Jüdische Existenz in Deutschland – der Untertitel des Buches weist auf ein auch in den historisch orientierten Sozialwissenschaften prekäres Thema. Nur wenige empirische Studien leuchten dieses Feld für die Zeit nach 1945 in Westdeutschland aus, ganz im Gegensatz zum jüdischen Leben in der DDR. Y. Michal Bodemann, Soziologe an der Universität Toronto und seit zwei Jahrzehnten in diesem geschichtskulturellen Bereich als Wissenschaftler und mitunter auch in jüdischen Angelegenheiten tätig, hat sich im deutschsprachigen Raum besonders mit seinen unter dem Titel „Gedächtnistheater“ veröffentlichten Fallstudien 1 einen Namen auf diesem Gebiet erschrieben. Darin nahm er – mit dem sich auf Norbert Elias berufenden Doppelblick von „Engagement und Distanzierung“ – jüdisches Leben sowie deutsche Instrumentalisierungen und „Erfindungen“ desselben kritisch unter die Lupe.
Nun hat er erneut eine Sammlung von insgesamt zehn Aufsätzen vorgelegt, von denen sieben in veränderten Fassungen zwischen 1995 und 2002 bereits anderweitig veröffentlicht wurden, drei Texte stellen Originalbeiträge dar. Die Themen seiner Recherchen reichen von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zur jüngsten Gegenwart, von einer längeren Analyse früher und einflussreicher Darstellungen des NS-Genozids über kürzere Texte etwa zu Helmut Kohls Verhältnis zur Shoah und den Juden bis zur Frage nach einer möglichen jüdischen „Renaissance“ im heutigen Berlin.
Der programmatische Titel des Bandes steht in seiner intendierten Metaphorik für die zweifache Perspektive des Autors: Das auf die Juden in Deutschland gerichtete Diktum des Rabbiners Nathan P. Levinson vom „kleinen Boot in unruhigen Gewässern“ aufnehmend, offeriert Bodemann für das Bild von den „Wogen der Erinnerung“ eine Interpretation, die die Erinnerung an jüdische Geschichte einerseits als Notwendigkeit betrachtet, worin er aber andererseits gerade die Gefahr einer Vereinnahmung derselben durch die deutsche Politik und Gesellschaft angelegt sieht. Von dieser ambivalenten Sicht sind seine Beiträge geprägt, die zwischen scharfer und auch polemischer Kritik der deutschen Erinnerungsverhältnisse und einer bedächtigen Zuversicht hinsichtlich der jüngsten Entwicklung des „neuen deutschen Judentums“ pendeln.
Bodemanns Studien stellen die Fortführung seiner These von den deutsch-jüdischen Beziehungen als „Gedächtnistheater“ dar. So versteht er die Vergangenheitsdebatten seit den sechziger Jahren als „Theaterbühnen [...], auf denen Fragmente der Geschehnisse der Vergangenheit fortwährend neu inszeniert wurden“ (S. 63f.). In den so ausgetragenen Kontroversen erkennt Bodemann zwei miteinander ringende Deutungslinien: einen vom antijüdischen Kern der NS-Verbrechen abstrahierenden „universalistischen Diskurs“, in dem das jüdische Leiden zugunsten einer alle Opfer des Nationalsozialismus umfassenden Geschichte nivelliert wird, wogegen der nach seiner Interpretation seit den siebziger Jahren weltweit dominierende „partikularistische Diskurs“ diese Geschichte in Verengung auf die Juden als Haupt- oder alleinige Opfer scheinbar unfassbarer und undarstellbarer Leiden erzählt.
In der Bundesrepublik macht Bodemann hierbei Tendenzen einer „Verstaatlichung des Diskurses“ und „Verchristlichung des Gedenkens“ (S. 67, 79) aus, Begriffe, die er jedoch nirgends systematisch entwickelt. Beides versteht er als ursächlich für die – einmal dramatisierend als „Explosion des Gedenkens“ bzw. als „Gedenkinflation“, dann in problematischer medizinischer Terminologie als „epidemisch“ bezeichnete – starke Zunahme öffentlicher Erinnerung an die jüdische Opfergeschichte seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre: „die Neuerfindung der jüdischen Rolle im `Gedächtnistheater´, die ideologische Arbeit des imaginierten Juden, mit dem christlichen Idiom als Träger“, wodurch die „Verantwortung für die Verbrechen zerredet“ und „die Juden gleichzeitig religiös mythisiert“ worden seien (S. 81f.). Gerade weil Bodemann die Juden in Deutschland als „ethno-religiöse Minderheit“ begreift, fällt ihm auch die Kehrseite des Erinnerungsbooms auf, die „mangelnde Anerkennung des jüdischen Ethnos“ (S. 14, 19).
Bodemanns Deutungen sind eigenwillig und oft anregend, doch der Empiriker, der nach systematischen und breit durch Quellen fundierte Beweisführungen hierfür sucht, wird immer wieder enttäuscht und muss sich etwa damit zufrieden geben, dass die Verchristlichungsthese neben wenigen eher spekulativen denn fundierten Hinweisen eben nur mit Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal des Warschauer Gettoaufstands begründet wird – obwohl sie doch viel weiter tragen soll. Zuzustimmen ist dem Autor aber in seinem Plädoyer für eine multinationale Erklärung der Holocaust-Gedenkkultur, die er als „Bewegung“ (S. 115) einstuft.
Die in interpretatorischer Hinsicht interessanteste – und noch am besten fundierte – Studie über das deutsche „Negativgedächtnis“ entfaltet eine Deutung, die Hermann Lübbes vieldiskutierte These anhand literarischer und soziologischer Quellen empirisch zu begründen versucht. Lübbe argumentierte, das „kommunikative Beschweigen“ der NS-Vergangenheit sei jene Stille gewesen, „die das sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland“ darstellte. Bodemann ortet hier mehrere „Strategien der Mythologisierung“ (S. 28), deren Kern er in dem von ihm als „Gedächtnis-Negativ“ interpretierten Vergangenheitsdiskurs erkennt; dieser schweige über die eigentlichen Verbrechen und verweise stattdessen nur auf deren Begleiterscheinungen.
Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit der Walser-Bubis-Debatte im Lichte der Geschichte des Gedenkens an die „Reichskristallnacht“. Hier skizziert er in gedrängter Fassung nochmals seine bereits in „Gedächtnistheater“ vorgelegte Gedenktagsgeschichte, die schon damals in beträchtlichen Teilen extrem verkürzend und teilweise schlicht falsch – aber in gewisser Hinsicht die rhetorische Voraussetzung für die dramatisierende Narration derselben war. 2 Die jüngste Gedenktagsgeschichte deutet er, empirisch auf sehr dünnen Beinen stehend, als „Niedergang des 9. November“ (S. 95), wodurch Auschwitz – auch infolge der Etablierung des Gedenktages 27. Januar – „zu einer fernen Abstraktion“ (S. 107) geworden sei. In Wirklichkeit sei die Shoah als ein die Juden betreffendes historisches Ereignis in Deutschland von untergeordnetem Interesse, vielmehr gehe die eigentliche Debatte um die Frage, „wie Schuld und erhoffte Tilgung von Schuld – auch symbolisch durch finanzielle Entschädigung – mit den deutschen Kategorien nationaler Identität in Einklang zu bringen sind“ (S. 96). Walser sei es in diesem Zusammenhang um die Leugnung der Differenz des jüdischen Ethnos und damit der spezifischen jüdischen Erinnerung gegangen.
Die zweite Hälfte des Bandes bilden Aufsätze, die sich der inneren Struktur des Nachkriegsjudentums widmen, so etwa zur lange prägenden und vorherrschenden Mentalität der „Verweiler-Juden“, also der in Westdeutschland verbliebenen Displaced Persons. Abgeschlossen wird das Buch von einer Sichtung des jüngsten Umbruchs im „neuen deutschen Judentum“. Bodemann prüft, besonders am Beispiel Berlins, die als „Renaissance“ apostrophierten Veränderungen, die auch eine Wandlung des „jüdischen ethnischen Narrativs“ mit sich gebracht haben; auch er selbst spricht nun von einer „neuen Normalität“ (S. 188, 193). Und doch kommt er zu ambivalenten Schlüssen: Einerseits erkennt er einen realen politischen „Machtverlust“ der Juden (wofür er beispielhaft die Entscheidungsfindung im Falle des Jüdischen Museums anführt), andererseits sieht er keinen Anlass, in verbreitete Befürchtungen mit einzustimmen, wonach die Erinnerung an die Shoah zunehmend verblassen werde, denn „so lange Berlin Hauptstadt und deutsche nationale Identität ein Thema bleibt“, werde diese Erinnerung weitergehen.
Bodemanns Ansatz, mit der Perspektive ethnischer Differenz die deutsch-jüdischen Verhältnisse zu betrachten, hat auf den ersten Blick einiges für sich, gelingen ihm doch immer wieder unkonventionelle Einsichten. Allerdings bleiben Lücken bestehen, die vielleicht wichtigste: Was könnte Bodemanns Ansatz, die jüdische Minderheit primär als Ethnos und kategorial von „den Deutschen“ getrennt zu betrachten, beispielsweise hinsichtlich der Erinnerung an die NS-Judenverfolgung, tatsächlich heißen? Hierin und im kulturellen Bruch von Auschwitz ist die empirisch-analytische Ungenauigkeit des von ihm durchgängig verwendeten stereotypen Gegensatzpaares „Deutsche-Juden“ begründet, das von realen inneren Verbindungen (deutsche Juden, jüdische Deutsche) analytisch nichts zu wissen scheint. So ist bei ihm die Rede einerseits von „Juden in Deutschland“, andererseits von der „deutschen Umwelt, de[n] Anderen, der Täterseite“ (S. 19). Man muss gar nicht so weit gehen wie Rafael Seligmanns darauf gemünztes böses Wort von einer darin angelegten Selektion der Juden 3, vielmehr genügt der einfache Hinweis auf die Unterkomplexität dieser Begrifflichkeit. Verstärkt wird diese Reduktion sozialer Realität von einem oft polemischen und bisweilen drastisch-plastischen Stil. So changieren seine Texte zwischen Analyse und Feuilleton – anregend, aber mitunter auch ein Ärgernis.
Micha Brumlik hat in einer kritischen Rezension des Bandes gemeint, die Republik und ihre Sozialwissenschaften bedürften dringend dieses Buches. 4 In bestimmter Hinsicht mag dies zutreffen. Doch angesichts der obigen Kritik scheint mir der Wunsch nach einer thematisch gleichgerichteten, aber historisch gründlicher und systematischer vorgehenden, empirisch solider fundierten Untersuchung dringender zu sein.
Anmerkungen:
1 Bodemann, Y. Michal, Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Mit einem Beitrag von Jael Geis, Hamburg 1996.
2 Siehe dazu mit der nötigen Detailkritik meine Studie: Erinnern an den „Tag der Schuld“. Das Novemberpogrom von 1938 in der deutschen Geschichtspolitik, Hamburg 2001.
3 So in einer Rezension zu Bodemanns „Gedächtnistheater“: vgl. Seligmann, Rafael, Die Juden haben gefälligst gut zu sein, in: die tageszeitung, 26.3.1996, S. 12.
4 Brumlik, Micha, Die Erinnerungsgemeinschaft, in: die tageszeitung, 28.1.2003, S. 14.