Die leitende These des Bayreuther Kultursoziologen ist bereits im Titel seiner Habilitationsschrift benannt: Georg Kamphausen behauptet die ideelle Konstruktion eines Amerika-Bildes, das nicht der wissenschaftlichen Erforschung der USA entsprang, sondern das vielmehr unabhängig von US-amerikanischen Realitäten in der europäischen Zivilisationskritik der Jahrhundertwende als Spiegel für die heimischen Verhältnisse und „Chiffre“ (21) für die Modernisierung entstand. Die Festigkeit dieser Amerika-Bilder sei so groß gewesen, daß selbst reale Amerika-Erfahrungen als mögliches Korrektiv weitgehend wirkungslos blieben: „Indem die Intellektuellen nach der Moderne fragen und sich ihr Blick dabei auf die Vereinigten Staaten richtet, sind sie nur in den seltensten Fällen daran interessiert, zu verstehen, was und wie Amerika ist, sondern fragen vor allem danach, was Amerika für Europa bedeutet.“ (20)
Nun geht Kamphausen aber nicht unmittelbar zu einer Erläuterung und Entfaltung seiner Leitthese über, sondern läßt mehrere Kapitel folgen, in denen weitere Thesen formuliert werden, die er offenkundig als notwendige Prämissen betrachtet: Er beobachtet, daß der Amerikanisierung Europas eine Europäisierung vornehmlich des amerikanischen Ostens korrespondiere; er liefert ein kulturhistorisches Panorama der Zeit um 1890, das er mit Bezeichnungen wie „fin de siècle“, „belle époque“, „gay nineties“, Dekadenz und Historismus markiert; er reflektiert die Begriffsgeschichte des Kapitalismus als Geschichte eines politischen Schlagwortes.
Die ausführlichsten Vorüberlegungen sind der Diskussion um eine mögliche „Generationseinheit“ (92) gewidmet, welche Kamphausen als konstitutiv für den „Aufstieg der Intellektuellen in Europa“ sowie als „Schlüssel zum Verständnis der Jahrhundertwende“ begreift: Mit der Bedeutungsabnahme hierarchischer Gesellschaftsstrukturen formiere sich um 1890 die horizontale Sozialkonstruktion der Generation als einer „Schicksalsgemeinschaft“ (110), die den Verlust kultureller, religiöser wie sozialer Normen durch das Propagieren generationeller Gemeinsamkeiten zu kompensieren sucht. Parallel datiert Kamphausen die Geburtsstunde des modernen, klassenlosen Intellektuellen, der nicht mit Realitäten, sondern sprachlich vermittelten Ideen operiere: „Je weniger Realitätsbezug diesen Ideen zukommt, um so radikaler vermögen sie zu wirken; je weniger Bindung an soziale Sachverhalte sie haben, um so mehr Einfluß auf die soziale Realität können sie ausüben.“ (136)
Die genannten Eigenheiten dieser „Umbruchszeit“ (47) werden von Kamphausen als Entstehungsbedingungen der Soziologie in Europa ausgemacht (143). Gegenläufig zur Europäisierung der USA kennzeichne das Ende der westamerikanischen Frontier auch den Beginn einer Selbstwahrnehmung als eine sich von Europa fundamental unterscheidende Gesellschaft, die sich in der Institutionalisierung einer anti-intellektuellen, am Leitbild des Pioniers orientierten Soziologie niederschlage (171).
Im folgenden, zentralen Kapitel (180-268) kommt Kamphausen auf seine Hauptthese von der „Erfindung“ Amerikas zurück und versucht diese nun am Beispiel der deutschen Soziologie zu explizieren. Den von ihm nicht ausdrücklich umrissenen Untersuchungszeitraum bilden die Jahre zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. Nachdem er festgestellt hat, daß Amerika bis Mitte des 19. Jahrhunderts für die Europäer schlicht als „Erfüllungsort der europäischen Geschichte“ galt (147) und „Amerikanisierung“ erst ab da allmählich als Synonym für die eigene, von den USA beeinflußte Modernisierung gebräuchlich wird, konzentriert sich Kamphausen zunächst auf die dreimonatige Amerika-Reise Max Webers im Jahre 1904, die einen von den USA begeisterten Soziologen zeigt, während die mitgereisten Kollegen Sombart, Tönnies und Troeltsch sich verhalten bis kritisch äußern. Kamphausen hinterfragt aber die in der Forschung mitunter behauptete Gründlichkeit von Webers Amerika-Erfahrung, indem er auf Webers unzureichende Sprachkenntnis, sein Desinteresse an amerikanischer Forschungsliteratur und ihm angebotenen Quellenmaterial verweist. Er untersucht Webers in St. Louis gehaltenen Vortrag „The Relation of the Rural Community to Other Branches of Social Sciences“, in dem dieser für die Zukunft eine von ihm bedauerte Europäisierung Amerikas prophezeit, und kommt zu dem Schluß, daß auch Weber, da es ihm in seinem Vortrag vornehmlich um deutsche Fehlentwicklungen und nicht um amerikanische Verhältnisse gegangen sei, „Amerika nicht entdeckt“, sondern „erfunden“ habe (197).
Ausführlich widmet sich Kamphausen Webers religionssoziologischen Schriften, seiner Unterscheidung zwischen einem die wirtschaftliche Modernisierung hemmenden deutschen Staatsprotestantismus und einem als geeigneter Modus moderner Lebensführung im Kapitalismus gewerteten englisch-amerikanischen Calvinismus. Kamphausen weist nach, daß Webers Beschäftigung mit Benjamin Franklin einerseits grob verfälschende Übersetzungen aus Ferdinand Kürnbergers anti-amerikanischem Roman „Der Amerikamüde“ (1855) zugrunde lagen und daß andererseits auch Weber selbst durch Auslassungen manipulierend aus Franklins Werken zitierte. In einem umfassenden Exkurs kommt Kamphausen sodann auf Sombarts Aufsatz „Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?“ (1905) zu sprechen, in dem dieser, entgegen allen US-amerikanischen Realitäten, eine baldige Angleichung der USA an die europäischen Verhältnisse voraussagt. Kamphausen wiederholt die schon von der zeitgenössischen Kritik festgestellte mangelnde Wissenschaftlichkeit und ideologische Verblendung Sombarts, die in seinem Hauptwerk „Der moderne Kapitalismus“ (1902) noch um antisemitische Momente bereichert wird. Das umfangreiche Kapitel endet mit der Feststellung, daß Webers Amerika-Sicht von „Ambiguität“ (265) geprägt sei: Einer „(anfängliche[n]) Begeisterung“ stehe die „(spätere) Kritik“ gegenüber, die Weber in der Zeit des Ersten Weltkrieges äußerte und die mit dem vormals abgelehnten kulturkritischen Begriffsinventar operieren sollte. Man könne Weber insgesamt „als einen enttäuschten Liebhaber Amerikas bezeichnen“ (268).
In einer summarischen Schlußbetrachtung geht Kamphausen auf das amerikanische Ideal eines „pursuit of happiness“ ein und stellt diesem die Glücks-Abstinenz der deutschen Philosophie und Ökonomie entgegen.
Das im Titel suggerierte Versprechen, ein repräsentatives Panorama der kulturkritischen Auseinandersetzungen mit Amerika für die Zeit um 1900 zu bieten, löst die Studie Kamphausens nicht ein. Nicht nur bleibt bis zum Schluß unklar, ob es Kamphausen letztlich um eine spezifisch deutsche Ausprägung der Kulturkritik oder aber um eine europäische Perspektive geht (vornehmlich französische Kulturkritiker werden wiederholt für die Argumentation aufgeboten), sondern es läßt sich auch das breite Spektrum der Kulturkritik an der vorletzten Jahrhundertwende sicher nicht auf die deutsche Religionssoziologie der Zeit verengen. So ist Kamphausens Behauptung, daß die „Entdeckung Amerikas [...] vor allem im Umkreis der Religionssoziologie“ erfolgt sei (181), zumindest eindimensional, wenn nicht grob verzerrend. Spielten im Amerika-Diskurs um 1900 doch technische wie urbane Entwicklungen, Debatten um Kultur, Gesellschaft und Geschlechterrollen sowie das Wirtschaftssystem eine wenigstens ebenso wichtige Rolle wie die religiöse Differenz 1. Der analytische Blick Kamphausens ist zusätzlich verkürzt, da sich seine Ausführungen zum Amerika-Bild fast ausschließlich auf die Person und das Werk Max Webers reduzieren. Wenn er zudem Webers Amerika-Bild als „nicht repräsentativ“ einstuft, so wird offenkundig, daß der Titel der Studie in die Irre weist. Und schließlich bleibt selbst der Ertrag des Weber-Kapitels recht gering, wenn Kamphausen schlicht „Ambiguität“ als kennzeichnend für das Amerika-Bild des deutschen Soziologen resümiert.
Nicht allein der Titel läßt Unklarheiten über Kamphausens Intention entstehen. Insgesamt changiert die Studie zwischen allzuvielen Absichten: Kamphausen beschränkt sich nicht auf Kulturhistoriographie, sondern zieht Vergleiche zur Gegenwart und gibt Hinweise für die Zukunft. Er beschränkt sich nicht auf deutsche Amerika-Bilder, sondern stellt amerikanische Selbstbilder dagegen und versucht, Klischees und Vorurteile zu korrigieren. Auch das Aufkommen des Generationsdenkens und der Intellektuellen sowie die Entstehung der Soziologie (der amerikanischen wie der europäischen) möchte Kamphausen in seine Argumentation mit einbeziehen. So luzide und pointiert er auch einzelne dieser Nebenschauplätze präsentiert: Die Verbindungen und Folgerungen sind nicht immer so plausibel, wie er sie erscheinen lassen möchte. So läßt sich etwa fragen, wo die zahlreichen, nicht auf eigener Anschauung fußenden Amerika-Bilder deutscher Autoren aus den vergangenen Jahrhunderten einzuordnen sind, wenn Kamphausen die „Erfindung“ Amerikas erst für die Zeit um 1900 reklamiert. Klischees und Vorurteile sind schließlich keine Neuheit des 20. Jahrhunderts, sondern eine nach Ansicht der neueren Stereotypenforschung kaum zu vermeidende Konstante in der Wahrnehmung von Völkern und Nationen. 2 Auch wäre zu erwägen, aus welchen Quellen sich die „Erfindung Amerikas“ speiste, welche Bedeutung etwa internalisierten Karl May-Lektüren zukam. 3 Durch eine Konzentration auf das im Titel vorgegebene Thema hätte die Studie in vielen Hinsichten gewonnen. So bleibt eine reizvolle These, deren Durchführung nicht zu befriedigen vermag.
Anmerkungen:
1 Alexander Schmidt: Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997.
2 Sander L. Gilman: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Reinbek 1992.
3 Jochen Schulte-Sasse: Karl Mays Amerika-Exotik und deutsche Wirklichkeit. Zur sozialpsychologischen Funktion von Trivialliteratur im wilhelminischen Deutschland, in: Karl May, hrsg. von Helmut Schmiedt, Frankfurt/Main 1983, S. 101-129.