Als Susan Sontag im Herbst 2003 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, wurde diese Ehrung vor allem in Deutschland als eine Auszeichnung für Sontags kritische und engagierte Haltung gegen den Irak-Krieg und besonders gegen die US-amerikanische Regierung gewertet. Ihr neues Buch „Das Leiden anderer betrachten“ drohte zugunsten ihrer politischen Stellungnahmen aus dem Blick zu geraten. „Regarding the Pain of Others“, so der englische Originaltitel, verdient allerdings eine Aufmerksamkeit jenseits weltpolitischer Aktualitäten.
Mit den insgesamt neun im Buch versammelten Essays wendet sich Sontag mehr als 20 Jahre nach ihrer ersten Auseinandersetzung erneut dem Thema „Kriegsfotografie“ zu. 1978 hatte sie unter dem Titel „Über Fotografie“ die Suggestionskraft von Bildern betont und deren „chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt“ verurteilt. Fotografie sei ein Akt der „Nicht-Einmischung“; sie verhalte sich passiv gegenüber der erfahrenen Gewalt und dem Leiden der abgebildeten Opfer. Der Kriegsfotografie gestand Sontag damals nicht einmal die indirekte Aufforderung zur Intervention zu, sondern verstand den Blick durch den Sucher eher als Komplizenschaft. Ironisch und mit dezidiert medienkritischer Haltung polemisierte sie gegen die massenhaft in die Wohnzimmer übermittelten Kriegs- und Gewaltdarstellungen, die bei ihren Betrachtern allein Abstumpfung und Gleichgültigkeit hervorrufen würden. Die Grundhaltung des Konsumenten sei die Erschlaffung.
Heute sieht die amerikanische Schriftstellerin und Filmemacherin das anders. Das neue Buch liest sich als Revision ihrer für die 1970er-Jahre typischen Medienkritik und kommt der Komplexität fotografischer Repräsentation sehr viel näher. Ihr knapper Durchgang durch die Geschichte der Kriegsfotografie kann allerdings nur einen Überblick liefern. Ausgehend von Jacques Callot und Francisco de Goya als Wegbereitern bildlicher Darstellung des Kriegsleidens zeigt Sontag, wie während des Krimkrieges Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten, selbstverständlich gestellten Aufnahmen von den Schlachtfeldern entstanden und damit ein Fotogenre seinen Anfang nahm, das bis heute unsere Vorstellungen von Krieg und militärischer Besatzung nachhaltig beeinflusst.
Mit dem Spanischen Bürgerkrieg begann die systematische Kriegsberichterstattung mittels fotografischer Zeugnisse. Robert Capas Bild, das einen fallenden Soldaten im Moment des tödlichen Schusses zeigt, ist weltberühmt; andere Fotografien haben einen ähnlichen Symbolwert erlangt. Erinnert sei hier nur an das Bild des kleinen Jungen aus dem Warschauer Ghetto, der mit erhobenen Händen in die Kamera blickt, oder an die Aufnahme von Eddi Adams aus dem Jahr 1968, die die Erschießung eines Vietcong-verdächtigen Mannes durch den Chef der südvietnamesischen Polizei in Saigon festhält. Gerade diese Ikonen der Kriegsfotografie haben die Frage provoziert, wie authentisch solche Aufnahmen sind. Spekulationen, die Bilder von Capa und Adams seien inszeniert oder nachgestellt worden, haben immer wieder Enttäuschung und Bestürzung hervorgerufen. Die Erwartung des Wirklichen ist so alt wie die Fotografie selbst.
Die Geschichte der Kriegsfotografie ist an anderer Stelle sicherlich detaillierter und auch sachkundiger dargestellt. Wer sich ausschließlich über die historische Entwicklung der fotografischen Repräsentation von Krieg und Gewalt informieren möchte, muss Sontags Buch nicht zur Hand nehmen. Es ist jedoch in anderer Hinsicht lesenswert. So fragt die Autorin danach, was Bilder, die verstümmelte Leichen oder grausam entstellte Gesichter von Kriegsversehrten zeigen, beim Betrachter eigentlich bewirken. Fotografie als Schocktherapie hat eine lange Tradition. Doch jeder Schock hat auch ein Verfallsdatum. Trotzdem vertrauen viele auf die Konsens stiftende Wirkung von Kriegsfotos und machen damit gute Geschäfte. „Die Menschen wollen weinen“ lautet Sontags bissiger Kommentar (S. 97). Sie bewertet die emotionale Mobilisierung durchaus ambivalent, denn „wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein ‚Wir’ als selbstverständlich voraussetzen“ (S. 13).
Ihre Analyse leitet Sontag mit einem Rückgriff auf ein Buch von Virginia Woolf aus dem Jahr 1938 ein, was zunächst auf eine banale feministische Kritik am „männlichen“ Krieg hinauszulaufen scheint. Doch letztlich will die Publizistin aufzeigen, dass Gräuelfotos zwar die kollektive Ablehnung des Krieges und der verübten Verbrechen begünstigen können, jedoch nur dann, wenn die Opfer anonym blieben. Wer hingegen davon überzeugt sei, dass das Unrecht auf der einen Seite und das Recht auf der anderen zu finden sei, für den komme es darauf an, wer von wem getötet werde. Bei genauerer Betrachtung wird das Problem also komplizierter. Durch den Kontext erhält das Bild eine Bedeutung und „jedes Foto wartet auf eine Bildlegende, die es erklärt – oder fälscht“ (S. 17). Die Absichten des Fotografen treten in den Hintergrund. Das Foto geht „zwischen den Launen und Loyalitäten der verschiedenen Gruppen, die etwas mit ihm anfangen können, seinen eigenen Weg“ (S. 48). Dann wird es manchmal wichtiger, danach zu fragen, was wir eigentlich nicht zu sehen bekommen.
Kriegsfotografie hat keineswegs zur weltweiten Ächtung von Kriegen geführt. Auch Bilder, bei denen sich einem der Magen umdreht, sprechen nicht für sich. Zuschauer bei Massakern und Massenhinrichtungen zu werden, ist eine moderne Erfahrung, die unterschiedliche Gefühle hervorbringt. Mitleid, Sensationskitzel, Empörung oder Zustimmung sind nur einige Facetten eines zweifelhaften Medienerlebnisses. Der Appetit auf Bilder, die gequälte Menschen zeigen, ist ungebrochen. Sontags Analyse bewegt sich zwischen Voyeurismus, Beschämung und Empathie. Trotz Gewöhnung gibt es ihrer Meinung nach Fotos, deren Eindringlichkeit sich nicht abnutzt. Fotos helfen uns, Ereignisse zu erinnern, und unser Gedächtnis arbeitet überwiegend mit Standbildern – daher erinnern wir uns auch eher an Bilder als an die Ereignisse selbst. Fotos können sicherlich eine „Initialzündung“ bewirken, können auffordern und aufschrecken, darin liegt ihre Stärke. Gleichwohl ist das durch sie erzeugte Mitgefühl eine instabile Gefühlsregung, die in Handlung umgesetzt sein will, um Bestand zu haben. Wahrscheinlich – so resümiert Sontag zutreffend – „ist eine Erzählung in dieser Beziehung wirksamer als ein Bild“ (S. 143).