S. Irrgang: Peregrinatio academica

Title
Peregrinatio academica. Wanderungen und Karrieren von Gelehrten der Universitäten Rostock, Greifswald, Trier und Mainz im 15. Jahrhundert


Author(s)
Irrgang, Stephanie
Series
Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald 4
Published
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Extent
310 S.
Price
€ 40,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Wolfgang Eric Wagner, Historisches Institut, Universität Rostock

‚Reisen bildet‘, sagt der Volksmund. Doch wozu reisen dann Gebildete? Um noch mehr zu lernen, aus Wissbegierde also, dem ‚Amor sciendi‘, wie in dem berühmten Scholarenprivileg Friedrich Barbarossas von 1155 zu lesen ist? „Wer sollte sich ihrer nicht erbarmen”, heißt es dort pathetisch, „die aus Liebe zur Wissenschaft heimatlos gemacht, sich selbst entäußern, aus Reichen zu Armen werden, ihr Leben allen Gefahren aussetzen und gar von niedrigen Menschen – was kaum tragbar ist – ohne Grund körperliche Gewalt erleiden?” Der Weg zur oder von der Universität war demnach mit erheblichen Risiken gepflastert. Da die ‚Peregrinatio academica‘ jedoch einen integrativen Bestandteil der universitären Schulung darstellte, habe der fahrende Gelehrte seine schützende Heimat gegen die Unwägbarkeiten des Unterwegsseins eingetauscht und sich somit zwangsläufig den anderen unbehausten und vagabundierenden Randgruppen zugesellt. Eine das fahrende Scholarentum romantisierende Schwankliteratur, Vagantenlyrik und studentische Trinklieder haben das Ihre zu Tradierung und Verfestigung dieses Bildes beigetragen.

Sozialgeschichtliche Untersuchungen der spätmittelalterlichen deutschen Universitätsbesucherschaft von oder nach dem Ansatz von Rainer C. Schwinges belegen indes, dass es sich hierbei keineswegs um ein Massenphänomen handelt, sondern um einen klischeebeladenen Mythos. Die Zahl der Fahrenden, die wenigstens einmal von einer Universität zu einer anderen zogen, war danach lediglich auf einen kleinen Bruchteil beschränkt, auf ca. 10-20 Prozent. Nur 2-5 Prozent gar haben mehrfach die Universität gewechselt. Für die große Mehrheit aller Besucher war also die Reisetätigkeit mit der Ankunft am Hochschulort beendet. Und auch die These vom Wissenstrieb als primärem Motiv, sich zu einer Universität aufzumachen, hatten Peter Classen und Heinrich Koller mit Verweis auf die engen Wechselwirkungen zwischen „Studium” und „Gesellschaft” schon relativiert. An die Stelle des ‚Amor sciendi‘ sind inzwischen Forschungsbegriffe wie ‚Professionalisierung‘ und ‚Karriere‘ getreten. Universitätswechsel und Inkaufnahme zum Teil beträchtlicher Entfernungen werden dabei als karrierefördernd angesehen. Doch war die soziale Entwurzelung der wandernden Gelehrten tatsächlich so vollständig, wie etwa die Vagantenpoesie glauben machen will?

Stephanie Irrgang hat sich in ihrer Dissertation, die an der Freien Universität Berlin im Wintersemester 2001/02 eingereicht wurde, vorgenommen, die Charakteristika und Voraussetzungen akademischer Wanderungen während des 15. Jahrhunderts zu untersuchen. Es geht ihr nicht darum, mit Hilfe statistischer Erhebungen „Migrationsmuster” aufzudecken, bei denen vor allem die zurückgelegte Distanz im Vordergrund stehe. Ebenso erscheinen ihr die matrikelbasierten Studien, die nach dem Modell von Schwinges mit Stichproben und Zeitreihenanalysen operierten, in ihren Urteilen zu pauschal und mittlerweile zu wenig innovativ. Sie will vielmehr die „Motive und Voraussetzungen für individuelle Entscheidungen zur Migration” aufhellen (S. 13).

Dabei stößt sie zunächst auf ein Quellenproblem: Spätmittelalterliche Reiseberichte, Selbstzeugnisse oder gar Tagebuchaufzeichnungen liegen kaum vor. Über Matrikeln und andere universitäre Quellen hinaus bezieht sie deshalb weitere „Ersatzquellen” in ihre Untersuchung mit ein: Testamente, Rentenbücher, Häuserlisten, Pfründenregister und privaten Bücherbesitz. Ausgehend von der These, dass das akademische Unterwegssein im Spätmittelalter von sozialen Regeln und örtlichen Beziehungen wie Verwandtschaft, Freundschaft, Patronage bestimmt gewesen sei, entscheidet sie sich für einen prosopographischen Ansatz. Als einheitliche Untersuchungskriterien wählt sie die Aufenthaltsorte und die Häufigkeit ihrer Wechsel, Studienfreundschaften und frühe Gruppenbildungen, regionale und soziale Herkunft sowie Pfründenversorgung – ein verflechtungsorientiertes Verfahren, das auf städtische Führungsschichten, Kanzleipersonal und vor allem Klerikergemeinschaften bereits erfolgreich angewendet worden ist.

Irrgang nimmt Angehörige der „akademischen Funktionselite” in den Blick, deren „Rang innerhalb der Universitäten (...) herausragend und durch spezielle Aufgaben und Funktionen konturiert” ist (S. 23). 95 „Führungspersönlichkeiten” wurden hierzu ausgewählt und im Anhang in Biogrammen vorgestellt, die „eine leitende Funktion in den ersten Semestern an den neugegründeten Universitäten” Rostock (gegr. 1419), Greifswald (1456), Trier (1473) und Mainz (1477) innehatten. Diese vier Hohen Schulen sind bislang nur wenig sozialgeschichtlich erforscht worden, und zudem sollen der Hanseraum und der mittelrheinisch-moselländische Raum unter dem Wanderungsaspekt miteinander verglichen werden. Daher werden je zwei universitäre „Funktionseliten” gemeinsam untersucht.

Obwohl die Rostocker und Greifswalder Professoren ausgeprägte studentische Wanderungen pflegten, blieb für sie doch immer der Bezug zu heimatlichen Kontakten im Hanseraum bestehen. Die meisten kamen aus der Region, und sie blieben auch dort. Ein Grund dafür dürfte in der dominierenden Rolle Lübecks zu suchen sein, woher immer wieder karrierefördernde Ressourcen bezogen wurden. Andererseits waren die hansischen Gelehrten über Rentenanteile aus Grundstücken und Dörfern sowie eine hohe Anzahl von privaten Stiftungen in ihrer Heimatregion stark verwurzelt. Demgegenüber waren die akademischen Wanderungen der Kollegen an den Universitäten Trier und Mainz wesentlich pfründengetragener, großflächiger, flexibler und verzweigter. Trotz des größeren Radius der Wanderungen war aber auch hier die Herkunft aus der Region als Faktor am bedeutendsten. Inwieweit auch die Gelehrten aus den Bischofsstädten über Grundbesitz am Hochschulort verfügten und Kaufgeschäfte tätigten, bleibt mangels Quellen jedoch unklar.

Sowohl der Kreis der Rostocker und Greifswalder Führungspersonen als auch die Gruppe der Trierer und Mainzer Professoren war von der breiten zahlungskräftigen Schicht der ‚divites‘ getragen, also Besuchern, „die schon jemand waren”, wenn sie zur Universität kamen. Mehrere dieser bereits arrivierten Gelehrten waren von ihren fürstlichen Protektoren zudem an eine prestigeträchtige Universität vorzugsweise in Italien geschickt worden, um ihre Studien zu vervollkommnen. Ihr Einfluss und ihre Reputation ließen diese Gelehrten dann zu begehrten Zielpersonen für die Neugründungen werden. Etwa die Hälfte beider „Funktionseliten” kam am Hochschulort in Kleingruppen an, deren Mitglieder auch späterhin bei verschiedenen Gelegenheiten miteinander kooperierten. Weitergehende Aufschlüsse hierzu liefern Analysen des politischen und intellektuellen Umfeldes der Hohen Schulen. Hier kann auf anregende Weise nachgewiesen werden, dass das gutachtliche Engagement in politischen und kirchlichen Kontroversen wie dem Stettiner Erbfolgestreit oder um das Wilsnacker Blutwunder karrierebedingte Wanderungen bewirkte. Ebenso konnten inneruniversitäre Auseinandersetzungen um Lehrrichtungen wie der Streit zwischen Realisten und Nominalisten Ortswechsel veranlassen.

Verallgemeinernd stellt Irrgang in ihrer Zusammenfassung fest, dass das Motiv für eine akademische Wanderung weniger das Lernen durch Unterwegssein gewesen sei, als vielmehr die Entfaltung und Anwendung sozialer Bezüge: „Die Peregrinatio academica ist ein pfründenfundiertes, klientelgetragenes, statusbedingtes, kleinräumiges und durch gemeinsame geistige Interessen motiviertes Bewegungsmuster.”(S. 191) So paradox es klingt: Eine räumliche Entfernung drückte regionale und soziale „Nähe” aus. Indem Heimatkontakte und Studienbekanntschaften die entscheidenden Voraussetzungen für ihn darstellten, erweist sich der akademische Ortswechsel nicht als „Abnabelungsprozess”, sondern als ein sozialer „Umnabelungsprozess”. Der Vergleich beider Gelehrtengruppen zeigt zum einen, wie unterschiedlich die regionalen Voraussetzungen waren, auf die bei den Wanderungen zurückgegriffen werden konnte. Er zeigt aber andererseits auch, dass in beiden Fällen das individuelle Verflechtungssystem den Ausschlag gab, und bestätigt somit die Ausgangsthese.

Durch ihre kombinierte Untersuchung von universitätsinternen und -externen Faktoren vermag Irrgang, nicht nur den personellen Austausch, sondern auch inhaltliche Wechselbeziehungen zwischen Studium und Gesellschaft sichtbar zu machen. In weiterführender Art gelingt das vor allem in den kleinen Studien zur politischen und geistesgeschichtlichen Umgebung der Universitäten. Sie entschädigen dann auch für die, wie sie selber einräumt, relativ breite Einleitung, in der Fragestellung und Methode begründet werden. Insbesondere der terminologischen Erörterungen, ob der Begriff ‚Reise‘, ,Mobilität‘ oder ‚Wanderung‘ eher zutreffend sei, hätte es in diesem Maße nicht bedurft, denn der tatsächlich zurückgelegte Weg ist ja in dieser Arbeit gerade nicht das Ziel. Im Gegensatz dazu wird der Begriff ‚Karriere‘ gar nicht definiert. Angesichts dessen, dass nur 2-5 Prozent aller Universitätsbesucher mehrfach den Hochschulort wechselten, hätte man erwarten können, dass der Zugriff auf diese Personengruppe erfolgt. Irrgang entschied sich jedoch für die „akademische Funktionselite”. Man könnte vermuten, dass mit dieser Auswahl beabsichtigt war, die Statusgruppe zu fassen, die von ihren Ressourcen her am ehesten in der Lage war, mehrfache Ortswechsel zu vollziehen, näher begründet wurde die Entscheidung jedoch nicht. Unverständlich ist auch, warum einige personengeschichtliche Informationen, die aus z.T. unediertem Quellenmaterial erhoben wurden und im Text erwähnt werden, dann in den Biogrammen nicht wieder auftauchen. Hier ließen sich auch einige Daten ergänzen. Etwa die bei der Anzahl der Probanden nicht unwichtige Tatsache, dass der zweite Rostocker Rektor Werner Brekewolt im Unterschied zur Mehrzahl der Magister und Studenten, die in den Anfangssemestern der Rostocker Universität aus Erfurt oder Leipzig überwechselten, aus Paris kam, wo er 1418 das Lizentiat im Kirchenrecht erworben hatte.1 Insgesamt ist das Verdienst hervorzuheben, erstmals die Eröffnungsklientelen der vier Universitäten personengeschichtlich ausgeleuchtet zu haben und die bislang raren Studien um eine weitere bereichert zu haben, die am Beispiel einer Personengruppe demonstrieren kann, dass der Einfluss der spätmittelalterlichen Gesellschaft auf das Studium keine Einbahnstraße darstellte.2

Anmerkungen:
1 Chartularium universitatis Parisiensis, Bd. 4, hrsg. v. Heinrich Denifle; Émile Châtelain, Paris 1887, Nr. 2048 u. 2094. Vgl. hierzu Tilmann Schmidt: Werner Brekewolt, Rektor 1420, in: Die Rektoren der Universität Rostock 1419-2000(= Beiträge zur Geschichte der Universität Rostock, H. 23., hrsg. v. Angela Hartwig; Tilmann Schmidt, Rostock 2000, S. 74.
2 Vgl. etwa Jürg Schmutz: Juristen für das Reich. Die deutschen Rechtsstudenten an der Universität Bologna 1265-1425, 2 Bde. (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 2,1-2), Basel 2000.

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