Die geschichtswissenschaftliche Forschung beschäftigt sich seit einigen Jahren immer intensiver mit dem Thema Zeit. Nach einer langen Phase der kritischen Dekonstruktion des Raumes scheint die Zeit der Zeit(-kritik) gekommen zu sein. Wurde der sogenannte „spatial turn“ immer wieder als Reaktion auf das gefühlte Verschwinden des Raumes im Zuge der radikalen Zunahme der Globalisierung gedeutet, so bietet eine parallele sowie teilweise gegensätzliche Gefühlslage eine Erklärung des gegenwärtigen Interesses für die Kategorie Zeit. Der Glaube an den Fortschritt ging verloren und mit ihm an eine lineare auf die Zukunft gerichtete Zeit. Die Zeittheoretiker:innen halten dies für den zentralen Wendepunkt zwischen Moderne und Postmoderne. Dementsprechend tragen die meisten der neuesten Geschichtsstudien über die Temporalität(en) zur Entblößung des konstruierten Charakters nicht nur der Zeit im Allgemeinen bei, sondern insbesondere des Zeitlichkeitsregimes der Moderne, das mit dem Fortschrittsbegriff so eng verbunden ist.
Das aus ihrer Dissertation entstandene Buch „Zeitort Archiv“ von Sina Steglich lässt sich einerseits dieser neuen Forschungsrichtung zuordnen, mit der Steglich das dekonstruktivistische Ziel ausdrücklich teilt (S. 18). Andererseits überschreitet das Buch mit seiner Fokussierung auf die historische Zeit sowie auf das Archiv als den zentralen Ort von deren (Re-)Produktion um das Fin de Siècle den thematischen Horizont der gegenwärtigen Zeit-Forschung in zweierlei Hinsicht. Erstens ist die historische Zeit jener Untersuchungsgegenstand, mit dem Reinhart Koselleck bereits Ende der 1970er-Jahre die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Zeit-Geschichte eingeleitet hat, der aber heute, wie auch Steglich selber erklärt (S. 377), vom Interesse für globale Phänomene der Zeitsynchronisierung überschattet zu werden scheint.1 Aus Sicht einer Forscherin der historischen Zeit, als die ich mich verstehe, ist daher Steglichs dezidierte Schwerpunktsetzung darauf sehr begrüßenswert; allein das trägt schon zur wissenschaftlichen Relevanz des Buches bei. Zweitens reichen die theoretischen Referenzen des Buches viel weiter zurück als die gegenwärtige geschichtswissenschaftliche Debatte. Steglich schöpft für den Ausbau ihres theoretisch-analytischen Instrumentariums nicht nur aus den Arbeiten von Koselleck und vor allem Michel Foucault. Sie setzt sich auch mit der reichen Tradition der Geschichtsphilosophie und der Kritik der Moderne – von Hegel bis zur Problematisierung der Zeit und Moderne um die Jahrhundertwende – ausführlich auseinander. Der Kern sowie eine unbestreitbare Stärke ihres Ansatzes bestehen gerade darin, die klassische westliche Ideen-(und Begriffs-)geschichte der Kategorie Zeit in Zusammenhang sowohl mit der Institution Archiv und den damit verbundenen Praktiken der Zeitgestaltung als auch mit den in der heutigen Forschung analysierten ökonomischen, technischen, wissenschaftlichen und sozialen Prozessen der Denaturalisierung, Beschleunigung, Standardisierung und Diversifizierung der Zeiten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu bringen.
In ihrer anspruchsvollen Einleitung (Kapitel 1 und 2) definiert Steglich das Archiv, die durch den deutschen Historismus propagierte Vorstellung der historischen Zeit und die (Kultur- und Zeit-)Krise des Fin de Siècle als das „Koordinatensystem“ (S. 23), das den theoretisch-thematischen Perimeter ihrer Studie eingrenzt. Steglich möchte keine Geschichte einzelner Archive schreiben. Vielmehr analysiert sie die Idee des Archivs als solche in England, Frankreich und dem deutschen Kaiserreich zwischen 1860 und 1920. Eines ihrer Argumente, mit dem sie die Wahl des Untersuchungszeitraumes begründet – nämlich das einer umfassenden „Temporalisierung qua Historisierung“, die erst nach der Sattelzeit stattgefunden habe (S. 70) –, wird durch die Studie überzeugend untermauert. Es bleibt hingegen offen, ob die Charakterisierung dieses gesamten Untersuchungszeitraumes als historischer Moment, in dem durchgehend „die Zeit selbst als problematisch erachtet wurde“ (S. 31), wirklich so gemeint ist und trägt. Denn Steglich beschreibt eigentlich eine Hochkonjunktur und die zentrale Bedeutung der (Re-)Produktion historischer Zeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die erst nach 1900 durch die Entobjektivierung bzw. Relativierung der Zeit und die mit der Erfahrung des Ersten Weltkrieges auftretenden Zweifel am Fortschritt (Kapitel 8.1 und 8.2) in die Krise geriet. Der abschließende Befund des Buches, dass diese Zeitkrise keine Zäsur in den temporalen Vorstellungen des Archivs dargestellt habe, und die These der dadurch erklärbaren Abkopplung zwischen inner- und außerarchivischer Zeit und die zunehmende Unzeitgemäßheit der Archive in den folgenden Jahrzehnten (Kapitel 8.3) lässt ungeklärt, inwieweit sich die Diagnose der Problematisierung der Zeit in der Tat auch auf den Zeitraum vor der Jahrhundertwende bezieht.
Wie das Archiv als Institution, Idee und Praxis an einer solchen Hochkonjunktur der Zeitproduktion mitgewirkt hat, zeigen die thematisch gegliederten Kapitel 3 bis 7. Hier werden (in dieser Reihenfolge) die Gesetze zur Regulierung der Zugänglichkeit der Archive, die Gestaltung der Archivgebäude mit der Verwaltung der Räumlichkeiten, die Organisationsprinzipien der Archivalien, die Archivistik als sich profilierende Wissenschaft sowie das Phänomen der Archivausstellungen untersucht und nach ihrer Funktion befragt, die historische Zeit zu konstruieren und zu gestalten. Diesbezüglich kommt Steglich zu anregenden Schlussfolgerungen, die Licht auf die Mechanismen der Konstruktion und „Autorisierung“ (S. 101) der historischen Zeit werfen. So habe beispielsweise die in Kapitel 3 erörterte Umgestaltung des Archivs im Dienst der historiographischen Forschung zur Konzipierung der drei Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als sinnstiftendes historisches Kontinuum maßgeblich beigetragen. Denn die zur Archivierung auserwählten Dokumente verloren zwar ihre aktuelle politische Relevanz, konnten aber von Historiker:innen als Quellen wiederverwertet werden. Damit gewannen sie entscheidenden Einfluss auf die Prägung zukünftiger Vergangenheitsvorstellungen. Verwandelte eine derartige Politik der Öffnung hin zur Geschichtswissenschaft das Archiv in einen zentralen „Mittler zwischen den Zeitebenen“ (S. 117), so ermöglichte der gleichzeitige Übergang von der Pertinenz zur Provenienz als Ordnungsprinzip des Archivmaterials eine Synthese zwischen zwei Grundvorstellungen der historischen Zeit: die Zeit als „leere“ lineare Pfeile und die Zeit als „verkörperte“ Entwicklung historischer Subjekte (Kapitel 5).2 Die Idee des Archivs als ein natürlich wachsender Organismus, die mit dem Provenienzprinzip freigesetzt wurde, legitimierte die abstrakte Idee der historischen Zeit und machte sie in ihrer Linearität, Gerichtetheit und Authentizität erfahrbar.
Die vielen inspirierenden Überlegungen und Thesen, die Steglich in ihrem Buch formuliert, ergeben ein kohärentes Bild von der Konstruktion der historischen Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts. Durch eine ausgeprägtere Reflexion über die Reichweite und die Grenzen der Aussagekraft der eigenen Quellen bzw. über die zentrale Positionalität und den hegemonialen Charakter der ausgewählten Perspektive hätte dieses Bild allerdings an Differenziertheit noch gewonnen. Die Idee des Archivs, die sich aus den analysierten Schriften der (ausschließlich männlichen) Spitzenvertreter der primär deutsch-, aber auch englisch- und französischsprachigen Historiographie, Geschichtsphilosophie und Archivistik der Zeit entnehmen lässt, wird nämlich nicht nur etwas pauschal als europäisch deklariert, sondern bleibt vor allem in ihrem Anspruch auf Deutungshoheit bezüglich des Phänomens der historischen Zeit unhinterfragt. Durch ihren analytischen Zugang kann Steglich in beeindruckender Weise die klassische Geschichte des westlichen historischen Denkens durch jene des Archivs bereichern und hinsichtlich der Konstruktionsweise der historischen Zeit untersuchen. Das geschieht aber mitunter auf Kosten von Fragen nach räumlichen Unterschieden, nach der Vielfältigkeit der Rezeptions- und Aneignungsweisen oder nach Widersprüchen zwischen der ideellen Ebene und den verschiedenen Ebenen der archivalischen Praxis, die gerade die hermetische Kohärenz des Buches nuanciert hätte.
Eine Auseinandersetzung mit solchen Fragen hätte auch den Blick für eine Differenzierung der nachvollziehbaren, aber in ihrer Absolutheit wiederum anfechtbaren Grundannahme des Buches über das exklusive Verhältnis zwischen dem Archiv bzw. der historischen Zeit und dem Nationalstaat bzw. der Nation freigegeben. Ist die Alleinstellung des Staates als historisches Agens der im Medium des Archivs gestalteten historischen Zeit nicht zu negieren, wirkt jene der Nation a priori festgesetzt, ohne dass sie sich ausreichend durch die Analyse bestätigen lässt. Die Hervorhebung des nationalen Charakters der historischen Zeit lässt einerseits die imperiale Dimension des britischen, französischen sowie deutschen Staates (und Archivs) unbeachtet. Sie führt Steglich aber auch dazu, die Funktion der historischen Zeit primär in der „Möglichkeit der nationalen Distinktion“ (S. 27) zu identifizieren und dabei den modernen Imperativ einer Synchronisierung aller zur Historizität strebenden Subjekte mit der Fortschrittszeit einer idealisierten europäischen Entwicklung zu verblenden. Diese abschließenden etwas kritischeren Bemerkungen zielen jedoch in keiner Weise darauf, die hervorragende Leistung von Steglich und den Wert des Buches zu schmälern. Vielmehr sollen sie zu einer Debatte über die verschiedenen Ansätze zur Untersuchung der historischen Zeit anregen, die ihren (westlich) eurozentrischen, ihren kolonialen, aber eben auch ihren nationalen und identitätsstiftenden Charakter immer im Blick hat.
Anmerkungen:
1 Prominente Ausnahmen im deutschsprachigen Kontext bilden vor allem die Studien von Achim Landwehr und Fernando Esposito, die sich allerdings eher mit der früh- bzw. postmodernen Zeitlichkeit befassen. Beide waren in die Dissertation von Steglich involviert – der eine als Betreuer und der andere als wichtiger Gesprächspartner (S. 381–383).
2 Lucian Hölscher, Von leeren und gefüllten Zeiten. Zum Wandel historischer Zeitkonzepte seit dem 18. Jahrhundert, in: Alexander Geppert / Till Kössler (Hrsg.), Obsession der Gegenwart, Zeit im 20. Jahrhundert (Sonderheft von Geschichte und Gesellschaft), Göttingen 2015, S. 37–70.