Titel
Demokratie. Eine deutsche Affäre
Weitere Titelangaben
Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart


Autor(en)
Richter, Hedwig
Erschienen
München 2020: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 26,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Jansen, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier

Dieses Buch zielt auf ein breites Publikum und eine große Medienresonanz. Das Verlagskonzept ist aufgegangen. Die Autorin erhielt den Anna Krüger Preis für „gute und verständliche Wissenschaftssprache“ des Wissenschaftskollegs zu Berlin – Laudator war Wolfgang Schäuble. [Anm. der Red., 10.02.2021: Hedwig Richter erhielt den Preis für ihr 2017 in der Hamburger Edition erschienenes Buch „Moderne Wahlen“. Der Verlag C.H. Beck wirbt auf seiner Website aber ebenfalls mit dem Preis. Die Verleihung fand am 27. Oktober 2020 im Humboldt-Saal der Staatsbibliothek Unter den Linden in Berlin statt.] „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ stand im Oktober 2020 auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von ZDF, ZEIT und Deutschlandfunk Kultur; inzwischen ist die dritte Auflage in den Läden. Hedwig Richter, Professorin an der Universität der Bundeswehr München, erzählt die Geschichte der Demokratie seit der Aufklärung, also die „Inklusionsrevolution“ (Rudolf Stichweh), in der immer mehr Menschen politisch mitbestimmen durften. Die Autorin definiert „Demokratie“ als „ein Projekt von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit“ (S. 10). Richter verteidigt die Demokratie ohne Wenn und Aber. Sie macht deutlich, dass Krisen immer zur Demokratie dazu gehör(t)en, plädiert für Gelassenheit, Geduld und Pragmatismus. In der Grundstruktur ist ihre Argumentation teleologisch. Denn das Ausmaß an Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit, das derzeit in Deutschland erreicht sei, bedeute einen Höhepunkt der historischen Entwicklung.

Für Richter handelt es sich beim „normative[n] Projekt der Demokratie“ (S. 10) um „eine Geschichte, die den ganzen Menschen mit Leib und Seele betrifft. Sie ist voller Gefühle“ (S. 11). Damit hat Richter ihren innovativen Ansatz benannt: Demokratiegeschichte mit Fokus auf Körper- und Gefühlsgeschichte. Vier „Thesen“ skizzieren den Gang ihrer Argumentation: Demokratie sei (erstens) vorwiegend von „Eliten“ durch (zweitens) Reformen gefördert worden. Revolutionen hätten der Entwicklung der Demokratie meist geschadet – außer 1848/49 und 1989/90. Drittens sei Demokratiegeschichte „wesentlich eine Geschichte des Körpers, seiner Misshandlung, seiner Pflege, seines Darbens – und seiner Würde“ (S. 13). Für Richter ist die entscheidende Voraussetzung für (moderne) Demokratie und die Idee der Gleichheit, dass die Menschen den Körpern ihrer Mitmenschen Respekt zollten und „Folter und Prügelstrafen nicht mehr als Unterhaltungsspektakel, sondern als widerlich, schließlich sogar als Skandal“ empfanden (S. 14). In dieser These steckt der originelle Kern von Richters Buch. Die vierte These ist wieder so wenig originell wie die ersten beiden: Demokratiegeschichte sei „eine internationale Geschichte“ (S. 15).

Statt den Zusammenhang zwischen Körper, Gender und Demokratisierung in seinen Ambivalenzen historisch herzuleiten und zu veranschaulichen, plustert Richter sich auf und provoziert Widerspruch. So behauptet sie ohne jeden Beleg, „die Geschichtswissenschaft“ tendiere dazu, „Demokratie national zu erzählen“ (S. 15). Die historischen Bücher, die zuletzt auf Deutsch zum Thema erschienen sind, tun dies jedenfalls nicht: weder Ute Daniel in ihrer „Postheroischen Demokratiegeschichte“ (2020) noch Richter selbst in ihrer Habilitationsschrift (Buchfassung 2017), weder Luciano Canfora (2013) noch Paul Nolte (2012) oder Pierre Rosanvallon (2006). Richter hat sie alle gelesen, greift aber zu der alten Machostrategie, sich mit der wortstarken Revision eines längst überholten Forschungsstandes interessant zu machen. An anderer Stelle fordert sie eine stärkere Berücksichtigung der Frauen in der Geschichte der Revolution(en) 1848/49 (S. 83), ignoriert aber die einschlägigen Arbeiten von Carola Lipp, Gabriella Hauch, Marion Freund und anderen.

Auch methodisch geht Richter Wege, die beim Fachpublikum auf Vorbehalte treffen dürften. Ganz pandemiekompatibel präsentiert sie „die Affäre der deutschen Demokratie als eine Serie – mit allen menschlichen Abgründen. […] eine Modernisierungserzählung, deren Stoff Fiktionen, Wahrheiten und auch Zufälle sind. […] eine leidenschaftliche, optimistische Chronologie […], in deren Herz der Zivilisationsbruch des Holocaust steckt. Es ist keine geradlinige Geschichte, deren Ende feststeht. Ganz im Gegenteil. Die Affäre geht weiter. Die nächste Staffel folgt“ (S. 18). Dieser letzte Absatz der Einleitung zeigt vier Charakteristika des Buchs, die aus wissenschaftlicher Sicht gravierende Schwächen sind, zugleich aber dessen Erfolg (mit)erklären: Banalitäten, schräge Metaphern, emotionaler Überschwang und Geschichtsschreibung als leicht konsumierbare „Serie“ (die 326 Textseiten sind unterteilt in meist 1-3 Seiten lange Kapitelchen). Der Versuch, journalistisch zu schreiben, führt zu Stilblüten, etwa über die Französische Revolution: „Politik hatte sich von den Fürstenhöfen aufgemacht und die Herzen der Bürger und Bürgerinnen erreicht“ (S. 27); oder über 1914: „Der Kriegsbeginn offenbarte eine unheimliche Gewalt von Demokratie“ (S. 175).

Ein weiteres Problem ist Richters unscharfe Terminologie. Zu nennen sind: (1) fragwürdige Kategorien und Bewertungen wie „progressiv“ und „fortschrittlich“, ohne zumindest die Messlatte solcher Bewertungen offenzulegen; (2) Staaten, Völker oder gar Revolutionen als Akteure, was zwar häufig zu lesen, aber keine vorbildliche Wissenschaftssprache ist; und (3) der diffuse Gebrauch von zentralen Kategorien des Buchs, etwa „Nation“ (meist ohne Artikel), zum Beispiel „Nation ergab sich geradezu notwendig aus den Demokratisierungsprozessen“ (S. 199). Ist mit „Nation“ der Nationalstaat gemeint oder der Nationalismus? Die Nationalismusforschung, insbesondere die Ambivalenz von „Volk“ als demos und ethnos, die für die Entwicklung der modernen Demokratie fundamental ist, wird weitgehend ignoriert.

„Demokratie. Eine deutsche Affäre“ gliedert sich in fünf Kapitel. Das erste behandelt die Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution. Mitleid sei ein „Kind der Aufklärung“ und „nährte die Idee der Gleichheit“ (S. 21). Damit ist Richter bei der Politik, wo sie die Impulse übergeht, die für die deutsche Demokratie aus Frankreich kamen, und einen deutschen Sonderweg postuliert: Seit der Spätaufklärung habe sich hier die Verehrung für die Germanen mit „neuen Ideen von Gleichheit und Menschlichkeit“ verbunden. „Patriotismus galt vielen als urdeutsches Phänomen und Demokratie als eine deutsche Affäre“ (S. 29). In der Fußnote zu dieser erneut diffusen Aussage (wer sind die „vielen“?) stehen nur Belege, die nicht passen: eine Stelle in Steffen Martus' „Aufklärung“ (2015) und eine in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ (1972), wo es zwar um Autoren wie Gervinus und Bluntschli geht, die die „deutsche“ Demokratie auf mittelalterliche „Genossenschaften“ und auf den Geist des Protestantismus und Calvinismus zurückführten und von der antiken Tradition abgrenzten. Diese Herleitungen einer „deutschen“ Demokratie stammen aber aus den 1850er-Jahren, also nach der nationalistischen Fundamentalpolitisierung in den Revolutionen von 1848/49, und nicht aus dem Kontext, in den Richter sie stellt.

Das zweite und dritte Kapitel behandeln das bürgerliche „Projekt“ (dieses Modewort kommt auf jeder zweiten Seite vor) sowie die damit verbundenen Inklusionen und Exklusionen mit Schwerpunkten auf der Zeit der europäischen Revolutionen 1847–1849 und der „Reformzeit“ um 1900. Durch die Betonung von Gender-Ungerechtigkeit und körpergeschichtlichen Aspekten bietet das Buch hier anregende Erkenntnisse. Da für bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften das Eigentum und damit verbundene Rechte fundamental sind, fragt Richter immer wieder, wem ein Körper „gehörte“. Für Frauen bestand die Exklusion darin, dass der Ehemann oder Vater über ihren Körper verfügen, sie züchtigen durfte, dass zudem ihre Freizügigkeit eingeschränkt war. Die „Demokratisierung des Mitgefühls“, die solche Exklusionen erkennt und kritisiert, verlaufe parallel zur politischen Demokratisierung. Die oft sprunghafte Argumentation stellt manch erhellende Zusammenhänge her, es zeigen sich aber auch erstaunliche Lücken. Das Hambacher Fest 1832 wird in seiner Bedeutung als erste demokratisch-nationalistische Massendemonstration nicht gewürdigt, deren Veranstalter zudem Frauen ausdrücklich einluden. August Bebel als Vorkämpfer des Frauenwahlrechts wird zeitlich falsch situiert.

Unter der eigentümlichen Überschrift „Ambiguitätstoleranz des verfassten Staates“ integriert Richter die Gründung des Norddeutschen Bundes und Deutschen Reichs mit der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts in ihr Fortschrittsnarrativ, macht es jedoch durch unklare Begriffe (Ambiguitätstoleranz) und Aussagen ohne klaren historischen Bezug (z.B. S. 133 über Parlamente) wieder schwer, ihre Argumente nachzuvollziehen. Über die Verfassung von 1867 heißt es: „Ein Grundrechteteil wie in der Paulskirchenverfassung von 1849 fehlte, weil man nicht wie 1848/49 übermäßig lange über sie diskutieren wollte“ (S. 134). In der einschlägigen Literatur lässt sich nachlesen, dass Bismarck das verhindert hat, der aber in Richters harmonistischer Erzählung fast nur als Begründer des Sozialstaats und nicht als erbitterter Gegner von Parlamentarisierung und Grundrechten auftaucht. Sie behauptet (mit Thomas Nipperdey) im Widerspruch zum Text der Reichsverfassung und den meisten Expert:innen, es sei „eine von Bismarck in die Welt gesetzte Legende“ (S. 135), dass das Deutsche Reich ein Fürstenbund war. Richter lässt offen, was es stattdessen gewesen sein soll. Dass der Reichstag kaum Kompetenzen hatte, bleibt unerwähnt. In ihrer Aufzählung, was dort diskutiert wurde, nennt Richter „den immer größer werdenden Bereich des Sozialen“, eine Seite später: das Reich sei „zunehmend zum Sozialstaat geworden“ (S. 135f.). Das ist alles vereinfachend von heute gedacht, ohne historische Kontextualisierung und ohne Berücksichtigung der aktuellen Forschung – in den Fußnoten wird mit Abstand am häufigsten Nipperdeys dreibändige „Deutsche Geschichte“ (1983–1992) zitiert. Während für Nipperdey das Kaiserreich ein „Machtstaat vor der Demokratie“ war, bezeichnet Richter es als Demokratie (S. 186: Überschrift). Gemessen an ihrer zitierten Definition erscheint das als verfehlt – trotz allgemeinem (Männer-)Wahlrecht und Anfängen von Sozialpolitik, deren Bedeutung Richter weit überschätzt.

Das vierte Kapitel behandelt die Epoche der Weltkriege. Richters plausible Grundthese ist hier, dass Kriege die Demokratisierung befördert hätten – nur um welchen Preis! Und: war es nicht doch eine Revolution, die den tapfer an der „Heimatfront“ durchhaltenden Frauen das Wahlrecht bescherte? Instruktiv ist der Vergleich zwischen den Friedensverhandlungen in Wien 1815 und in Versailles 1919, der verdeutlicht, was die „neue Macht der Öffentlichkeit“ (S. 200) bewirkt hatte. Das „Dritte Reich“ wird recht knapp behandelt. Dass die „willigen Deutschen“ (S. 211) ihre Affäre mit der Demokratie beendeten, passt schlecht in Richters Fortschrittsnarrativ. Im mit Abstand längsten Teilkapitel (S. 230–238) analysiert sie mit ungewöhnlich vielen und präzisen Fußnoten „Parlament und Wahlen im Nationalsozialismus“. Der Nationalsozialismus und andere „massenpartizipative Diktaturen“ (S. 233) wie Bolschewismus oder Fascismo inszenierten sich als Demokratien.

Das letzte Kapitel gilt der „unwahrscheinlichen“, aber erfolgreichen „Demokratie nach dem Nationalsozialismus“. Während Richter die Gründung der Bundesrepublik und ihrer Institutionen mit viel Empathie schildert, besonders für die beteiligten Frauen, wird die Darstellung im Teilkapitel „Der befreite Körper“ wild assoziativ. Auf nur 10 Seiten (S. 284–294) behandelt sie die Geschlechterordnung in der frühen Bundesrepublik, die beengten Lebensverhältnisse, das „Wunder der Wirtschaft“ , die Abkehr der SPD vom Klassenkampf, Großsiedlungen der „Neuen Heimat“, Wohlstand in der DDR, Vergewaltigung in der Ehe, Frauenemanzipation, eine Tabelle zur Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik 1949–2017, eine Abbildung der weiblichen Geschlechtsorgane aus dem „Frauenhandbuch“ (1972), Brandts Demokratisierungsprogramm, Jugendprotest gegen Kapitalismus und Kirche sowie die Pille. Richter widerspricht der verbreiteten These von der Westernisierung Deutschlands seit 1945: „Demokratie war immer auch eine deutsche Affäre. Die deutsche Geschichte ist kein Weg nach Westen. Deutschland war stets ein Teil des Westens“ (S. 325). Und die DDR?!

Im Ausblick mit dem poetischen Titel „Eine Affäre von Krise und Glück“ versucht Richter in einem Schaubild (S. 316) ihre Teleologie vom Siegeszug der Demokratie zu untermauern. Unter Verweis auf die NGO Freedom House – erneut ohne Quellenangabe – präsentiert sie eine Kurve, in der 1945–2018 die Zahl der Demokratien kontinuierlich von 12 auf 99 gewachsen sei. Auf der Website von Freedom House steht jedoch: „2019 was the 14th consecutive year of decline in global freedom“.1 Erneuter Befund: Die Mut machende Botschaft hält einer (quellen)kritischen Überprüfung nicht stand.

Das Genre des populären historischen Überblicks, der mehr auf Talkshows und Bestsellerlisten als auf ein Fachpublikum zielt, ist normalerweise von alten Männern besetzt. Insofern ist Richters Erfolg ein Zeichen der Demokratisierung. Ich hätte mir nur gewünscht, dass dieser Durchbruch mit einem überzeugend historisch argumentierenden Buch ohne die zahllosen, hier nur knapp umrissenen inhaltlichen und handwerklichen Fehler2 gelungen wäre. Und die Juror:innen der Bestenlisten und Buchpreise sollten wieder genauer und kritischer lesen!

Anmerkungen:
1https://freedomhouse.org/explore-the-map?type=fiw&year=20202020 (30.01.2021).
2 Die ursprüngliche Rezension mit detaillierteren Nachweisen musste für den bei H-Soz-Kult üblichen Rahmen stark gekürzt werden. Die Langfassung findet sich unter https://www.academia.edu/45011956 (30.01.2021).

Kommentare

Von Jansen, Christian15.06.2021

Christian Jansen
Zur Replik von Hedwig Richter auf meine Rezension von „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ vom 09.02.2021

Ich freue mich, dass Hedwig Richters Replik in erster Linie darauf abzielt, Sachargumente auszutauschen. Denn darum sollte es gehen. Stattdessen hatten verschiedene Akteure vor allem auf Twitter, aber auch Patrick Bahners in der FAZ (17.03.2021), der kritische Rezensenten mit Messerstechern verglich, in der Debatte um Richters Buch identitätspolitische Fronten aufgebaut: Männer gegen Frauen, alt gegen jung, Etablierte gegen Außenseiterin, langweilige vs. social media-kompatible Wissensvermittlung – und Hedwig Richter hatte diese Zuspitzungen immer wieder durch Herzchen auf Twitter geliked. Umso besser, dass sie nun, nachdem einige Zeit vergangen ist und sich kein „neuer Historikerstreit“ entwickelt hat, zum wissenschaftlichen Diskurs zurückkehrt. Dabei lenkt sie auch inhaltlich ein, wenn sie etwa die Rolle von Revolutionen und Reformen für die Durchsetzung der Demokratie nun als dialektischen Prozess charakterisiert.1

Vielleicht entwickelt sich aus der unterschiedlichen Bewertung der deutschen Demokratiegeschichte und besonders der demokratischen Elemente im Deutschen Reich von 1871 wie im „Dritten Reich“ sogar ein neuer, spannender Historiker:innenstreit. Denn Streit schafft Aufmerksamkeit, und die kann unser Fach immer gebrauchen. Alle großen Kontroversen in der Geschichtswissenschaft drehten sich allerdings im Kern um politische Fragen. Denn so unpolitisch, wie gern behauptet, ist unser Fach nicht. Für einen Historiker:innenstreit müsste Hedwig Richter nun ihre politische Agenda offenlegen. Geht es in ihrem Buch um „liberalkonservative Legitimationswissenschaft, garniert mit einer Prise Feminismus“, wie Sonja Dolinsek und Claudia Gatzka schrieben und auch ich vermute?2 In ihrer Replik distanziert sich Richter indirekt von solchen Zuordnungen. Einige jüngere politische Interventionen werfen aber weitere Fragen auf, welche politischen Ziele die These vom letztlich unaufhaltsamen Siegeszug der Demokratie fördern soll: weniger Kritik an den konservativen Eliten von Kaiser bis Bismarck, ein ungebrocheneres Verhältnis zur deutschen Vergangenheit, Frauen als bessere Demokratinnen?

Ein wesentlicher Teil der Kritik richtete sich gegen die populäre Darstellungsform des Buchs. Wie weit dürfen wissenschaftliche Standards, die eine ordentliche Professorin an ihre Studierenden vermitteln soll, verletzt werden, um ein populäres, auf Auflage, Talkshows etc. zielendes Buch zu schreiben? Die Kritik richtete sich weniger gegen Richters Argumente, sondern gegen deren Begründung und empirische Absicherung, gegen ihre Terminologie und mangelnde Rezeption der bisherigen Forschung, aber auch gegen handwerkliche Fehler insb. im Anmerkungsapparat. Auf einige dieser Kritikpunkte geht Richters Replik ein. Ich verbinde meine Reaktion mit einigen Bemerkungen, die meine Kritik an ihrer Vorgehensweise präzisieren.

Zunächst muss ich einen Fehler einräumen: Gabriella Hauch ist mit einem Aufsatz im Literaturverzeichnis vertreten. Ich habe zu Unrecht behauptet, Richter habe sie ignoriert. Auf den ersten Blick ähnlich ist es bei meiner Behauptung, Richter habe keine passenden Belege geliefert für eine These zur Spätaufklärung. Sie schreibt in ihrer Replik, dass sie sich auf Steffen Martusʼ Buch „Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert“ beziehe.2 Aber an der zitierten Stelle ist nicht von Demokratie die Rede, sondern von „Gleichheit“. Für die frühen Nationalisten der 1770er-Jahre, über die Martus an jener Stelle schreibt, waren die „Germanen“ der Antike, über die Tacitus berichtet hat, ein Vorbild, und sie sahen bei ihnen damals aktuelle Ziele und Werte des „Sturm und Drang“ verwirklicht. Das fanden schon damals manche quellenkritisch problematisch und sogar lächerlich. Diese Debatten spielten sich in kleinen Zirkeln ab – es dürften kaum 1.000 Menschen daran beteiligt gewesen sein. Ich halte also daran fest, dass man aus der Stelle bei Martus und dem, was wir über die politische Öffentlichkeit der 1770er-/1780er-Jahre wissen, nicht schließen kann: „Patriotismus galt vielen als urdeutsches Phänomen und Demokratie als eine deutsche Affäre.“ Dieser Satz ist typisch für Richters Arbeitsweise, auf schmaler und fragwürdiger empirischer Basis zu verallgemeinern („galt vielen“) und problematische Kategorien zu benutzen – hier werden die angeblichen Vordenker der Demokratie „progressiv“ genannt. Was ist ihr Maßstab für „Fortschritt“? Und was will Richter damit sagen, dass damals „vielen“ „Demokratie als eine deutsche Affäre“ galt? Weiter behauptet Richter, man müsse bei dem schillernden Wort „Volk“ nicht differenzieren zwischen „Demos“ und „Ethnos“, also zwischen den Wähler:innen in der Demokratie und dem Volk als Abstammungsgemeinschaft, von dem viele Nationalist:innen sprechen. Diese Unterscheidung präge „nicht die Demokratiegeschichte“. Die dann angeführten Unterschiede zwischen den rassistisch begründeten Einschränkungen des Wahlrechts in den USA und der Zulassung polnischer Wähler und Abgeordneter im Kaiserreich lassen sich aber doch gar nicht analysieren, ohne auf die Definition des Volks als Souverän einer Demokratie einzugehen! Das Beispiel zeigt weiter, dass die USA im 19. Jahrhundert eine Demokratie waren und das Kaiserreich nicht. Denn zu den fundamentalen Charakteristika jeder Demokratie gehört, dass entschieden werden muss, für wen der demokratische Gleichheitsgrundsatz gilt und für wen nicht. Ausschluss gehört zur Demokratie – keine Inklusion ohne Exklusion4: Die Kriterien sind Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Rasse, Religion, Fremdheit usw. Hingegen war das Kaiserreich als Fürstenbund nicht durch Volkssouveränität, sondern durch Gottesgnadentum legitimiert. Die preußischen Könige hatten seit der Teilung Polens immer wieder um die Loyalität ihrer „lieben polnischen Kinder“ geworben. So wurden sie auch Untertan:innen in dem Kaiserreich, das ihr König mit anderen Fürsten gründete, und erhielten das Wahlrecht. Mit Demokratie hatte das nichts zu tun.

Richter unterstellt mir ein Missverständnis, weil ich ihre Kapitelüberschrift über die Einführung des Frauenwahlrechts „Demokratisierung der Demokratie“ (S. 186) so aufgefasst habe, dass die bereits erreichte Demokratie des Kaiserreichs mit dem demokratischen Männerwahlrecht nun durch die Einbeziehung der Frauen demokratisiert worden sei, dass also das Kaiserreich bereits eine Demokratie war. Wie anders kann man diese Überschrift verstehen? Hier rächt sich erneut Richters Stil: Fehlende begriffliche Präzision provoziert Missverständnisse.

Schließlich: Dass mir „Geschlechter- und Frauengeschichte“ „lächerlich“ erscheine, ist eine haltlose Unterstellung, ebenso dass ich es „unangemessen“ fände, „dass Pille und Gewalt in der Ehe“ neben „Willy Brandt und Jugendprotesten“ behandelt werden. Wer es nicht glaubt, soll meine Rezension lesen.

Das dicke Buch von Oliver Haardt, das die bisher dominante Interpretation, dass Bismarck für die Verfassung des Norddeutschen Bundes (die 1871 Reichsverfassung wurde) einen Grundrechtekatalog verhindert hat, revidieren soll, konnte ich in der kurzen Zeit, die ich hatte, um Hedwig Richter zu antworten, nicht lesen.5 Aber dank einer Einladung von Karen Hagemann zu einer (leider nur virtuellen) Debatte werden Hedwig Richter, Oliver Haardt und ich diese Fragen zusammen mit weiteren Kolleg:innen am 22. Oktober diskutieren können: https://ncgsws.web.unc.edu/seminars/current-seminars/.

Anmerkungen:
1 Im Buch steht hingegen, „dass die Revolution und der Krieg nicht die entscheidende Rolle spielten“ (S. 186).
2 Sonja Dolinsek / Claudia C. Gatzka, Konfliktlinien deutscher Demokratiegeschichtsschreibung, in: Public History Weekly, 29.04.2021, https://public-history-weekly.degruyter.com/9-2021-3/demokratiegeschichtsschreibung/ (11.06.2021), unter Verweis auf Miryam Schellbach, Die Pop-Historikerin, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, aktualisiert am 18.04.2021. Vgl. auch Christian Dietrichs Besprechung des neuen Richter-Buchs „Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich“ (Frankfurt am Main 2021), in: https://jacobin.de/artikel/kaiserreich-hedwig-richter-demokratiegeschichte-militarismus-sozialistengesetz-aufbruch-in-die-moderne/ (11.06.2021).
[3] Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild, 2. Aufl. Berlin 2015.
4 Vgl. hierzu das neue Buch von Marianne Zepp und mir: Kann es demokratischen Nationalismus geben? Über den Zusammenhang zwischen Nationalismus, Zugehörigkeit und Gleichheit in Europa von 1789 bis heute, Darmstadt 2021, insb. S. 17ff. sowie die diversen historischen Fallstudien.
5 Meine Interpretation: Christian Jansen, Der Norddeutsche Bund, in: Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Teil 3: 1848–1870, hrsg. v. Werner Daum, Bonn 2020, S. 731–764, hier S. 751f.