Mehmed Sükrü Hanioglu, Professor am Department for Near Eastern Studies der Universität Princeton, hat ein Meisterstück historiographischer Forschung über die Jungtürken vorgelegt, über jene konspirativ organisierte Beamten- und Offizierselite im späten Osmanischen Reich, die den ganzen Nahen Osten grundlegend veränderte und aus der nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die türkische Nationalbewegung unter Atatürk hervorging. Was auf den ersten Blick als ein mit deskriptivem Wissen vollgestopfter Band für Spezialisten der spätosmanischen Welt erscheinen mag, ist, wenn seine Befunde in den grösseren Zusammenhang gestellt werden, bedeutsam für das politische und geistesgeschichtliche Verständnis der Türkei und der ganzen nahöstlichen Welt in ihrer Interaktion mit Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hanioglu gibt Einblick in eine erfolgreiche rechtsmodernistische Revolution, die vergleichbaren Bewegungen in Europa eine Generation voraus war, wenn sie sich von ihnen auch in manchem - so ihrem Beharrungsvermögen - unterschied.
Wie alle Bildungseliten der spätosmanischen Welt standen die (selbsternannten) maskulinen Reichsretter im Banne sowohl des politisch, wirtschaftlich und weltanschaulich dominierenden «Westens» als auch des Sultan-Kalifen Abdulhamid in Konstantinopel, den sie als Despoten und vaterländischen Versager hassten. Dem Comité Union et Progrès (= CUP, bzw. 1905-08 Comité Progrès et Union = CPU), das die jungtürkische Bewegung anführte, gelang es, weite Kreise in sein «patriotisches» Projekt moderner Restauration türkisch-islamischer Macht einzuspannen, indem es die Angst vor dem «Untergang» von Islam, Kalifat und Türkentum schürte. Hanioglu hat in seinem vorhergehenden Band (The Young Turks in Opposition, 1995) und in seinem Buch über den CUP-Mitbegründer Abdullah Cevdet (1984) Serif Mardins These von der «Überverwestlichung» der jungosmanischen Bildungseliten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die jungtürkischen Studenten des Fin de siècle angewandt, die 1889 an der Medizinischen Ärzteschule das CUP gründeten. Das Trauma der osmanischen Niederlage im russisch-türkischen Krieg (1877/78) hatte bei ihnen die Sehnsucht nach Tabula rasa und einem Neuanfang, der verheissungsvoll auf den positivistischen und sozialdarwinistischen «Wahrheiten» des europäischen Zeitgeistes aufbauen sollte, geweckt.
Hanioglu, der seit einem Vierteljahrhundert akribische Archiv- und Literaturforschungen über die Jungtürken betreibt, berücksichtigt - fast auschliesslich politische - Quellen westeuropäischer, osmanischer, albanischer, arabischer, griechischer, bulgarischer, armenischer, jüdischer und russischer Herkunft. Angesichts der oft schwierigen Quellenlage über eine Partei, die auch nach ihrer Machtübernahme im Osmanischen Reich von 1908 - der sogenannten jungtürkischen Revolution - und über ihre formale Auflösung 1918 hinaus konspirativ blieb, ist es als sensationell zu bewerten, dass Hanioglu in den Besitz der Papiere und Korrespondenz von Dr. Bahaeddin Sakir, einem Dauermitglied des CUP-Zentralkomitees, gelangen konnte (unbefriedigend bloss, dass dieser Nachlass der Forschungsgemeinde nicht offensteht). Ab 1905 baute Dr. Sakir (lies Schakir), Abgänger der Medizinischen Ärzteschule in Konstantinopel, zusammen mit seinem Studienkollegen Dr. Nazim das CPU als eine zentralistische, schlagkräftige Partei auf, nachdem die jungtürkische Opposition viele Jahre durch ihre Programmschwäche, Handlungsunfähigkeit und Heterogeneität aufgefallen war.
Das erste Viertel von Hanioglus neuem Buch ist der Zeit von 1902-05 gewidmet, als der liberale osmanische Prinz Sabahaddin, ein Bewunderer Grossbritanniens und Befürworter einer europäischen Intervention gegen den Sultan, in der osmanischen Exilopposition die Oberhand hatte. Der Rest und Hauptteil des Buches befasst sich mit der Umformung der Opposition in eine aktivistische Partei durch Sakir, der im September 1905 in Paris eintraf, Sabahaddin zunehmend ausbootete und, wie er 1906 in einem Brief schrieb, ein «rein türkisches Komitee» aufzog. Die beiden Militärärzte betrachteten die linksrevolutionären armenischen und bulgarischen Gruppierungen als separatistische Todfeinde, bewunderten jedoch deren Aktivismus, Professionalität und Opferbereitschaft als vorbildlich: «Wenn wir die Kraft erfassen wollen, die einem osmanischen Armenier, der in seinem Leben nie ein Gewehr gesehen hat, oder einem russischen Juden den Mut gibt, mit Bomben zu spielen, die in einem Augenblick hundert Menschen in Stücke zu reissen vermögen, dann können wir sie nur im 'politischen Training' finden» (S. 182). Personenkult lag ihnen fern, sie sorgten indes mit Eintrittsritualen und streng konspirativem Gebaren dafür, dem Komitee in den Augen der Mitglieder eine übermächtige, überirdische Aura zu verleihen. Der Sakralisierung der Organisation als «heiliges Komitee» entsprach die antidemokratische Verherrlichung des Staates, als dessen Retterin sie sich verstand.
Sakir gelang es, das CPU je nach Adressat als progressistisch, muslimisch patriotisch oder pantürkistisch darzustellen und so zum Beispiel anti-konservative Nationalisten in der europäischen Elitediaspora, Pantürkisten im Kaukasus, Anhänger des Kalifats in Bosnien und traditionale muslimische Eliten in Kreta oder Syrien zur Bildung konspirativer Zellen für Propaganda oder politische Attentate zu gewinnen. Neben der islambezogenen, zum Teil scharf antichristlichen Rhetorik beherrschte das Komitee durchgehend zwei weitere Register, wie Hanioglu mit zahlreichen Beispielen belegt: ein gemeinosmanisches (osmanistisches) für die Nichtmuslime und ein liberales für Westeuropa. Der Abschluss des Bündnisses mit der armenischen Daschnak-Partei am Kongress der osmanischen Opposition in Paris wurde der westlichen Presse 1907 als gemeinosmanischer Aufbruch verkauft. Sakir schrieb kurz danach einem muslimischen Freund in Saloniki, er betrachte das Bündnis mit dem «Todfeind» als taktisch und vorläufig, die Mehrheitsverhältnisse im zukünftigen Staat sprächen sowieso gegen die Armenier. Den Daschnak-Repräsentanten Malumian, der am Kongress in Paris die Verhandlungen geführt hatte, verspottete das CPU-Organ als weltfremden Kosmopoliten, der die «Menschheit als meine Nation» und die «Welt als mein Heimatland» betrachte.
Mit ruhiger Beharrlichlichkeit verfolgt er von Anfang bis Ende des Buches die These vom Türkismus als der «realen Kraft» des CPU; ein Türkismus, der gekoppelt war mit Neid und Hass auf das monolithisch aufgefasste Europa - das die Jungtürken zugleich zur zivilisatorischen Richtschnur nahmen - sowie auf die Armenier, die mit Europa im Bund erschienen. Die reaktionäre (antiliberale, antisozialistische, anti-internationalistische) türkistische Ausrichtung habe ab 1905 zum raschen ideologischen Sieg über Sabahaddin bei der türkischen Bildungselite geführt. Hanioglu setzt sich mit seiner These in die Nesseln; die meisten Orientalisten datierten bisher die ethno-nationalistische Ausrichtung des CUP auf den Vorabend des Ersten Weltkriegs; manche entschuldigten sie gleichsam als Reaktion auf virulente Nationalismen in den Balkankriegen (1912/13). Die internen CPU-Zeugnisse, die Hanioglu vorlegt, lesen sich schon kurz nach der Jahrhundertwende anders. Die beiden Militärärzte des Zentralkomitees betrachteten die Türken auf Grund ihrer rassischen und historischen Charakteristika als Herrenvolk. Wenn sie das Vielvölkerreich retten wollten, dann, um die Machtstellung der Türken innerhalb eines modernen, zentralistischen Systems zu restaurieren; die Wiedereinsetzung der Verfassung war rhetorisch und als Symbol des Fortschritts wichtig, inhaltlich jedoch bedeutungslos; der Islam spielte ebenfalls rhetorisch sowie als Element von Ethnizität, nicht aber inhaltlich eine zentrale Rolle. Hanioglu stellt ausführlich auch die bisher kaum bekannte Oppositionszeitschrift «Türk» vor, die 1902-06 in Kairo erschien und einen - wie sie beanspruchte - wissenschaftlichen, rassisch-darwinistischen Nationalismus vertrat; sie rief zum sozialen und wirtschaftlichen Boykott der Armenier auf, da diese bisher «auf unsere Kosten gelebt» hätten. Beiläufig weist er darauf hin, dass schon die CPU-Propaganda den von der Nationalbewegung nach dem Ersten Weltkrieg lancierten chauvinistischen Slogan «die Türkei den Türken» geprägt hatte.
Der gemeinsame türkisch-armenische Widerstand in den Ostprovinzen, dem Hanioglu einen innovativen Abschnitt widmet, widersprach prinzipiell der CPU-Linie. Ausgehend von den Dokumenten des osmanischen Zentralarchivs erweckt Hanioglu hier indes zu sehr den Eindruck, nur die Daschnak hätte hinter den Widerstandsgruppen gesteckt. Armenische Memoiren und Quellen regionaler Missionen legen nahe, dass diese Gruppen - entsprechend einer jahrhundertealten armenisch-alevitischen Solidarität - Rückhalt bei den türkischen und kurdischen Aleviten hatten. Klar gemischt, wie Hanioglu selbst darlegt, war der Aufstand in Erzurum; vom März 1906 bis November 1907 leitete ein von Sabahaddin und der Daschnak inspiriertes lokales türkisch-armenisches Komitee diszipliniert die Geschicke dieser wichtigen Stadt im Nordosten der heutigen Türkei. Für das CPU-Zentralkomitee war wie für Abdulhamid solche christlich-muslimische Verbrüderung ein Alptraum, da sie die türkisch-sunnitische Vorherrschaft in Frage stellte.
Hanioglus Verdienst ist es, die Macher der (teilweisen) Machtergreifung vom Juli 1908, zu denen ab 1907 auch die später im Rampenlicht stehenden Talat in Saloniki und Enver in Monastir gehörten, ins rechte Licht zu rücken. Deren organisatorische Leistung wurde wegen ihrer konspirativen Natur sowohl von den Zeitgenossen als auch späteren Forschern unterschätzt. Als wichtigsten Aussenfaktor für die erfolgreiche Machtübernahme identifiziert Hanioglu das europäische Eingreifen in die Krise der osmanischen Provinz Mazedonien ab Ende 1907. Das CPU reagierte mit martialischen antieuropäischen Aufrufen; den jungen Offizieren (darunter Mustafa Kemal [Atatürk]), die ab 1907 in Scharen dem CPU beitraten und damit den Weg zum Erfolg bahnten, hämmerte es ein, sie seien als «Lieblinge des Vaterlandes» dazu berufen, Staat, Nation und Kalifat vor der «Vernichtung» durch Europa zu erretten. Im Juli 1908 gelangte somit eine politische Elite aus der Pariser Diaspora und aus Saloniki ans Ruder eines riesigen Staates, dessen Zentrum in den Provinzen Kleinasiens lag, von deren Leben sie aber keine Ahnung hatte. Hanioglus Darstellung legt nahe, dass sich die Armenier am Kongress der Opposition 1907 in Paris nicht zuletzt dank der Präsenz Sabahaddins von zu grossem Optimismus leiten liessen, indem sie CPU-Zusagen vertrauten und auf ihre stärkste Waffe, nämlich die diplomatische Einforderung der europäischen Garantie auf sichere Existenz in den Ostprovinzen (gemäss Berliner Vertrag 1878) verzichteten. Als sich die Zusagen nicht erfüllten und die Armenier 1913 doch wieder an die europäische Diplomatie gelangten, wurden sie vom CUP-Einparteienregime, das seit 1913 diktatorisch herrschte, als Verräter gebrandmarkt.
Hanioglus Beschreibung der jüdischen Beteiligung am CPU ist nüchtern; im Gegensatz zu einer Verschwörungstheorie, die noch heute populär ist und das CUP als jüdisch-freimaurerische Vereinigung darstellt, macht Hanioglu deutlich, dass das CPU zwar tatsächlich die internationalen Kanäle der Freimaurer nutzte und manche (zum Teil zum Islam konvertierte) jüdische Mitglieder und Sympathisanten namentlich in Saloniki besass, diese sich aber nie im Entscheidungszentrum der Macht befanden, sondern als Zudiener, Propagandisten und nützliche nichtmuslimische Aushängeschilder des Komitees gebraucht wurden. Den Zionisten, die sich an ihn wandten, machte Dr. Nazim gemäss Max Nordau im Herbst 1908 klar, was das Komitee von Autonomien hielt: «Der 'Ausschuss Fortschritt und Einigkeit' will Zentralisation und Alleinherrschaft der Türkischen [Rasse]. Er will aus der Türkei kein neues Österreich machen. Er will einen einheitlichen türkischen Nationalstaat, mit türkischen Schulen, türkischer Verwaltung, türkischer Rechtslage» (S. 260).
Für den reflektierenden Leser bietet der reichhaltige Text eine Fülle von Anregungen; bei allem kritischen Potential des Materials gibt der historiographische Duktus aber auch Anlass zu Hinterfragung. Hanioglu unterliegt nicht dem Machtvoyeurismus und selektiven Quellenfetischismus, die bei Hofhistorikern in Ankara gang und gäbe sind, wenn sie die Jungtürken und die nahtlos aus ihnen hervorgehende kemalistische Nationalbewegung darstellen. Es entspricht aber nicht dem sonst differenzierten Schreibstil, wenn Hanioglu den anti-nationalistischen CUP-Widersacher Sabahaddin und seine liberal-föderalistische Bewegung in Aneignung eines zeitgenössischen Zitats als «ausgelöschte Spezies, ewige Verlierer im ständigen Welttheater des Überlebenskampfes» bewertet (S. 129). Warum Sabahaddins Zuwendung zu den Sozialwissenschaften nur pejorativ als Flucht vor «verheerendem Misserfolg» in der politischen Arbeit interpretieren, wo doch das intellektuelle Defizit der Feinde Sabahaddins überdeutlich war, wie der Autor selbst betont?
Der historisch belastete Begriff «Realpolitik» darf nicht unbesehen übernommen werden. Der Pariser Historiker Hamit Bozarslan hat kürzlich in einem Artikel über den Prinzen Sabahaddin dessen schmerzliches «realpolitisches» Versagen als «acte de témoignage» mit bleibender Bedeutung für die Nachwelt interpretiert (Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 2002-3). Falls historische Arbeit einen intellektuellen Anspruch hat, dann zweifellos den, über das chronistische Nachzeichnen erfolgreicher Machtorganisation und Meinungsmache hinaus «Niederlage» als Pendant einer kurzschlüssigen Logik der Macht, die langfristige Schäden zeitigt, zu hinterfragen. Sabahaddins Analyse, die die Hauptprobleme der spätosmanischen Gesellschaft in der interethnischen Verständigung, der Sozialstruktur und im Bereich Erziehung ortete, klingt heute noch aktuell, während der Vorwurf seiner Gegner, sein Dezentralisierungsprojekt öffne der armenisch gefärbten internationalen Verschwörung zur Vernichtung des Türkentums Tor und Tür, an braune Besessenheiten erinnert.
«Der politische Diskurs zwischen 1908 und 1918 war eine vertraute Fortsetzung des vorhergehenden», schreibt Hanioglu, ohne damit einem historischen Determinismus das Wort zu reden (S. 7). Im dicken Fortsetzungsband, den man sich von ihm über die Jahre 1908-18 wünscht, müsste auch die «hoffnungslose Position Armeniens» Thema werden (so 1907 die Qualifizierung durch mazedonische Revolutionäre, die sich rühmten, nicht in die jungtürkische Falle zu tappen, S. 199). Dr. Sakir setzte 1915 als Chef der «Spezialorganisation» in den Ostprovinzen die totale Vernichtung der armenischen Gemeinschaft ins Werk (instruktiv ist in dieser Hinsicht auch der Abschnitt über die Rekrutierung von Todesschwadronen durch das CPU in Mazedonien 1907). Sakir blieb zusammen mit Nazim bis 1918 die massgebende graue Eminenz des CUP-Zentralkomitees, dann tauchte er unter - bis ihn 1922 ein Armenier in Berlin erschoss.
Hanioglus Buch ist sorgfältig gemacht und enthält wenig Druckfehler. Man vermisst allerdings eine vollständige Bibliographie der verwendeten Literatur, denn es ist auf den 180 eng gedruckten Anmerkungsseiten im Schlussteil schlicht unmöglich, die jeweilige Erstzitierung aufzufinden. Wenig lesefreundlich sind des weiteren gelegentliche lange Aufzählungen von Namen mitten im Lauftext (ca. 20 Personnamen in einem Abschnitt S. 198 f., rund 100 Ortsnamen S. 229). - Dieses Buch bedient all jene bestens, die historisch fundierte Einsichten in moderne nahöstliche Mechanismen von Ideologie, Macht und Konspiration gewinnen möchten. Es ist speziell empfehlenswert im Hinblick auf die angestrebte Integration der Türkei in Europa, die ohne Förderung gemeinsamen, pluralistischen Geschichtsverständnisses und - dies macht der dichte Band einmal mehr klar - umfassende kritische Aufarbeitung der jungtürkischen Epoche nicht gelingen wird.