Titel
Landpacht, Marktgesellschaft und agrarische Entwicklung. Fünf Adelsgüter zwischen Rhein und Weser, 16. bis 19. Jahrhundert


Autor(en)
Bracht, Johannes; Pfister, Ulrich
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte 247
Erschienen
Stuttgart 2019: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Juri Auderset, Departement für Zeitgeschichte, Universität Fribourg / Archiv für Agrargeschichte, Bern

In seinem Buch „The Great Transformation“ hat Karl Polanyi die These vertreten, dass der Boden im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzung hin zu einer Marktwirtschaft zu einer „fiktiven Ware“ erklärt wurde. Der „fiktive“ Charakter lag für Polanyi darin begründet, dass für den Boden zwar durchaus Marktmechanismen implementiert wurden, dass er aber auch immer etwas anderes war als eine schlichte „Ware“, die zum Zweck des Verkaufs „produziert“ wird. Für die Nahrungsmittelproduzent/innen war der Boden viel mehr eine zu pflegende und kultivierende (Re-)Produktionsgrundlage als eine schlichte „Ware“ oder ein „Standort“. Gerade für die Landwirtschaft wurde damit das „Fiktive“ an der „Warenfiktion“ besonders eklatant, was mit ein Grund sein dürfte, dass sich unter anderem auch am Boden jene „Doppelbewegung“ zwischen expansiver Marktlogik und der Einschränkung eben dieser Marktdynamik entzündete, die Polanyi als „das bedeutendste Merkmal der Geschichte dieses Zeitalters“ ansah.1

Mit einer spezifischen Variante dieses spannungs- und konfliktreichen Prozesses setzt sich das hier anzuzeigende Buch von Johannes Bracht und Ulrich Pfister auseinander, nämlich mit der Landpacht. Die Studie untersucht auf der Quellengrundlage des Verwaltungsschriftguts von fünf Adelsgütern im Gebiet Westfalens nördlich der Lippe und am Niederrhein die Entwicklung der Pachtverhältnisse zwischen dem späten 16. und dem 19. Jahrhundert. Gleichsam durch die Linse der Pachtverhältnisse auf diesen Gütern schaut die Studie zudem auf breitere Entwicklungsmuster der ländlichen Gesellschaft und der Landwirtschaft und liefert damit auch einen Beitrag zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Übergang von der Frühen Neuzeit ins 19. Jahrhundert. Obwohl Bracht und Pfister konzedieren, dass ihr Untersuchungsraum hinsichtlich der Verbreitung der Landpacht „alles andere als typisch für deutsche Verhältnisse“ sei (S. 287), formulieren sie doch umfassende Erkenntnisansprüche für drei mit der Geschichte der Pachtverhältnisse verknüpfte Vorgänge, die für den Untersuchungszeitraum von besonderer Bedeutung sind:

Erstens interessieren sich die beiden Autoren dafür, inwiefern die historische Analyse der Pachtverhältnisse Aufschlüsse über die Entfaltung einer – wie die Autoren es nennen –„Marktgesellschaft“ geben kann. Die Veränderungen der Pachtbeziehungen spiegeln sich zu einem gewissen Grad in einem ausgeprägten institutionellen Wandel, der um 1800 besonders hervortrat und von den Verfassern als Teil der Durchsetzung einer „Marktgesellschaft“ interpretiert wird. Pachtbeziehungen unterlagen einem Prozess der Formalisierung und Bürokratisierung, der sich in einer zunehmend detaillierteren Regulierung der Pachtbedingungen ausdrückte. Angaben über Dauer, Zahltermine und das Ende von Pachtverhältnissen, Nutzungsvorschriften und Auflagen, Sicherheits- und Grenzbestimmungen sowie Nebenkosten und Steuern ersetzten nun die, so die Annahme, weitgehend formlosen und wenig differenzierten Pachtbeziehungen der Vergangenheit. Parallel dazu beobachten die Autoren die Prozesse einer Entkoppelung bisher verketteter Marktbeziehungen für die Miete von Pachtland, Arbeit und Agrarprodukte sowie der schleichenden Erosion paternalistischer Verhältnisse. Dass Pachten um 1800 vermehrt durch Versteigerung an den Meistbietenden vergeben wurden und die Pachtkonditionen nach Ablauf des Vertrags explizit neuverhandelt wurden, lasse sich als „Strategie der Entflechtung und Entbettung“ interpretieren, „die auf eine von sozialen Rücksichten freien Maximierung der Einnahmen der Rentei abzielten“ (S. 127).

Zweitens überprüfen Bracht und Pfister an ihrem Quellenmaterial bisherige Thesen der Forschung zur Rolle des Bodens in der landwirtschaftlichen Produktion und der Agrarentwicklung im Übergang von der Frühen Neuzeit ins 19. Jahrhundert. Dabei revidieren und differenzieren sie insbesondere die auf David Ricardo zurückgehende, zugleich aber auch in der neueren agrarhistorischen Literatur nachhallende Theorie der Bodenrente, wonach die Bodeneigentümer in Pachtverhältnissen den Reinertrag abschöpften. Während Bracht und Pfister dies in ihren Quellen zur Frühen Neuzeit mehrheitlich bestätigt finden, zeigt sich im Kontext der ersten Agrarmodernisierung im frühen 19. Jahrhundert ein anderes Bild. Ganzjährliche Stallhaltung, die systematische Ausbringung von organischem Dünger, die Steigerung des Futterbaus und die Entwicklung der Viehwirtschaft, die Ausdehnung der kultivierten Ackerfläche und der vermehrte Hackbau wirkten insgesamt im Sinne einer Sorgfaltsintensivierung und einer Arbeitsvermehrung, gingen aber gerade deshalb auch mit einem Wandel der Verantwortlichkeitsstruktur einher und wirkten damit auf die sozialen Beziehungsgefüge zwischen Eigentümern und Pächtern zurück: Diese agrarischen Innovationen wurden mehrheitlich nicht von jenen implementiert, die das Land verpachteten, sondern von jenen, die das Land pachteten um es zu bearbeiten. Die Risiken lagen damit vermehrt bei den Pächtern, aber auch die Früchte dieser neuen Praktiken fielen nicht mehr primär den Landeigentümern zu, sondern den Familienbetrieben, die das Land bebauten.

Drittens analysieren Bracht und Pfister die Effekte dieser Veränderungen auf die Bedeutung des Einkommens aus Landeigentum für die sozialen Eliten und den Staat. Ihre Untersuchung der Veränderungen der Pachtzinse und ihres Zusammenhangs mit der Einkommensentwicklung unterstreicht einerseits die bis ins frühe 19. Jahrhundert anhaltende Bedeutung des Einkommens aus Landeigentum für die adeligen Eliten und ihre Lebensführung sowie für Territorialherrschaften, die aus der Verpachtung von Domänenbesitz entsprechende Staatseinnahmen generierten. Andererseits lassen sich auch in diesem Bereich zunächst im Zuge der Agrarmodernisierung um 1800 und dann in verstärktem Maße im Kontext der Globalisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts deutliche Umbrüche konstatieren, die eine Verschiebung der faktoriellen Einkommensverteilung von Boden auf Arbeit, eine verstärktes Verantwortungsbewusstsein des Nationalstaats für Agrar- und Ernährungsfragen, aber insgesamt auch ein Bedeutungsverlust des Landeigentums als Einkommensquelle für die sozialen Eliten und den Staat zur Folge hatten.

Die Studie schildert diese langfristigen Entwicklungen der Pachtverhältnisse auf überzeugende und anschauliche Art und Weise und lässt insbesondere die Zeit um 1800 als tiefgreifende Umbruchphase erscheinen. Die systematische Verklammerung der Analyse von Pachtverträgen und Pachtzinsen mit den übergeordneten Fragen nach der Entfaltung einer „Marktgesellschaft“, der Agrarmodernisierung und der sich wandelnden Bedeutung des Landeigentums als Einkommensquelle für die adeligen Eliten und den Staat integriert die Detailerkenntnisse der empirischen Quellenarbeit eindrücklich in das grössere Bild der langfristigen Agrarentwicklung in Deutschland. Anlass zu kritischem Nachfragen gibt demgegenüber die manchmal etwas unbekümmerte Begriffsverwendung. So bleibt unklar, was die beiden Autoren eigentlich unter ihrem erkenntnisleitenden Begriff der „Marktgesellschaft“ verstehen und es drängt sich bei der Lektüre zuweilen die Vermutung auf, dass sie den Begriff kurzerhand zur Beschreibung einer historischen Realität verwenden, während er zumindest bei Polanyi mit guten Gründen eher als handlungsleitende Zukunftsvorstellung denn als empirische Gegebenheit gedacht war. Vielleicht etwas langatmig geraten sind die Kapitel zu den Methodenfragen, die zwar die aufwendige Forschungsarbeit und den mühevollen Weg von einzelnen Pachtbuchungen in den Rechnungsbüchern der Adelsgüter zu langen Reihen aggregierter Pachtzinsen eindrucksvoll dokumentieren und damit Einblicke in die Entstehung der Datengrundlage und die damit verbundenen methodischen Herausforderungen erlauben. Doch führt die Platzierung in der Gesamtstruktur der Studie und der beträchtliche Umfang dieser Kapitel dazu, dass von den empirischen Problemkonstellationen eher weggeführt wird und die übergeordnete Argumentationsdynamik etwas zerfasert. Das ausgesprochene Interesse der Autoren an den strukturellen Veränderungen der Landpacht, die vorzüglich herausgearbeitet werden, hat zudem zur Folge, dass man relativ wenig erfährt über die in der Institution der Landpacht miteinander verbundenen Akteure und die Kooperations- und Konfliktträchtigkeit dieser Verhältnisse. Wie Pächter und Verpächter die Institution der Landpacht erfuhren und interpretierten, wie sie deren Wandel beurteilten und wie sie die mit diesem Wandel einhergehenden, asymmetrisch geöffneten wie auch begrenzten Handlungschancen nutzten – darüber erfährt man wenig. Insbesondere die interessante These, wonach die agrarischen Modernisierungsbestrebungen um 1800 für die Pachtfamilien arbeitsvermehrend, aber zugleich auch verantwortungsbildend und damit auch handlungsaktivierend gewirkt haben, lädt gerade wegen der damit verbundenen Ambivalenz dazu ein, die Sichtweisen der Akteure künftig stärker zu berücksichtigen. Damit leistet das Buch, was man von einem guten geschichtswissenschaftlichen Buch erwartet: Es liefert neue Einsichten und Erkenntnisse und öffnet zugleich auch neue Fragehorizonte für die zukünftige Forschung.

Anmerkung:
1 Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt am Main 1978 (Original 1944), S. 102–112.

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