen drohten. Die wichtigen Überlegungen etwa zu Matronage oder zu Individualität im Kloster verdienen es, noch eigens in Aufsätzen entfaltet und genauer diskutiert zu werden.

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