Die vergleichende Elitenforschung auf breiter empirischer Grundlage steckte für die neueste Geschichte bis vor ein paar Jahren noch in den Kinderschuhen.1 Dieser von Heinrich Best und Maurizio Cotta herausgegebene Sammelband zu den parlamentarischen Abgeordneten in Europa widmet sich der vergleichenden Elitenforschung zwischen der 1848er Revolution und der Gegenwart. Im Vorwort erläutern die beiden Herausgeber die Absicht des Projekts, über einen Zeitraum von 150 Jahren die parlamentarischen Vertreter, ihre soziale Zusammensetzung und deren Rekrutierungsmechanismen in elf europäischen Ländern zu untersuchen. Der vorliegende Band stellt dabei nur das erste Ergebnis eines breiter angelegten Forschungsprojekts dar. Das Projekt "The transformation of political representation in Europe. Parliamentary elites from 1848 until 1998" an der Universität Jena hatte neben der Erhebung von Mitgliederdaten europäischer Nationalparlamente seit 1848 und Aggregatdaten für die Vertreter in den Parlamenten Deutschlands, Italiens, Frankreichs, Großbritanniens, der Niederlande, Österreichs, Dänemarks, Norwegens, Finnlands, Spaniens, Portugals und Ungarns (der "DATACUBE", vgl. S. 18-26) auch den Zweck, diese Daten auf die Überprüfung des Modernisierungsparadigmas von Stein Rokkan, Samuel Huntington u.a. anzuwenden. Die fünf Hauptparameter für die historisch-vergleichende Datenerhebung und Untersuchung waren die Regelungen für den Zugang zur politischen Arena, das Ausmaß und die Muster politischer Mobilisierung der Staatsbürger, die Hauptakteure der politischen Mobilisierung, die institutionellen Rahmenbedingungen für die Rekrutierung parlamentarischer Mitglieder, und die Charakteristiken politischer Eliten. Die Rekrutierungsprozesse stehen dabei im Mittelpunkt; das Verhältnis von Bewerbern, kooptierenden Auswählenden und Wählern im politischen Massenmarkt sowie die Struktur des Elitenzugangs sollen eingehend untersucht werden.
Die einzelnen Artikel untersuchen daher die soziale Zusammensetzung und die Rekrutierungsmechanismen der parlamentarischen Repräsentanten und deren zeitliche Entwicklung von 1848 bis heute, ohne selbst Vergleiche zu anderen Ländern zu ziehen. Die einzelne Darstellung steht im Vordergrund, wobei auf die Datensätze (Ausnahme: Dänemark) und die Fragestellungen des Projekts zurückgegriffen wird. In dieser Hinsicht können fast alle Beiträge trotz des ambitionierten Zeitraums und der zum Teil problematischen Systemveränderungen in den Vergleichsländern überzeugen. Die Stärke dieses Bandes ist zugleich eine seiner großen Schwachstellen, wenn man erwartet, eine vergleichende Studie vorzufinden. Die Herausgeber betonen im Vorwort, daß eine solche Kompilation von Einzelstudien keinen Vergleich ersetzen kann, und die Synopse nur loose ends aufgreifen und zusammenführen kann.2 Man muß daher gespannt sein, welche explizitenVergleichsstudien aus diesem Projekt hervorgehen werden. Dann sollte aber auch eine eingehende Auseinandersetzung mit Problemen und Grenzen historischer Vergleiche erfolgen, denn der bloße Hinweis auf das von Skocpol herangezogene Mill'sche Paradigma der "comparison by difference" (S.3) wird schon in der Synopse durch die abwägenden Erörterungen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede relativiert.3 Die Feststellung, daß die Entwicklung von der Honoratiorenvertretung zum professionalisierten Parlament ein gemeineuropäisches Phänomen gewesen sei, bedürfte dann genauerer Differenzierungen als nur die Schlußfolgerung, daß dies mit nationalen Eigenheiten und Phasenverschiebungen abgelaufen sei (S.520-525). Das Buch dient nicht nur als gutes Handbuch für die Elitenforschung, sondern liefert auch für die parlamentarische Geschichte einen guten Einstieg. Die Artikel sind in einem flüssigen Englisch gehalten, die komplexen Zusammenhänge von politischer, parlamentarischer und sozialer Geschichte sind überschaubar dargestellt und die Literaturangaben, die sich an jeden Artikel anschließen, können einen guten Forschungsüberblick bieten. Die Schaubilder, die die Meßdaten aufbereiten, sind aber durchweg zu klein und unübersichtlich, als daß sich die Argumente der Artikel an ihnen gut nachvollziehen ließen. Außerdem ist die Behandlung der Parteien zumindest für deren Formationsphase ungenau und wird nur in wenigen Artikeln problematisiert. Im Artikel zu Italien werden beispielsweise die Parteiverschiebungen zwischen 1910 und 1945 eingearbeitet, während bei den Artikeln zu Deutschland und England nur die unscharfen Richtungen "liberal" und "konservativ" als Größen in den Tabellen auftauchen, obwohl die Probleme der Parteidifferenzierung und -fluktuation in den Artikeln angesprochen werden. Hier scheint die empirische Differenzierung dem teilweise etwas schematischen Analysemuster zum Opfer gefallen zu sein.
Problematisch bleibt auch die Anwendung des Modernisierungsparadigmas. Die Entwicklung parlamentarischer Eliten wird hier in das Theorem von der Demokratisierung des politischen Systems hin zur parlamentarischen Demokratie eingebettet. Daß dies die parlamentarische Monarchie des 19. Jahrhunderts zu einem reinen Übergangsstadium ohne eigenen Charakter entwertet, ist aber auch jüngst nicht unumstritten gewesen.4 Obwohl die Autoren immer wieder betonen, ihnen läge eine teleologische Sicht des Entwicklungsprozesses parlamentarischer Eliten fern, wird von der repräsentativen Demokratie als Ziel der Geschichte ausgegangen (S.4f.). Daß mit diesem Argument oder auch stillschweigend einige "Rückschritte" in der Geschichte parlamentarischer Institutionen und deren Mitgliedern ausgeklammert werden (Frankreich 1851-1870, England vor der zweiten Wahlrechtsreform 1867), ist hingegen auffällig und bleibt ungeklärt. In der Zusammenfassung (S. 522) wird wiederum analog zur klassischen Sonderwegsthese von Frankreich und England als den Modelltypen der parlamentarischen Demokratie gesprochen; gerade für England kann aufgrund des Mehrfachwahlrechts für Akademiker bis 1948 von einer "repräsentativen" Demokratie nur bedingt die Rede sein. Obwohl in diesem Zusammenhang auf die traditionale Struktur der Eliten in England und Frankreich verwiesen wird, bleibt die Terminologie der "repräsentativen Demokratie" unscharf.
Interessant für die Sonderwegsdebatte 5 ist der Beitrag von Best, Haussmann und Schmitt über die parlamentarischen Eliten in Deutschland. Die Autoren stehen dem klassischen Sonderwegsparadigma kritisch gegenüber und definieren daher Modernisierung nicht als Zusammenspiel von Demokratisierung und Industrialisierung, sondern als graduellen Entwicklungsprozeß der parlamentarischen Eliten von der Honoratiorenrepräsentation zum professionellen Parlament. Im deutschen Fall habe es zwei markante Abweichungen gegeben (S. 187ff.): zwischen den 1880er Jahren und 1912 lasse sich eine direkte Vertretung verbandlicher und wirtschaftlicher Interessen im Parlament nachweisen, zwischen 1912 und 1933 vorwiegend Parteifunktionäre und Führer von pressure groups. Innerhalb des Modernisierungsparadigmas und damit gegen eine deutsche Sonderentwicklung stünde aber die professionelle Rekrutierung und der Webersche Typus des professionellen Politikers; die deutschen Daten seien in diesen Punkten im wesentlichen mit den anderen europäischen übereinstimmend. Der klassische Weg, Deutschland mit anderen Staaten oder Typen zu vergleichen und damit "national peculiarities" herauszuheben, wird in der Zusammenfassung durch die über alle behandelten Länder hinweg angelegten Kriterien gut umgangen. Außerdem hebt das Buch nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern abwägend auch die Unterschiede und Varietäten der Abgeordnetenstrukturen und Rekrutierungsmechanismen in den europäischen Staaten hervor (S. 494 und passim).
Trotz der angesprochenen Bedenken liegt mit diesem Buch ein erster Markstein für die europäisch vergleichende Parlamentarismusgeschichte vor. Neben der Untersuchung der Strukturen parlamentarischer Eliten ist es erfreulich, daß die lange vergessene historische Wahlrechtsforschung in diesem Zusammenhang wieder bemüht worden ist. Nach den verdienstvollen Studien zur Wahlkultur 6 wird somit ein weiteres Forschungsfeld aufgezeigt, das für die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der neuesten Geschichte heuristisch wertvolle Ergebnisse verspricht. Eine Kombination von Wahlkultur-, Eliten- und Wahlrechtsdiskursanalyse wäre ebenfalls ein Forschungsfeld, das aus diesem Sammelband erwachsen könnte. Für Historiker in Teilen vielleicht zu theorielastig, sind die Anregungen und Fragestellungen dieses Buches sowohl als Einstieg wie auch für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex "parlamentarische Eliten" sehr gut geeignet. Sollten weitere Studien auf ähnlichem Niveau folgen, wäre dies nicht nur ein Gewinn für die historische Forschung, sondern auch für eine fundierte Revision des momentan eher totgeschwiegenen als widerlegten deutschen Sonderwegs.
Anmerkungen:
1 Vgl. die Pionierstudie von Heinrich Best, Die Männer von Bildung und Besitz. Struktur und Handeln parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland und Frankreich 1848/49, Düsseldorf 1990.
2 Das Problem solcher vergleichend angelegten Sammelbände liegt in der deskriptiven Reihung von Einzelbeiträgen ohne ein Analyseraster, wie es z.B. trotz aller Vorzüge der Band von Dieter Langewiesche (Hrsg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, zeigt. Im vorliegenden Band liegt zwar ein Analysemuster vor, das aber nicht in jedem Artikel in gleicher Tiefe umgesetzt wurde.
3 Zu den Problemen verschiedener Vergleichsmethoden vgl. Heinz-Gerhard Haupt, Jürgen Kocka, Historischer Vergleich, Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: Dies (Hrsgg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze zu einer international vergleichenden Geschichtsschreibung, Frankfurt/Main 1996, S. 9-45; Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1999.
4 Zur klassischen Huber- Böckenförde Kontroverse vgl. jüngst die Ausführungen von Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp- Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999, S. 57-65.
5 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 3: Von der "Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849- 1914, München 1995, S. 449-492; kritisch dagegen Kirsch, Monarch und Parlament (wie Anm. 4), S. 386- 411.
6 Vgl. den Forschungsbericht von Thomas Kühne, Wahlrecht- Wahlverhalten- Wahlkultur, Tradition und Innovation in der historischen Wahlforschung, in: AfS 33 (1993), S. 481- 547.