Cover
Titel
George Tabori.


Autor(en)
Feinberg, Anat
Reihe
dtv portrait
Erschienen
Anzahl Seiten
189 S.
Preis
€ 10,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Roth, Ruhr-Universität Bochum

George Tabori ist längst zu einer unangefochtenen Theater-Größe, gar zur Legende geworden. Sein umfangreiches Werk und seine Bühnenarbeit wurden über lange Jahre hinweg nur in den Feuilletons und Theaterzeitschriften beachtet und zum Teil heftig diskutiert, während die Forschung Taboris Stücke nicht zur Kenntnis genommen hat. Erst seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die Wissenschaft seines Werkes angenommen und erlebt seitdem eine wahre Blüte.1 Nun liegt knapp ein Jahr vor seinem 90. Geburtstag endlich die erste Tabori-Biografie vor.

Anat Feinberg, Professorin an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg und ausgewiesene Tabori-Expertin, hat den Versuch unternommen, Dichtung und Wahrheit in Taboris Lebensgeschichte zu entflechten, die er selbst in zahlreichen Anekdoten und Andeutungen nahezu unentwirrbar miteinander verwoben hat – zuletzt in dem ersten Teil seiner Autobiografie.2 Als Grundlage dienen Feinberg Interviews und vor allem das Tabori-Archiv in der Stiftung Archiv der Akademie der Künste in Berlin, darunter in erster Linie der umfangreiche Briefwechsel George Taboris mit seinem Bruder. So gelingt Feinberg eine facettenreiche Schilderung der Biografie, in der insbesondere über Taboris Kindheit und Jugend in Ungarn, seine Zeit in England und die schwierigen und wechselvollen Erfahrungen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg viel Neues berichtet wird. Mit den ersten Erfolgen seiner Theaterarbeit in Deutschland tritt das Leben Taboris in Feinbergs Darstellung etwas in den Hintergrund, während die Analyse der Stücke und der Regiearbeit Taboris starkes Gewicht erhält.

In der Bundesrepublik erreichte die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Politik, Justiz, Kunst und gesamter Gesellschaft in den 1960er Jahren eine neue Qualität. Die Verjährungsdebatten, der Eichmann-Prozess in Jerusalem, der Frankfurter Auschwitz-Prozess und die Debatte um Hochhuths „Der Stellvertreter“ können dafür beispielhaft genannt werden. Auch auf dem Theater vollzog sich ein Wandel: Nach der Sentimentalisierung des Leidens in der Bühnenadaption des Tagebuchs von Anne Frank3 standen die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und die Darstellung der Shoah ganz im Zeichen des Dokumentartheaters, dem aber unter anderem der Vorwurf einer Marginalisierung jüdischen Leidens gemacht wurde.4 Vor diesem Hintergrund erschließt sich erst das Neue und radikal Andere an Taboris Thematisierung der Shoah im Theater.

Den Auftakt dazu bildete sein Stück „Die Kannibalen“, das im Dezember 1969 in Berlin uraufgeführt wurde und das für einige verstörte Reaktionen in der bundesdeutschen Theaterkritik gesorgt hat. Das Stück handelt davon, wie eine Gruppe von Söhnen mit Hilfe von zwei Auschwitz-Überlebenden versucht, einen Teil der Geschichte ihrer in Auschwitz ermordeten Väter 25 Jahre nach dem Krieg zu rekonstruieren. In einem Handgemenge in der Baracke in Auschwitz wurde ein Mithäftling getötet. Dieser wird nun von den anderen als Mahl zubereitet. Während des Kochvorgangs werden in szenischen Erinnerungsspielen verschiedene Episoden aus dem Leben der einzelnen Häftlinge nachgespielt. Am Ende erscheint der SS-Mann Schrekinger in der Baracke, erkennt die Situation und will die Häftlinge zwingen, von ihrem Kameraden zu essen, während ein Kapo diese düstere Szenerie fotografieren soll. Nun gewinnen die zuvor schon durchschimmernden Skrupel der Häftlinge die Oberhand, und sie verweigern das Essen. Nur zwei scheinen zu essen; sie überleben Auschwitz. Erst mit ihrer Hilfe ist es den Nachgeborenen überhaupt möglich, die Geschichte ihrer Väter zu rekonstruieren. Damit stellte Tabori im Gegensatz zu den bekannten Dramen der Zeit („Die Ermittlung“, „Der Stellvertreter“ u.a.) die Opfer in den Mittelpunkt, ohne diese und ihr Leiden zu sentimentalisieren. Mit Bezug auf Adorno hat Tabori geschrieben: „Was nach Auschwitz unmöglich geworden ist, das ist weniger das Gedicht als vielmehr Sentimentalität oder auch Pietät. Es wäre eine Beleidigung der Toten, etwa um Sympathie für ihre Leiden zu werben oder die zermalmende Wucht ihrer totalen Ausgesetztheit zu bejammern. Das Ereignis ist jenseits aller Tränen [...].“5

In den „Kannibalen“ sind die Motive und Themen der Theaterarbeit Taboris schon enthalten, die er auch in seinen späteren Stücken wie „Mutters Courage“ oder „Mein Kampf“ immer wieder aufgreift, variiert und erweitert. Hervorzuheben sind hier vor allem die Opfer/Täter-Dialektik, das Interesse am Unbewussten, Irrationalen und Grotesken sowie am Verhalten in Grenzsituationen. In der Darstellung Feinbergs sind denn auch diese Elemente und vor allem das Verständnis der Werke und Bühnenarbeiten Taboris als „Experimente mit dem Theater als Ort der Erinnerung“ (S. 79) der rote Faden. Feinberg arbeitet diese und viele andere Facetten in Taboris Theaterarbeit sehr souverän heraus, hat stets den Kontext der Entwicklung des Theaters im Blick und beleuchtet die verschiedenen Entwicklungsstufen bis hin zum – nie als endgültig abgeschlossen verstandenen – Stück.

Bei aller Sympathie und großem Einfühlungsvermögen für Tabori verliert Feinberg meist nicht die kritische Distanz zu ihrem Protagonisten. Sie schildert Taboris Weg vom Bremer Theaterlabor, über München bis hin zum Höhepunkt in Wien mit der Aufführung von „Mein Kampf“ am Burgtheater. Durchaus kritisch gewürdigt wird auch die Zeit Taboris als Geschäftsführer, Direktor und künstlerischer Leiter des Theaters „Der Kreis“ in Wien.

Abgerundet wird der handliche Band durch eine Zeittafel, die in aller Kürze die wichtigsten Stationen Taboris auflistet, durch eine umfassende Bibliografie und – was längst nicht mehr selbstverständlich ist – durch ein Personenregister. Die Darstellung wird begleitet von farblich abgehobenen Zitaten und Begriffserklärungen sowie von Angaben zu verschiedenen Personen, die jeweils das untere Viertel der Seite einnehmen. Diese Häppchen-Kultur gehört zur Konzeption der Reihe und ist nicht Feinberg anzulasten. Nichtsdestotrotz stört es den Lesefluss – einiges davon hätte besser in den Text integriert werden können, manches zeugt von einer deutlichen Unterschätzung und Unterforderung des Lesers. Auf der anderen Seite erleichtern die Erläuterungen einem breiteren Leserkreis den Zugang zur Materie. Ein großer Leserkreis ist diesem Buch auf jeden Fall zu wünschen, das außer einer gut geschriebenen Biografie auch eine glänzende Einführung in das Werk und die Arbeit Taboris darstellt.

Anmerkungen:
1 Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.), Theater gegen das Vergessen: Bühnenarbeit und Drama bei George Tabori, Tübingen 1997; Höyng, Peter (Hg.), Verkörperte Geschichtsentwürfe: George Taboris Theaterarbeit, Tübingen 1998; Feinberg, Anat, Embodied Memory: The Theatre of George Tabori, Iowa City 1999; Guerrero, Chantal: George Tabori im Spiegel der deutschsprachigen Kritik, Köln 1999; Haas, Birgit, Das Theater des George Tabori: Vom Verfremdungseffekt zur Postmoderne, Frankfurt am Main 2000; Strümpel, Jan: Vorstellungen vom Holocaust. George Taboris Erinnerungsspiele, Göttingen 2000; Roth, Markus: Theater nach Auschwitz: George Taboris „Die Kannibalen“ im Kontext der Holocaust-Debatten, Frankfurt am Main 2003.
2 Tabori, George, Autodafé. Erinnerungen, Berlin 2002.
3 Goodrich, Frances; Hackett, Albert: Das Tagebuch der Anne Frank. Ein Schauspiel, Frankfurt am Main 1958.
4 Hier ist vor allem Peter Weiss’ dramatische Bearbeitung des Auschwitz-Prozesses zu nennen: Weiss, Peter, Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen, Frankfurt am Main 1965. Zu den Vorwürfen vor allem gegen Peter Weiss vgl. Young, James E., Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt am Main 1997, S. 122ff. Eine kritische Auseinandersetzung mit Youngs radikaler Kritik an Weiss und dem Dokumentartheater bietet: Cohen, Robert, Identitätspolitik als politische Ästhetik. Peter Weiss’ Ermittlung im amerikanischen Holocaust-Diskurs, in: Baer, Ulrich (Hg.), „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000, S. 156-172.
5 Tabori, George, Unterammergau oder Die guten Deutschen, Frankfurt am Main 1981, S. 38.

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