A. Schildt: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik

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Titel
Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried


Autor(en)
Schildt, Axel
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
896 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gangolf Hübinger, Vergleichende Kulturgeschichte, Senior Fellow am Center B/Orders IN MOTION und Prof. i.R. für Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)

Intellektuelle lenken Meinungsströme und bringen eine soziale Bewegung „in eine Form […], die wesentlich von der abweicht, die sie allein gefunden hätte“. So hat 1942 Joseph A. Schumpeter ihre starke Wirkungsmacht soziologisch knapp und korrekt erfaßt.1 Der 2019 verstorbene Zeithistoriker Axel Schildt unterfüttert Schumpeters These in seinem postum erschienenen opus magnum jetzt mit einer Überfülle an handfesten Belegen für die Geschichte der Bundesrepublik bis in die 1970er-Jahre.

Schildts Generalthese lautet unmittelbar einsichtig: Intellektuelle wirken nie als abgehobene „Solitäre“. Ihr Ort ist nicht der geistige Olymp, in den sie eine ältere Ideengeschichte gern versetzt hat. Erst die Medien, die ihnen zur Verfügung stehen und die sie kontinuierlich zu bedienen haben, machen den ideellen und materiellen „Marktwert“ eines Intellektuellen aus. An diesem Leitfaden entlang hat Axel Schildt eine brillante Kulturgeschichte der Intellektuellen als Mediengeschichte geschrieben. Endlich, muss man sagen. Zwar gibt es in der britischen Forschung schon länger die These, „exploiting the relevant media is a constitutive part of being an intellectual“.2 Aber erstmals präpariert nun ein Zeithistoriker methodisch konsequent im Dreieck „Intellektuelle – Medien – Öffentlichkeit“ die enorme Gestaltungsmacht der intellektuellen Krisendeuter, Zeitdiagnostiker und Ordnungsdenker heraus, indem er aufweist, wie sich diese Deutungseliten jeweils um ein „publizistisches Forum herum vergesellschaften“ (S. 687).

Für Schildt gelten die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg als überreich an kulturellen Umorientierungen, geformt von einer Medialisierung der gesamten Lebenswelt und imprägniert von pluralisierten, auch polarisierten Interpretationsgemeinschaften, die sich um Zeitschriften, Verlage oder Rundfunkanstalten gruppieren. Die Reputation eines Intellektuellen, von Andersch bis Zwerenz, hängt folglich von seiner Sichtbarkeit in literarisch-politischen Monatsschriften wie Frankfurter Hefte, Merkur, Monat oder Kursbuch ab. Oder von seiner Hörbarkeit im Hessischen und Nordwestdeutschen Rundfunk oder in den Dritten Programmen der ARD. Zeitschriftenporträts mit ihren einflussreichen und eingriffsfreudigen Redakteur/innen zählen zu den Glanzstücken der Studie.

Auf zwei Aspekte legt das Buch besonderen Wert. Es liefert eine systematische Verortung der Konservativen im intellektuell-medialen Feld der 1950er- und 1960er-Jahre. Und es hebt mit seiner These von der „stillen Doppelrevolution der Gesellschaft um 1960“ (S. 609) als weichenstellender Zäsur für einen Strukturwandel der Öffentlichkeit die spezifische mediale „Protestwelle der Jahre 1958 bis 1962“ (S. 687) hervor. Insgesamt vier Teile hatte Schildt vorgesehen, die tastenden Neuordnungsdiskurse bis zur Gründung der Bundesrepublik (I), im umfangreichsten Teil II die konservativ-liberalen Strömungen der 1950er-Jahre, dann die „langen 1960er“ (III) und als Schlußteil IV die späte „alte Bundesrepublik“ bis 1989. Dieser letzte Teil wurde nicht mehr geschrieben, schon das kleine Kapitel „Fetisch Revolution“ am Ende von Teil III bricht unvollendet ab. Wir haben also eine ideenblitzende Geschichte der Bundesrepublik in ihren aufbauenden und dann boomenden Jahren vor uns. Alle Kapitel bestechen durch ihre leserfreundliche Mixtur aus zeitgeschichtlicher Rahmung, Zeitschriften- und Rundfunkprofilen und intellektueller Zirkelbildung, gewürzt mit viel Anekdotischem aus archivalisch gehobenen Autor-Verleger-Korrespondenzen. Das geht allerdings nie auf Kosten einer klaren argumentativen Linienführung.

Bis zur Währungsreform 1948 erfuhren die drei westlichen Besatzungszonen einen langsam aufblühenden und leicht wildwüchsigen „Zeitschriftenfrühling“. „Hunderte von Intellektuellen“ kamen dort zu Wort, in der großen Mehrzahl Schriftsteller/innen und Publizist/innen, eher wenige Wissenschaftler/innen. Frauen waren kaum vertreten. Ein Problem bildete die Wiederbegegnung der arrivierten NS-Publizisten und der zahlreichen unbehelligten Mitläufer von Carl Schmitt und seinen Schülern bis zu Friedrich Sieburg mit den Rückkehrern aus den Kriegsgefangenenlagern und den Remigranten. Ein einfühlsames Biogramm widmet Schildt Alfred Kantorowicz, dem Mitherausgeber des berühmten „Ruf“ und Mitinitiator der „Gruppe 47“. Ideenpolitisch konkurrierten Richtungen der Rechristianisierung, der Europäisierung und einer zaghaften Westernisierung.

Für die 1950er-Jahre unterscheidet Schildt sechs markante Strömungen und ordnet ihnen mediale Zentren zu: als zwei konfessionelle Bewegungen das katholisch dominierte „christliche Abendland“ sowie die protestantisch geläuterten, ehemaligen „konservativen Revolutionäre“ mit Hans Zehrer (Rheinischer Merkur, Christ und Welt, Allgemeines Sonntagsblatt); drittens den konservativ-liberalen Realismus mit notgedrungener West-Öffnung (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Merkur, Die Zeit); viertens die entschiedene West-Orientierung einer kritisch-liberalen oder sozialdemokratischen Modernisierungskoalition (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, Der Monat); fünftens den Linkskatholizismus (Frankfurter Hefte), sechstens und sehr heterogen, die nationalneutralistischen „Nonkonformisten“ mit der Gruppe 47 (Der Spiegel, Rowohlt, Suhrkamp).

Viel Streit entzündete sich um den bis Ende der 1950er-Jahre regelmäßig tagenden „Kongreß für kulturelle Freiheit“. „Nein, zu jenem Kongreß, auf dem Hegelianer und Jesuiten sich mit einigen Manchestermen treffen, erscheine ich nicht“, polemisierte Kurt Hiller gegen dessen strikt antikommunistische Stoßrichtung. Gottfried Benn wiederum wollte aus umgekehrtem Grund nicht teilnehmen, er wähnte dort nur linke „Kartoffelkäfer […] und eitle Schwätzer“. Mit gut der Hälfte des Buchumfangs liegt in den 1950er-Jahren die empirische und argumentative Dichte der Studie, die uns hier sehr plastisch das Zusammenspiel von Feuilleton, Buch und Rundfunk vor Augen führt.

In die künftige Debatte eingehen wird Schildts These von der „stillen Doppelrevolution um 1960“. Gemeint ist der soziale Aufbruch in die Wohlstandsgesellschaft, verbunden mit einem deutlich spürbaren Wandel der Medien-Öffentlichkeit. Die Indizien sind der 1958 einsetzende „Kampf gegen den Atomtod“ oder die zunehmende Planungseuphorie der Bildungseliten. Der Begriff „Pluralismus“ wanderte von der Wissenschafts- in die Alltagssprache und verwies auf eine „Veralltäglichung des Dissens“ (S. 627). Die Buchverlage brachten eine neue Art von „Bilanzliteratur“ wie die von Hans Werner Richter herausgegebene „Bestandsaufnahme“ von 1962, mit „sechsunddreißig Beiträgen Deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten“. Schildt findet dafür die herrliche Wendung vom „Bewegungsraum unterschiedlicher intellektueller Sinndeutungslager“ (S. 626). 1961 setzte der Eichmann-Prozeß die mühsame Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Gang. Erstaunlicher Weise fehlt bei Schildt das Tübinger „Memorandum der Acht“ um Carl Friedrich von Weizsäcker, Werner Heisenberg, Ludwig Raiser und Georg Picht, mit dem die „protestantische Mafia“ (Ralf Dahrendorf) die Reformdebatte zur Deutschland- und Ostpolitik wie zur europäischen Integration anstieß. Die berühmte Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) von 1965 ist ohne diesen intellektuellen Vorlauf, die Unterstützung durch Marion Gräfin Dönhoff und die nunmehr entschieden liberale „Zeit“ nicht denkbar.

Die „langen 60er Jahre“ führten zu ideenpolitischen Konzentrationsprozessen. Von den sechs genannten Strömungen blieben nur noch drei übrig, allerdings mit erheblichen Binnendifferenzierungen. Eine neue Linke formierte sich gegen die „geistige Verfettung“ der Republik (Axel Eggebrecht), nachdem die SPD sich als „Volkspartei“ mit Regierungsabsicht immer stärker zur „Mitte“ hin orientierte. Statt „Merkur“ war jetzt Enzensbergers „Kursbuch“ angesagt. Die „Kritische Theorie“ erzielte Breitenwirkung und verstärkte Positionskämpfe. Wenn Adorno gegenüber Herbert Marcuse den Kollegen Jacob Taubes einen „parasitären Charakter“ nannte, erhalten wir einen Einblick in das Innenleben der florierenden Suhrkamp-Kultur. Der Konservativismus erneuerte sich mit einer ausgeprägten Vorliebe für die formierte Gesellschaft und einen deutschen Gaullismus. Porträtiert werden William S. Schlamm „als härtester der harten kalten Krieger“ oder der erfolgreichere Armin Mohler, der den Kult des „heimatlosen Rechten“ kultivierte und 1964 die Geschäftsführung der Münchener Siemens-Stiftung übernahm. Seltsam blass bleiben die Wortführer der dritten Strömung, die im weitesten Sinne die liberalen Reformer, einschließlich der sozialdemokratischen Intellektuellen, umfasst. Viel Platz widmet Schildt dem Rechts-Intellektuellen Mohler, aber nur ganz am Rande ist Ralf Dahrendorf einbezogen, der immerhin in den 1960er-Jahren den konservativen Arnold Gehlen medienwirksam als Leitstern einer öffentlich eingreifenden Soziologie ablöste. Dahrendorfs Weggefährte M. Rainer Lepsius kommt gar nicht vor, obwohl dieser 1963/64 mit geschliffenen Thesen zu „Kritik als Beruf“ die Debatte um den kultursoziologischen Ort des Intellektuellen auf eine neue Stufe gehoben hat.3

Ein Schlussabschnitt zu den langen 1960er-Jahren dient dem Versuch, den Ort von „1968“ neu zu bestimmen. Schildt betont zu diesem bereits gut erforschten Feld die generationstypische Provokation linker Jung-Intellektueller gegen Vietnam und Nazi-Eltern, die unabgegoltenen Forderungen nach einem libertären Lebensstil, und ganz generell einen nie dagewesenen „Lesehunger und Theoriedurst“. Hier bricht die große Darstellung ab. Für die weiteren zwanzig Jahre der alten Bundesrepublik – im Inhaltsverzeichnis als Teil IV in blasserer Schrift mit aufgeführt – hätte Schildt vermutlich noch hunderte von Seiten im gleichen Rhythmus schreiben können.

Dieses postum von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried so sorgfältig wie umsichtig veröffentlichte Werk bietet ein gelungenes Beispiel dafür, wie fesselnd Intellektuellengeschichte heute sein kann. Schildts opus magnum demonstriert uns auf jeder Seite: Medien sind mächtig, mächtiger als jeder intellektuelle Einzelkämpfer und jede der wenigen Kämpferinnen. Anschaulich wird zugleich, was der spanische Kulturkritiker Ortega y Gasset „eine Kultur für Intellektuelle“ genannt hat. Intellektuelle können zwar kulturellen und sozialen Bewegungen ihren Stempel aufdrücken. Joseph A. Schumpeter, der darin ihre nachweisliche Wirkungskraft sah, wusste aber auch um den eigenen Diskursraum, in dem sich Intellektuelle mit Vorliebe bewegen, „ein großer Teil ihrer Tätigkeit besteht darin, sich gegenseitig zu bekämpfen“.4 Zum ewigen wechselseitigen Beäugen und Bekritteln hat Schildt bei seinen ausgiebigen Archivrecherchen hinreißende Funde gemacht. Etwa den Zweifel des Publizisten Carl Amery im Wahlkampf 1966, ob es wirklich nütze, „Günter-Grass-Gedichte, die für die SPD werben, einem johlenden Saal voll biertrinkender Stammwähler vorzutragen“ (S. 718). Axel Schildts so problembewusste wie materialintensive Studie inspiriert zu vielfacher Anschlussforschung. Ganz wichtig dafür sind die drei nützlichen Verzeichnisse, zweckmäßig separiert als Personen-, Medien- und Institutionenregister.

Anmerkungen:
1 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 5. Aufl., München 1980, S. 235–251, Zitat S. 249.
2 Stefan Collini, Absent Minds. Intellectuals in Britain, Oxford 2006, S. 390.
3 M. Rainer Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, öffentlicher Habilitationsvortrag in München 1963; Erstveröffentlichung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 207–216; Wiederabdruck in: M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 270–285.
4 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 236.

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