Läutet "Radical Enlightenment" einen Paradigmenwechsel in der Aufklärungsforschung ein? Sicher ist, dass wir es mit einem großen, mit einem wichtigen Buch zu tun haben. Sicher ist aber auch, dass seine Thesen und, mehr noch, sein methodischer Ansatz Befremden und Widerspruch hervorrufen werden. Warum ist Radical Enlightenment so wichtig? Israel führt eine dreifache, in der Aufklärungsforschung richtungweisende These mit unerhörtem Kenntnisreichtum durch: Im Zentrum seiner „radikalen Aufklärung“ steht die Figur Spinozas und der Spinozismus, woraus sich eine geographische und eine chronologische Neuorientierung auf die Niederlande in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ergeben. Spinoza statt Rousseau, Amsterdam statt Paris und das ganze auch noch ein rundes Jahrhundert früher.
Abgesehen von dieser inhaltlichen Provokation wird die Art und Weise irritieren, in der Israel sich seinem Stoff nähert. Der Leser reibt sich die Augen und mit ungläubigem Staunen wird ihm klar, dass der Autor, Kulturhistoriker vom Institute for Advanced Study in Princeton, sich um die methodischen Innovationen der letzten Jahrzehnte im Bereich der intellectual history keinen Deut zu scheren scheint. „Frustrating traditionalism and maddening dismissal of an entire generation of newer Enlightenment scholarship“: man kann nicht sagen, dass diese harten Worte eines Rezensenten den Kern der Sache verfehlten. 1 Vom methodischen Standpunkt her mutet das Buch in der Tat wie ein Relikt aus einer anderen Zeit an – aus einer Zeit, in der Ideengeschichte darin bestand, den Staub von seit Jahrhunderten nicht mehr angefassten alten Einbänden zu blasen, um gelehrt nachzuerzählen, welche Ideen große Männer ihren Vorgängern schuldeten und welche sie wiederum ihren Nachfolgern hinterließen. Doch Israel treibt diese Art Ideengeschichte auf eine geradezu barocke Spitze – und damit in gewisser Weise im Exzess über sich selbst hinaus. Wann hat man zum letzten Male einen Historiker gesehen, der auf über siebenhundert gedrängt gesetzten Textseiten das Kapillarsystem der intellektuellen Verästelungen fesselnd nacherzählt, der über fünfzig noch kleiner gesetzten Seiten Quellen- und Literaturangaben in nicht weniger als acht verschiedenen Sprachen souverän zu beherrschen scheint, der die öffentlichen und geheimen Bewegungen der spinozistischen Aufklärung von Skandinavien bis Portugal und von Irland bis Sizilien in einen gesamteuropäischen Rahmen zu ordnen in der Lage ist, der die letzten Exemplare literarischer Hinterlassenschaften auch der obskursten Autoren in Dutzenden von Bibliotheken ausfindig machen konnte?
Die Kernthese des Buches kann man vielleicht folgendermaßen zusammenfassen: vor der „moderaten“ bzw. „mainstream“ Aufklärung, gab es eine radikalere Bewegung mit Epizentrum in den Niederlanden. Der entscheidende Anstoß für die aggressive kritische Rationalität dieser gegen kirchliche und monarchische Autoritäten gerichteten intellektuellen Subversion fand sich in der spinozistischen Umformung des Cartesianismus. Zitat: „the Radical Enlightenment, whether on an atheistic or deistic basis, rejected all compromise with the past and sought to sweep away existing structures entirely, rejecting the Creation as traditionally understood in Judaeo-Christian civilization, and the intervention of a providential God in human affairs, denying the possibility of miracles, and reward and punishment in an afterlife, scorning all forms of ecclesiastical authority, and refusing to accept that there is any God-ordained social hierarchy, concentration of privilege or land-ownership in noble hands, or religious sanction for monarchy.” (S. 11-12) Von der Mitte des 17. Jahrhunderts an verband diese Radikalaufklärung ein “naturwissenschaftliches Weltbild” mit einer deistischen bzw. atheistischen Religionskritik und einer republikanischen oder gar demokratischen politischen Parteinahme.
Der „Mainstream“ der Aufklärung, normalerweise als Aufklärung tout court angesehen, erscheint im Lichte der Analysen Israels als „intellektuelle Gegenoffensive“ wider den philosophischen Radikalismus und seine theologischen und politischen Implikationen. Dies gilt nicht nur, was die deutsche Szene betrifft, von Leibniz, Thomasius und Wolff, sondern noch viel mehr von den Briten Locke und Newton. Das gilt ebenso für einen Voltaire, dessen intellektuelle Bedeutung Israel zufolge nicht viel weiter reichte, als die nördlich des Ärmelkanals entstandene moderate Synthese aus aufklärerischer Kritik und theologisch-politischer Autorität auf dem Kontinent zu popularisieren. Dies gilt mit gewissen Einschränkungen ebenso für Rousseau, dem Israel einen Platz zwischen der moderaten und der radikalen Aufklärung zuweist: „Nor, any more than Voltaire or the others, does Rousseau represent a basically new set of concepts and approaches.“ (S. 718) Israel zeichnet in dieser Weise eine ganze Landkarte der Aufklärung, auf der sich, soviel lässt sich zusammenfassend-verkürzend sagen, drei Lager gegenüberstanden: die spinozistischen, religionskritischen und republikanischen Radikalen; die moderaten Leibnizianer, Malebranchisten oder Newtonianer, Verfechter einer Synthese aus Vernunft und Glauben und Parteigänger der aufgeklärten Monarchie und schließlich die eigentliche Gegenaufklärung.
Im Mittelpunkt dieses Szenarios stehen Spinoza und der Spinozismus und man kann das ganze Buch als imponierenden Versuch lesen, die massive Präsenz dieser Denkrichtung in der europäischen Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts ins rechte Licht zu rücken: „The question of Spinozism is indeed central and indispensable to any proper understanding of Early Enlightenment European thought. Its prominence in European intellectual debates of the late seventeenth and early eighteenth century is generally far greater than anyone would suppose from the existing secondary literature; one of the chief aims of this present study is to demonstrate that there has been a persistent and unfortunate tendency in modern historiography to misconstrue and underestimate its significance.” (S. 12-13) Das ist ein durchaus zu begrüßendes Unterfangen und es ist sicherlich richtig, dass die Bedeutung des Spinozismus gemeinhin unterschätzt wird. Allerdings ist anzumerken, dass diese Feststellung als solche nicht neu ist. Vor allem Margaret Jacob hat nicht nur ein Buch veröffentlicht, das den gleichen Titel trägt, wie das hier zu besprechende 2, sondern auch schon Israels Hauptargumente artikuliert – allerdings nicht mit derselben erstaunlichen Präzision in der empirischen Durchführung und überwältigenden Materialfülle. Zu nennen wären weiter Ira Wades und Paul Vernières bereits in den 30er bzw. 50er Jahren erschienenen klassischen Werke3 sowie eine ganze Reihe von Autoren wie Miguel Benítez oder Anthony McKenna in Frankreich4, Stefano Brogi oder Vincenzo Ferrone in Italien5, Rüdiger Otto oder Winfried Schröder in Deutschland6 – um nur einige zu erwähnen. Israel übergeht zwar keinen dieser seiner Vorgänger, und zitiert sie alle, aber es sollte zweierlei festgehalten werden: Keines der genannten Werke reicht an die Breite von Israels Darstellung heran, aber die Pfade zu seiner neuen Gesamtinterpretation wurden ihm von der bereits existierenden, spezialisierten Forschungsliteratur geebnet. Israels Annahme, dass die traditionelle Aufklärungsinterpretation eines Ernst Cassirer oder eines Peter Gay7, gegen die er sich wendet, in der heutigen Forschung noch vorherrschend sei, muss infolgedessen wohl relativiert werden.
Radical Enlightenment nimmt die These Paul Hazards von der „Krisis des europäischen Bewußtseins“8 auf, relativiert sie aber in geographischer und chronologischer Hinsicht. Der belgische Historiker hatte in Bezug auf die französischen libertins érudits das Argument entwickelt, dass das traditionelle europäische Weltbild seit den 1680er Jahren in eine Krise eingetreten war, aus der sich dann die Aufklärung entwickelte. Demgegenüber datiert Israel die Periode der „Krise“ auf die Jahre von 1650 bis 1680 und das eigentliche Aufklärungsgeschehen auf die Jahre 1680 bis 1750: “even before Voltaire came to be widely known, in the 1740s, the real business was already over” 9. Aber eine so eminente Figur wie Voltaire wird von Israel nicht nur chronologisch in die zweite Reihe der moderaten Epigonen relegiert. Schon seit einiger Zeit stellt die Forschung eine lange Zeit vorherrschende Paris-zentrierte Sichtweise auf die Aufklärung in Frage und rückt dazu entweder den britischen Beitrag in den Vordergrund 10 oder betont die Verschiedenartigkeit der „nationalen Aufklärungen“.[11] Israel zufolge verfehlen alle drei Auffassungen das Wesentliche, da die von ihm beschriebene Aufklärung ein pan-europäisches Phänomen ist, dessen Wiege in den Niederlanden stand. Die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts stützte sich auf hochgradig integrierte und international operierende Netzwerke, durch die die radikalen Ideen überall in Europa rezipiert wurden. Der lokale Kontext kam dann vor allem im Stadium der Reaktion zum Tragen und bestimmte die jeweils besondere politisch-intellektuelle Konfiguration, in der sich Radikale, Moderate und Gegenaufklärer gegenüberstanden, und die den verschiedenen Aufklärungen ihr jeweiliges Angesicht gab.
Aus dem Gesagten ist klar geworden, dass es auch nicht im Entfernten möglich ist, den Inhalt von Radical Enlightenment zusammenzufassen. Deswegen sei hier nur kurz die Kapitelabfolge beschrieben. Der erste Teil („The Radical Enlightenment“) ist in Wirklichkeit eine 150 Seiten lange Einleitung und skizziert die Themenfelder Politik, Gesellschaft, gender, Zensur, Buchwesen und Journalismus in der behandelten Epoche. Darauf folgt der eigentliche Anfang des Buches, „The Rise of Philosophical Radicalism“, worin Spinoza und die spinozistischen Zirkel in den Niederlanden als Protagonisten der Geschichte eingeführt werden. Der dritte Teil („Europe and the New Intellectual Controversies“) beschreibt, wie sich der Spinozismus im halben Jahrhundert nach Spinozas Tod wie ein intellektuelles Erdbeben von den Niederlanden aus verbreitete und seine Wirkungen von Deutschland bis ins Baltikum und Skandinavien einerseits, nach Österreich und Italien andererseits, aber auch von Frankreich aus auf die Iberische Halbinsel, nach England, Schottland und Irland entfaltete. Teil 4 widmet sich dann der „Intellektuellen Gegenoffensive“ und den verschiedenen Strategien, die die Herausforderung des philosophischen Radikalismus überall in Europa hervorrief. Der letzte Teil, „The Clandestine Progress of the Radical Enlightenment (1670-1750)“, liest schließlich die klassische Aufklärung als Kampf zwischen Radikalismus und „Mainstream“.
Jonathan Israel hat mit Radical Enlightenment eine beeindruckende und von einer schier unerschöpflichen Materialfülle getragene Gesamtinterpretation der europäischen Aufklärung vorgelegt, die wohl niemand, der sich für diese Epoche interessiert, ungestraft wird ignorieren können. Das Paradox des Buches liegt in der Tatsache, dass es – seiner methodischen Ausrichtung wegen – weder kulturgeschichtlich noch philosophiehistorisch interessierte Leser vollständig befriedigen wird. Es ist ein eigenartiges Zwitterwesen, das sich weder auf dem methodischen Stand der historischen Aufklärungsforschung bewegt, besonders was die materielle Seite einer Kulturgeschichte der Ideen anbelangt, noch der theoretischen Komplexität des von ihm behandelten Phänomens gerecht wird. Philosophiehistorisch ist zu bedauern, dass die eigentliche Originalität von Spinozas Philosophie in Israels Ansatz vollständig übergangen wird: Sein „Spinoza“ ist wenig mehr als eine Chiffre für verschiedene Arten von intellektuellem Radikalismus. Die vor allem von der neueren französischen Spinozaforschung textimmanent herausgearbeiteten Inhalte seines Denkens, die vielfach eine ganz erstaunliche Aktualität behalten haben, hätten Israels Argument von einer anderen Seite her abrunden können: Man kann bei Spinoza in der Tat Elemente einer „Aufklärungskritik“ avant la lettre finden – wenn man unter „Aufklärung“ das versteht, was Israel die „moderate Aufklärung“ nennt. In dieser Hinsicht enthält Israels Buch implizit auch eine historische Neufundierung der philosophischen Aufklärungsdiskussionen des 20. Jahrhunderts: sollte es möglich sein, dass ein großer Teil der heutigen Aufklärungskritiker die eigentlichen Erben der „radikalen Aufklärung“ sind, während sich all die eifrigen Aufklärungsverteidiger in einer Reihe mit denen wiederfinden, die schon im 17. Jahrhundert bestrebt waren, das explosive Rationalitätspotential der Aufklärung in Rücksicht auf einen Kompromiss mit den Autoritäten zu entschärfen?
Anmerkungen:
1 Rezension von J. B. Shank in: http://www3.uakron.edu/hfrance/reviews/shank.html.
2 Jacob, Margaret, The Radical Enlightenment: Pantheists, Freemasons, and Republicans, London 1981.
3 Wade, Ira, The Clandestine Organization and Diffusion of Philosophic Ideas in France from 1700 to 1750, Princeton 1938 ; Vernière, Paul, Spinoza et la pensée française avant la Révolution, 2 Bde., Paris 1954.
4 Benítez, Miguel, La face cachée des Lumières. Recherches sur les manuscrits philosophiques clandestins à l’âge classique, Paris Oxford 1996; McKenna Anthony ; Mothu, A. (Hgg.), La philosophie clandestine à l’âge classique, Paris 1997.
5 Brogi, Stefano, Il Cerchio dell’universo. Libertinismo, Spinozismo e filosofia della natura in Boulainvilliers, Florenz 1993; Ferrone, Vincenzo, Scienza, natura, religione. Mondo newtoniano e cultura italiana nel primo settecento, Neapel 1982.
6 Schröder, Winfried, Spinoza in der deutschen Frühaufklärung, Würzburg 1987; ders. Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1998; Otto, Rüdiger, Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1994
7 Cassirer, Ernst, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932; Gay, Peter, The Enlightenment. An Interpretation, 2 Bde., New York 1966.
8 Hazard, Paul, La crise de la conscience européenne, Paris 1935.
9 Pocock, J. G. A., Barbarism and Religion, 2 Bde., Cambridge 1999; O’Brien, Karen, Narratives of Enlightenment: Cosmopolitan history from Voltaire to Gibbon, Cambridge 1997.
10 Porter, Roy; Teich, Miklaus (Hgg.), The Enlightenment in National Context, Cambridge 1981.