M. Köster u.a. (Hrsg.): Researching History Education

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Titel
Researching History Education. International Perspectives and Disciplinary Traditions


Herausgeber
Köster, Manuel; Thünemann, Holger; Zülsdorf-Kersting, Meik
Reihe
Geschichtsunterricht erforschen
Erschienen
Frankfurt am Main 2019: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
343 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michele Barricelli, Didaktik der Geschichte und Public History, Ludwig-Maximilians-Universität München

Empirische Forschung hat in der Geschichtsdidaktik keine lange oder vielgestaltige Tradition. Das liegt an Einigem, unter anderem an der nach wie vor ungelösten Frage, ob man etwas so Fragiles und Unbestimmtes wie „Historisches Lernen“ – das eben nicht nur Produkt von Bildung, sondern genauso kulturelle Praxis ist – überhaupt klar beschreiben, messen, einschätzen kann oder soll.1 Nichtsdestoweniger zeigt sich gerade in geschichtsdidaktischen Qualifikationsarbeiten der ungeheure Fortschritt, den das Fach in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere durch Anschluss an die methodologischen Diskurse zu verzeichnen hat. Längst beherrscht man auch den sophistizierten Slang von, zum Beispiel, Instrumentenentwicklung, Konstruktvalidität, Perspektiventriangulation, dekonstruiert zumal im qualitativ-rekonstruktiven Prozess beständig sich selbst, seine Verfahren und Interessenlagen und ist sogar bereit, in nun schon älteren Routinen wie Repräsentativität oder Zielgruppenorientierung tendenziell rassistische, mindestens marginalisierende Potenziale zu erkennen (wohl auch weil diese grundsätzlich jeder Art formaler Bildung innewohnen).

Kaum aber ist man sich hierzulande in der Disziplin über gewisse Standardisierungen der Problembearbeitung klar geworden, macht sich die nächste Not am Forschungshimmel bemerkbar: Schon die engsten Nachbarn und noch mehr die etwas ferneren verstehen unter Geschichtslernen und Geschichtsbewusstsein oder historischer Bildung offenbar etwas ziemlich Anderes als man selbst, nutzen eigene Begriffe auf abweichenden Handlungsfeldern und verfolgen durchaus urwüchsige Ziele („multifaceted and [differing] around the world“ heißt das im Band, S. 6). Dementsprechend unterschiedlich sehen die Forschungsansätze und Forschungspraxen hüben wie drüben aus. Schon von daher ist es ein großes Verdienst, dass sich die drei Herausgeber Manuel Köster, Holger Thünemann und Meik Zülsdorf-Kersting – allesamt selbst erfahrene Empiriker – einer Art Bestandsaufnahme von internationalen Forschungsansätzen, variierenden Erkenntnisfragen, methodischen Zugängen im Feld der „History Education“ annehmen und dazu eine nicht kleine Zahl international meist renommierter Forscher/innen einladen, welche sich zu den jeweiligen „Empirical Attempts at Mapping Historical Thinking and Learning“ äußern, wobei sie sozusagen als Vertreterin/innen einer präsumtiven nationalen Forschungskultur sprechen bzw. das zumindest sollen.

Das Ergebnis des Bemühens um Vielfalt ist ein durchgehend englischsprachiger Sammelband, der nun bereits in einer zweiten, vollständig überarbeiteten und aktualisierten Auflage vorliegt (wobei hier von der Nachverfolgung der Aktualisierungen abgesehen werden soll). Das Werk enthält, was nicht überraschen kann, eine Fülle von systematischen Hinsichten, theoretischen Rahmungen, Resultaten penibler Kleinarbeit, dazu erstaunliche, vergnügliche oder deplorable Anekdoten, lädt im guten Sinn zum Nach-Denken ein (auch um zumindest für sich selbst die losen Enden des disziplinären Diskurses zusammenzuknüpfen) und wirft, was wahrscheinlich ein gutes Zeichen ist, nicht selten auf die fachunabhängigen Grundfragen wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens zurück: Was sollen und können wir untersuchen, wenn wir eingestehen, dass jedes Wissen immer nur eine Funktion unserer Fragestellungen, der angewandten Methoden sowie gesetzter Relevanzen ist und alle genannten Voraussetzungen wiederum in uneinholbarem Maße kulturell imprägniert sind?

Die Erträge der Artikel können hier weder resümiert noch gewürdigt werden (schon weil sie selbst Synthesen aus reichhaltigen Fachliteraturen darstellen). Der Erkenntnisfortschritt liegt zweifellos in der Vertiefung von Disziplingeschichten, einer Erörterung des schwankenden Bildungswertes und der politischen Bedeutung von Geschichte im Erziehungsprozess sowie dem Versuch einer generalisierbaren Sicht auf methodische Regime (vor allem in Bezug auf empirische Labor- wie Feldforschung) sowie grundsätzlich in der kritischen Würdigung von Internationalisierung und Diversifizierung von Geschichtsdidaktik als Disziplin, und zwar auch dort, wo sie nominell oder institutionell gar nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße besteht oder wo sie personell auf wenige Einzelkämpfer/innen begrenzt bleibt oder wo sie unter dem Dach anderer Disziplinen (wie der Psychologie) betrieben wird. Genau betrachtet, ist diese Nicht-ganz-vollständige-Existenz sogar bei quasi allen im Band gemusterten Ländern außer den deutschsprachigen der Fall. Letzteres mag die Ursache dafür sein, dass der Grundlagenbeitrag zu „German Research on History Education“ (von Sebastian Bracke, Colin Flaving, Manuel Köster, Meik Zülsdorf-Kersting) der längste, systematischste und differenzierteste des gesamten Bandes mit dem umfassendsten Anspruch bleibt.

Ein nicht geringer Teil des fachlichen Gewinns bald für Spezialist/innen, bald für Lehrkräfte liegt bereits in den regelmäßig ausgedehnten Literaturlisten („References“), welche die Beiträge beschließen und offensichtlich von den Autor/innen wie Herausgebern gut kuratiert wurden. Mit allein 14 klein bedruckten Seiten nimmt sich die deutsche Sicht allerdings ein wenig pompös aus. Statistiker/innen hätten zumindest ihre Freude daran festzustellen, welche Titel oder Namen quer über die Länderschwerpunkte („areas of research“, S. 11) immer wieder, verschiedentlich oder doch nur einmal erscheinen, um so das Best-Of einer internationalen geschichtsdidaktischen Forschung (die es der Sache nach nicht gibt) sozusagen arithmetisch zu erstellen. Jörn Rüsen, Peter Seixas, Peter Lee und Bodo von Borries gehören wohl dazu. Denn sie bilden das, was man als Rückgrat einer Theorie, Methodik und, vor allem, Philosophie von „History Education“ anzunehmen bereit ist, wobei sich die Komponenten selbstverständlich gegenseitig informieren und korrigieren: Weder das ohnehin schon diffuse deutsche Konzept vom Geschichtsbewusstsein noch das kanadische „Historical Thinking Project“ noch die britischen Second-Order Ideas noch das narrativistische Paradigma des Geschichtslernens haben die letzten Jahren so überstanden, wie sie einmal in die Welt gesetzt worden waren. Aus der Perspektive einer nie abgeschlossenen, nie sicheren oder völlig überzeugenden Wissenschaft ist das wahrscheinlich ein positiver Befund; anwendungsnahe Praktiker/innen, die auf wenigstens in definierten Situationen und Zeiträumen belastbare Befunde angewiesen sind, werden eher aufstöhnen.

Trotz der objektiven Lesevorzüge ist der Gewinn des Unternehmens aber doch teuer erkauft. Denn nicht zu spät setzt, subjektiv, Ermüdung ein: So sieht und misst man also in Deutschland, Österreich oder der Schweiz historisches Lernen, so sind also die Ansätze in Frankreich, Großbritannien und Nord-Amerika. Ist das Zufall oder hat es Methode? In einem von Geschichte besessenen Land wie Polen (Beitrag von Violetta Julkowska) stehen „the different forms of transition of historical knowledge from popular works and literature to journalism, art and science […] at the center of interest“ (S. 169). In einer von der Geschichte und Geschichtsvermittlung eher enttäuschten Nation wie Frankreich (Beitrag von Nicole Tutiaux-Guillon und Didier Cariou) scheint sich zwar jüngst in der Schule eine historische Bildung zu entwickeln, welche, im Verein vor allem mit sozialpsychologischen Ansätzen, die „social requirements“ des Geschichtslernens insofern ernst nimmt, als sie Wissen danach bewertet, was „efficient for acting“ sei (S. 264). Aber die Dominanz einer „scholarly history“, auf der anderen, nämlich erinnerungskulturellen Seite, bleibt ungebrochen. Die Schweiz (Beitrag von Peter Gautschi) zerfällt in sieben verschiedene, von den Sprachunterschieden sowie topographischen Großlagen gebildete Bildungsregionen (S. 121), die nicht nur unterschiedliche Forschungstraditionen, sondern auch recht eigene Vorstellungen von „historical thinking“ oder „historical consciousness“ besitzen, dabei aber wenigstens harmonisch ko-agieren. Aus Kanada dagegen (Beitrag von Penney Clark) erreicht uns der Klimabericht („History Education Research Climate“, S. 91), dass sich der anglophone Teil im Geschichtsunterricht zunehmend durch die in der Schule fortdauernd zu wenig repräsentierten Erzählungen der First Nations bzw. Native People herausgefordert sieht, während man sich in Québec nach wie vor selbst zu den Unterdrückten zählt, weshalb in Anbetracht dieser „rather melancholic destiny“ (S. 99) kaum Platz für andere zu kurz kommende Minderheiten bleibt. Da verwundert es auch nicht mehr, dass in Kanada kaum je ein inklusives Schulbuchprojekt von englisch- und französischsprachigen Historiker/innen in Angriff genommen wurde (S. 106), was wiederum den Blick auf die hierzulande fast schon traditionsreichen beispielsweise deutsch-französischen oder deutsch-polnischen Kommissionen nochmals zum Guten verändert: Für deren mühevoll den bornierten historischen Nationaldiskursen abgerungenen Agreements wird man zukünftig umso dankbarer sein (unabhängig davon, ob letztere jemals praktische Relevanz erlangen werden).

Es bleibt natürlich richtig, dass wir es bei diesem wie ähnlichen Vorhaben der Bestandsaufnahme geschichtsdidaktischer bzw. „geschichtspädagogischer“ Forschung im diachronen Entwicklungs- wie synchronen Verteilungssinn der Sache nach mit einer Addition zu tun haben; manches hat man sicher schon anderswo in einschlägigen Handbüchern gelesen oder meint dies zumindest, weil jüngere Studien frühere im Prinzip replizieren oder die Resultate sich ohnehin meist gleichen („Defizite“ bei Lehrenden und Lernenden, fehlende Grundlagen für Theorie und Methodik, Widerstreit zwischen dem realistisch und dem idealistisch Erwartbaren etc.). Es wurde anderenorts bereits gefordert (die Herausgeber weisen freundlicherweise selbst auf die Kritik hin, S. 5f.), dass man bei Synopsen wie der vorliegenden den Autor/innen mehr Vorgaben machen bzw. auf deren striktere Einhaltung achten sollte. Das Ergebnis wäre aber womöglich doch nur ein weiterer steriler Schematismus. So oder so wird sich niemand, weil sie/er möglicherweise erstmals (obwohl lange bekannt) in einem derart konstruierten Zusammenhang von den Vorzügen eines Begriffs wie „historical reasoning“ in den Niederlanden (Beitrag von Carla Van Boxtel) oder „disciplinary literacy in history“ (Beitrag von Esko Nikander und Arja Virta zu Finnland) liest, vorschnell bekehren bzw. als Forscher/in von den eigenen geliebten underlying assumptions abbringen lassen. Eher schon kommt der Wunsch auf, zu erfahren, wie es sich in der wirklichen epistemologischen Ferne verhält, wo man nicht nur Begrifflichkeiten ziseliert – in der Hoffnung, echte Alterität möge unsere Forschungsroutinen irritieren: Welches Geschichtsbewusstsein und welche History Education legt zum Beispiel die autoritäre Führung Chinas ihren über eine Milliarde Untertanen auf, um sie, einheitlich „gebildet“, bei dem in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts noch unentschiedenen Kampf der politischen und wirtschaftlichen Systemkonkurrenz zum Sieg zu führen, und wie gelangt die Geschichtspolitik eines sich zunehmend autoritär gebärdenden Russland mit seiner Stalin-Verehrung in die Köpfe der jungen Menschen, welche die Ideen der Elite zur Entfaltung bringen sollen? Immerhin gibt es in vergleichbar angelegten Sammelbänden schon etwas zu erfahren, wie und womit Staaten Afrikas, nach wie vor im Zuge der globalen Neuorientierung unterrepräsentiert, ihr eigenes historisches Beet beackern, das bitte bald eine weniger eurozentrische Bezeichnung als „post-kolonial“ für sich finden möge.2

Für zukünftige und weiterführende Projekte ähnlich komparativer Art wäre, neben der Horizonterweiterung, vielleicht eine verstärkte Problemorientierung ratsam, so wie sie in diesem Band in Bezug auf Lateinamerika und Spanien (Beitrag von Mario Carretero und Everardo Perez-Manjurez) bereits anklingt: Dort wird konstatiert, dass selbst verfeinerte, transkulturell vergleichende Forschungsmethoden am thematischen Beispiel der Kolonisierung Amerikas durch die Europäer leider nur erbringen, dass die „mere transmission“ einer pädagogischen, historisch-kritischen Erzählung im Klassenraum meist nicht gelingt, da die „master narrative, and normative discourses“ im Sinne eines „broader sociocultural settings“ (S. 84) immer schon vorhanden sind und sich selbst mit den besten Absichten kaum vertreiben lassen. Zur Erforschung von History Education, soll diese sich nicht nur auf formelle bzw. institutionelle Vorgänge beziehen, gehört also außer dem Blick auf Schule, Unterricht, Lehrerbildung (in dem Band überraschend stark vertreten) auch eine Theorie zum Verlangen nach einer bestimmten Geschichte und der Erlaubnis, den störenden Rest vergessen zu dürfen. Insofern wird eine dritte Auflage des Werks auch die gerade erst zaghaft aufkeimenden Forschungsprojekte aufnehmen dürfen, die ein dezidiert partizipatives und interaktives Design besitzen, bei denen also Hypothesen, Erhebung, Auswertung unter gleichberechtigter Beteiligung aller Forschungspartner/innen entwickelt und über den Prozess hinweg immer neu ausgeformt werden.

In diesem Sinne könnten die Herausgeber dann auch dem vagen Konzept von „Education“ etwas mehr Beachtung schenken, denn jedes „Lehren“ oder „Anerziehen“, heißt ja etwas Anderes vergessen zu machen und ist mithin in Machtstrukturen eingelassen. Noch bleibt nämlich die Hauptfrage aller schulischen Erziehung bzw. Bildung (was zumindest hier mit „Education“ gemeint ist) throughout ein wenig unterbelichtet: Besuchen Millionen Schüler/innen nun verpflichtend die Unterrichtsanstalten und werden Milliarden Euro, Franken, Zloty, Pfund, Dollar in ein Bildungssystem investiert, um die jungen Menschen in eine Gemeinschaft „hineinzubilden“, welche sich durch im Ganzen abgesicherte Werte und Wissensbestände auszeichnet, die folglich von den Heranwachsenden zu affirmieren sind? Oder ist das Gegenteil der Fall, indem derjenige der beste Geschichtsunterricht ist, der sich, da er auf die Negierung aller Vorstellung von Gewissheit und Verbindlichkeit ausgeht, in der Tendenz selbst in Frage stellt?

Die immer wieder gern gelesene Episode, die diesmal von Sam Wineburg und Abby Reisman „from American Shores“ (S. 342) sozusagen poetisch referiert wird, über die fast völlige Ahnungslosigkeit („bleak“, „dismal“, [S. 346]) junger US-Amerikaner/innen bei large-scale-Befragungen im Jahr 1916 und später unverändert in Bezug auf die Grunddaten „ihrer“ Geschichte könnte ja auch als ein Akt von Widerstand interpretiert werden, als eine Entgegenhaltung etwa der Art: Ihr versucht ständig, uns etwas beizubringen, dessen Sinn wir nicht einsehen oder genauer: dessen Ansinnen wir ablehnen. Und genau deswegen, um das Argument besser zu bilden, wäre es vermutlich wünschenswert, geschichtsdidaktische Forschung oder Theorien von History Education würden, um auf den oben angedeuteten Rassismusverdacht von Bildung zurückzukommen, (neben allem Anderen) Instrumente entwickeln, welche Kriterien liefern für die dann überprüfbare Beantwortung jener sich aktuell aufdrängenden, aber offenbar bislang unentschiedenen Frage danach, ob der Sturz der Denkmäler von Kolonisatoren, Sklavenhaltern, Vordenkern für Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie, Misogynie – selbst bei separaten Leistungen auf dem Gebiet von Gesellschaftstheorie und Wohlfahrt – eigentlich eine geschichtsvergessene oder besonders geschichtsbewusste Tat ist.

Anmerkungen:
1 Zuletzt Michele Barricelli, Von der Theorie zur Empirie und zurück – Drei Vorschläge für den Weg, in: Monika Waldis / Béatrice Ziegler (Hrsg.), Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 17. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 17“, Bern 2019, S. 24–40.
2 Nadine Fink / Markus Furrer / Peter Gautschi (Hrsg.), The Teaching of the History of One’s Own Country. International Experiences in a Comparative Perspective, Frankfurt am Main 2020, mit einem Beispiel zu Kamerun.

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