F. Kuschel: Sicherheit als Versprechen

Titel
Sicherheit als Versprechen. Verkehrsregulierung und Unfallprävention in der DDR


Autor(en)
Kuschel, Franziska
Reihe
Veröffentlichungen zur Geschichte der deutschen Innenministerien nach 1945 4
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Heit, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Seit einigen Jahren erfreuen sich Fragen der Sicherheit in der historischen Forschung zunehmender Beliebtheit.1 Der rezensierte Band ergänzt den Forschungsstand um einen ebenso quellengesättigten wie anregenden Beitrag und untersucht die „Konstruktion und Herstellung von Ordnung und Sicherheit im Straßenverkehr“ (S. 9) der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und frühen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Im Vordergrund der Studie stehen Fragen nach Faktoren und Prozessen der Verkehrssicherheitspolitik, nach der Steuerbarkeit des Verkehrs- und Unfallgeschehens sowie den Grenzen sicherheitspolitischer Eingriffe. Als zentraler Akteur wird das Ostberliner Ministerium des Innern (MdI) beleuchtet, wobei die Autorin die Bedeutung personeller und rechtlicher Kontinuitäten nach 1945 hervorhebt. Ebenfalls betont wird die Einbettung der SBZ/DDR in den internationalen Kontext, in dem vor allem die Bundesrepublik als Vergleichsfolie für Entwicklungen in der Verkehrssicherheit diente.

Die Studie ist abseits von Einleitung und Fazit in drei Teile gegliedert. Auf das Kapitel „Sicherheitsvorstellungen und Akteure“ (S. 14–41), das sich mit der Konzeption von Sicherheit und den daraus resultierenden Zuständigkeiten befasst, folgt mit „Sicherheitsproduktion und Praxis“ (S. 42–148) der umfangreichste Teil, in dem die Autorin Praktiken wie Kriminalisierung, Regulierung und Erziehung analysiert. Das dritte Kapitel, „Sicherheitskontrolle und Kommunikation“ (S. 149–220), widmet sich der Öffentlichkeitsarbeit und Vorbildwirkung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MdI, besonders der Deutschen Volkspolizei (DVP).

Nach anfänglichen Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Deutschen Verwaltung des Inneren (DVdI) mit anderen Zentralverwaltungen setzte sich 1947 die Unterscheidung von „Sicherheit“ und „Betrieb“ durch (S. 20f), die fortan handlungsleitend blieb. Fragen der Sicherheit, darunter die Zulassung von Kraftfahrzeugen und das Verkehrsrecht, fielen hiernach allein der Polizeiverwaltung zu, während der Betrieb, etwa die Lenkung des Transportverkehrs und die Ersatzteilplanung, an andere Behörden ausgelagert wurde. Das MdI erlangte so die Zuständigkeit für die Verkehrssicherheit, während in Bonn das Bundesverkehrsministerium federführend blieb.

Die personalpolitische Entwicklung (S. 24–41) skizziert die Autorin am Beispiel verschiedener Leitungsmitarbeiter. Die biografischen Portraits belegen dabei die parteipolitische Durchdringung der Verwaltung sowie das enorme Interesse des Staatssicherheitsdienstes am Innenressort, das etwa in der Durchsetzung des MdI mit Inoffiziellen Mitarbeitern zum Ausdruck kommt – was vor allem die amtierenden Innenminister und ihre Stellvertreter kritisch betrachteten.

Angesichts des katastrophalen Zustandes der Infrastruktur nach Kriegsende gehörte die Sicherung der Verkehrswege zu den dringlichsten Aufgaben. Zur Regulierung des Verkehrs dienten neben Verkehrsschildern Ordnungen, in denen sich – nach dem anfänglichen Rückgriff auf die Vorgänger der 1930er-Jahre – das positive Verständnis von Sicherheit als Resultat vorbeugenden Handelns ausdrückt (S. 52). Am Beispiel des Tempolimits (S. 53–61) zeichnet die Autorin die Diskussion um eine noch heute umstrittene Regelung nach, die sich in den 1950er- und 1960er-Jahren auch vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) vollzog und ebenso wie das Alkoholverbot (S. 61–65) der Profilierung im Systemwettstreit diente. Eine besondere Rolle kam der Verkehrsunfallstatistik (S. 65–79) zu: Einerseits sollte ihre Auswertung die Erhöhung der Verkehrssicherheit ermöglichen, andererseits standen die Unfallzahlen im Widerspruch zu den Fortschrittsbekundungen des MdI. Die Frage nach ihrer Zugänglichkeit wurde daher kontrovers debattiert, erst 1964 wurden detaillierte Angaben über das Vorjahr veröffentlicht.

Am Wandel der Strafrechtspraxis weist die Autorin nach, wie sich Praktiken und ihnen zugrundeliegende Theorien zur Erklärung von Straffälligkeit wandelten. Interpretierte das MdI Verkehrsdelikte Anfang der 1950er-Jahre noch als „Ausdruck des verschärften Klassenkampfes“ (S. 86), die hart zu bestrafen seien, suchte es seit Anfang der 1960er-Jahre nach einer „gesunden Strafpraxis“ (S. 89).

Breiten Raum nimmt die Darstellung der Verkehrserziehung ein (S. 102–125), die neben schulischen und betrieblichen Initiativen auch gesetzliche Regelungen einschloss. Besuche von VP-Angehörigen, die Verankerung der Verkehrserziehung im Curriculum sowie die Erarbeitung von Verkehrsfibeln und Verkehrserziehungsfilmen sollten Schul-, aber auch Vorschulkinder frühzeitig sensibilisieren und ihre Entwicklung zu sozialistischen „neuen Menschen“ (S. 125) fördern. Zur „Selbsterziehung“ (S. 110) und Einbindung in die Massenorganisationen der DDR dienten seit den 1960er-Jahren die Arbeitsgemeinschaften Junger Verkehrshelfer (später Schülerlotsen) und Verkehrssicherheitsaktive, die auch in Betrieben gegründet wurden (S. 208–212).

Besondere Aufmerksamkeit widmet die Autorin den „Stempeln“, einem Punktesystem für Verstöße gegen Verkehrsvorschriften. Die Stempel, die die DDR über zwanzig Jahre vor den Flensburger Punkten der BRD einführte, wurden von berechtigtem Personal in die Fahrerlaubnis eingetragen und sollten so zum vorbildlichen Verhalten anregen. Die Bilanz fiel jedoch zwiespältig aus: Gerade unter Jugendlichen avancierte das Sammeln von Stempeln zu einem regelrechten Wettbewerb, der die Steuerungsversuche des MdI untergrub.

Die Gewährleistung der Straßenverkehrssicherheit diente nicht nur der Legitimierung des Staates und der Prägung sozialistischer Persönlichkeiten, sondern auch ökonomischen Interessen (S. 126–148). Verkehrsunfälle und ihre Folgen riskierten die Planerfüllung und galten als volkswirtschaftliche Belastung. Ordnungspolitische Maßnahmen und technische Neuerungen – von denen die Autorin die Helm- und Gurtpflicht als Beispiele heranzieht – beinhalteten demnach stets eine ökonomische Dimension. Zugleich war die Entwicklung der Technik von den ökonomischen Rahmenbedingungen abhängig: So musste die Öffentlichkeitskampagne zur Einführung einer Helmpflicht gestoppt werden, da die Kapazitäten zur Produktion von Schutzhelmen nicht ausreichten.

Im Fokus des letzten Hauptteils stehen die vielfältigen Mittel der Öffentlichkeitsarbeit, die sowohl auf die Mobilisierung und Disziplinierung der Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer als auch auf die positive Selbstdarstellung des MdI zielte. Neben den Verkehrserziehungswochen als „Höhepunkte aller Erziehungsmaßnahmen“ (S. 151) thematisiert die Autorin die mitunter problematische Kooperation mit den Medien sowie die Platzierung von Unfallwagen im öffentlichen Raum. Die Kombination verschiedener Kommunikationsstrategien führt die Autorin am Beispiel der Kampagne um „Hugo Leichtsinn“ (S. 163–170) vor, die 1959 startete und bis in die Bundesrepublik ausstrahlte. Trotz der Versuche um alternative Wege sei der erhobene Zeigefinger für die Erziehungs- und Öffentlichkeitsarbeit des MdI prägend geblieben – anders als in der BRD, in der sich die Tendenz zur Selbstdisziplinierung stärker durchgesetzt habe (S. 163).

Im Fazit (S. 221–227) stellt die Autorin die zentralen Ergebnisse ihrer Studie heraus und ordnet sie im breiteren Kontext der Forschung ein. Zum ersten deutet sie den Straßenverkehr als „zentrale[n] Ort der staatlich-ministeriellen Ordnungs- und Regulierungsansprüche“ (S. 221), in dem die Verkehrspolitik als Sicherheitspolitik wirksam wurde. Zum zweiten interpretiert sie die Erziehung der Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer als Teil eines umfassenden Gesellschaftsprojekts, das auf die Heranbildung des „neuen Menschen“ zielte. Zum dritten beschreibt sie die Verkehrssicherheit als Teil des Präventionsregimes, das durch das „positive“ Sicherheitsversprechen zur Konsolidierung der DDR beitrug. Zugleich habe die Diskrepanz zwischen staatlichem Paternalismus und individuellen Rechten 1989 den Zusammenbruch der DDR befördert.

Die Studie ist flüssig geschrieben und wird durch zahlreiche Abbildungen aufgelockert, die meist direkt in die Analyse einbezogen werden. Positiv hervorzuheben sind die Hinweise auf Entwicklungen in anderen Staaten, besonders der BRD, die das Potenzial einer verflechtungsgeschichtlichen Betrachtung unterstreichen. Zu berücksichtigen ist der Fokus der Studie auf die Jahre 1945 bis 1970, der nicht unmittelbar aus dem Titel hervorgeht.2 Gerade die Umbruchsphase der 1970er-Jahre3 und besonders die Zeit nach dem Mauerfall, die sich durch einen drastischen Anstieg der Verkehrsunfallzahlen auszeichnete4, hätten dabei interessante Perspektiven geboten. Für die Verkehrssicherheit in der SBZ und frühen DDR ist die Studie jedoch durchweg empfehlenswert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Eckart Conze, Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven, Göttingen 2018.
2 Der Zuschnitt ergibt sich aus der Anlage des Forschungsprojekts, aus dem das Buch hervorging, vgl. dazu Frank Bösch / Andreas Wirsching, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Veröffentlichungen zur Geschichte der deutschen Innenministerien nach 1945, Band 1, Göttingen 2018, S. 13–26, bes. S. 23.
3 Vgl. Frank Bösch, Geteilt und verbunden. Perspektiven auf die deutsche Geschichte seit den 1970er Jahren, in: ders. (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 7–37, bes. S. 21–27.
4 Vgl. Hans-Günter Hilse, Entwicklungen im Straßenverkehr – Aufgaben der Polizei, in: Schriftenreihe der Polizeiführungsakademie 1 (1991), S. 67–89.

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