Vor kurzem gab die BASF bekannt, einen Milliardenbetrag in den Erwerb eines Off-Shore-Windparks zu investieren.1 Damit steigt das Ludwigshafener Unternehmen aktiv in die Produktion erneuerbarer Energie ein, die eine künftige Basis des enormen Energieverbrauchs des weltgrößten Chemieunternehmens werden soll. In der über 150-jährigen Geschichte der BASF wäre diese Erweiterung der Energiebasis keineswegs präzedenzlos und könnte sich in die strategischen Schlüsselmomente der Unternehmensgeschichte einreihen, die Carla Thiel in ihrer Dissertation zu Entscheidungen und Anpassungspraktiken in dem Unternehmen von 1865 bis 1965 untersucht. Dabei konzentriert sie ihre Untersuchung auf sechs ausgewählte Phasen des Wandels in der Unternehmensgeschichte, die die BASF – so ihre These – zu dem noch heute existierenden forschungsgetriebenen Unternehmen machten: der Aufbau der unternehmenseigenen Forschung, die Entwicklung der Indigosynthese, der Kauf der Zeche Auguste Victoria (ZAV), die Entwicklung der Stickstoffsynthese, die Entwicklung der Treibstoffsynthese sowie der Einstieg in die Petrochemie.
Beim Aufbau ihrer Untersuchung hat sich Thiel für eine chronologische Abhandlung der Phasen entschieden, der sie als verbindende Interpretationsfolie Thomas Hughes‘ „technological momentum“ zugrunde legt. Die in ihrer Auswahl schlüssigen Phasen interpretiert sie dabei als Momente strategischer Entscheidungen der Unternehmensgeschichte, die wegen eines Wandels der Umwelt, technologischer Neuerungen oder Krisen durch ein hohes Maß an Unsicherheit gekennzeichnet seien. Den durch ihre individuellen Erfahrungen und Erwartungen geprägten Entscheidern misst sie in den jeweiligen Situationen zentrale Bedeutung bei. Die prägenden Akteure zu einem Angelpunkt der Entscheidungsprozesse zu machen, erscheint vor allem mit Blick auf die schwierige Quellengrundlage geschickt gewählt. So konnte Thiel die Lücken in der unternehmenseigenen Überlieferung durch Nachlässe wichtiger Forscherpersönlichkeiten in anderen Archiven schließen. Hilfreich war zudem, dass ihr mit dem Fallbeispiel BASF eine breite Forschungsliteratur zur Verfügung stand, die mit Ausnahme des Zechenkaufs auch für die gewählten Untersuchungsphasen bereits wichtige Ergebnisse hervorgebracht hat.2
Dies gilt besonders für den Aufbau der unternehmenshistorischen Forschung, bei der die BASF als eines der Pionierunternehmen gilt.3 Hier richtet Carla Thiel ihr Augenmerk jedoch besonders auf die prägende Gründerfigur Friedrich Engelhorn, der mit seiner Preis-Mengen-Strategie die Anfänge und ersten Erfolge des Unternehmens geprägt habe. Die von ihm mitinitiierte Fusion mit den Unternehmen der Farbenhändler Siegle und Knosp, die auf die Vorwärtsintegration in den Farbenabsatz gerichtet war, sieht sie als entscheidenden Schritt für den Aufbau einer unternehmenseigenen wissenschaftlichen Forschung. So sei der im Zuge der Fusion in die Unternehmensleitung aufgenommene Gustav Siegle zum Promotor der Unternehmensentwicklung und des Wechsels von der reinen Preis-Mengen-Strategie zu einer Produktentwicklungsstrategie geworden.
Die Hoffnung auf einen schnellen Erfolg bei der Entwicklung neuer Produkte erlitt mit dem anfänglichen Scheitern der Indigosynthese in der zweiten Untersuchungsperiode jedoch einen Rückschlag. Dies führte zum Konflikt zwischen dem immer einflussreicher werdenden technisch-wissenschaftlichen Personal und dem auf kurzfristige unternehmerische Erfolge fokussierten Engelhorn. Seinen darauf folgenden Rückzug aus dem Unternehmen interpretiert Thiel als einen wichtigen Schlüsselmoment. Fortan habe das technisch-wissenschaftlich ausgebildete Personal die Unternehmensleitung übernommen und damit den Grundstein für die Entwicklung der BASF zu einem forschungsgetriebenen Unternehmen gelegt. Dieser strategische Wandel sei eine Folge der Entwicklung der Indigosynthese, die mit dem Aufbau einer eigenen anorganischen Vorprodukteproduktion die Erschließung ganz neuer Arbeitsgebiete nötig machte und zudem bis dahin ungekannte finanzielle Mittel erforderte. In der Konsequenz habe der Erfolg in der Umsetzung der neuen technischen Verfahren fortan die Unternehmenskultur geprägt, die im Vertrauen auf die unternehmensinterne Kompetenz die Bereitschaft zu höchst riskanten Projekten förderte.
Dieses Muster prägte schließlich die beiden folgenden technologischen Entwicklungsschritte, die Stickstoff- und die Benzinsynthese, die laut Thiel beide je von einem zentralen Akteur vorangetrieben wurden – dem Chemiker Heinrich Brunck bzw. dem Ingenieur Carl Bosch. Die gesamte BASF-Führung sei durch das auf Erfahrungen basierende Vertrauen in das eigene technologische Knowhow, die bewährte Zusammenarbeit von Chemikern, Physikern und Ingenieuren und die technisch-wissenschaftliche Machbarkeit geprägt gewesen. In Anlehnung an Anthony Travis sieht Thiel darin die Voraussetzung, diese finanziell hoch riskanten Projekte in Angriff zu nehmen, die auf der Einführung der komplett neuen Technologie der Hochdrucksynthese beruhten. Gleichzeitig hebt sie die begründete Hoffnung der Unternehmensleitung auf das jeweils enorme Marktpotential der Produkte Ammoniak und Benzin hervor, die ideal zum auf Massenprodukte setzenden Geschäft der BASF gepasst und hohe Gewinne in Aussicht gestellt habe. Im Falle der Ammoniaksynthese erzielte die BASF mit dieser Strategie einen bahnbrechenden Erfolg, der das Unternehmen, das bis dahin auf das weltweite Farbengeschäft ausgerichtet war, zu einem vornehmlich auf die deutsche Landwirtschaft fokussierten Düngemittelhersteller machte. Dabei arbeitet Thiel überzeugend die enormen Herausforderungen bei der Markteinführung des innovativen Produkts heraus, die trotz der herausragenden technisch-wissenschaftlichen Leistungen eine kritische Hürde darstellten. Diese Hürde sollte im Falle der Benzinsynthese aufgrund eines sich stark verändernden Marktumfelds erstmalig das Scheitern der risikoreichen Unternehmensstrategie begründen.
Gegenüber den technologisch-wissenschaftlich geprägten Episoden adressiert Carla Thiel bei den Entscheidungen zum Kauf der Zeche Auguste Victoria und zum Einstieg in die Petrochemie die Frage der Rohstoff- und Energiebasis des Unternehmens. Vor allem im Kauf der ZAV sieht sie einen gleich mehrfach bedeutsamen Schlüsselmoment der Unternehmensgeschichte, der erneut von Heinrich Brunck ausgegangen sei: Erstens habe hier ein deutsches Chemieunternehmen erstmals eine Rückwärtsintegration gewagt, um die eigene Rohstoffbasis auf eine wirtschaftlich planbare Grundlage zu stellen. Zweitens sei diese Entscheidung für die BASF der entscheidende Impuls gewesen, die lange Zeit abgelehnte Kooperation mit der Konkurrenz zu suchen, die zur Gründung des „Dreibundes“ mit Bayer und Hoechst führte. Nur so hätte das Unternehmen die eigene Strategie verwirklichen können, auf grundlegende Herausforderung des Marktumfelds parallel durch mehrere sehr teure und risikoreiche Projekte zu antworten.
Angesichts dieser Ergebnisse erscheint Thiels Befund zu den Entscheidungsprozessen beim Einstieg in die Petrochemie umso interessanter. Denn erstmals in seiner Geschichte prägte mit Bernhard Timm ein Akteur die strategische Ausrichtung des Unternehmens, der nicht der ausgebildeten Leitlinie folgte, „alles auf eine Karte zu setzen“ (S. 361). Stattdessen habe man die Herausforderungen in Zeiten großer Unsicherheit mit maximaler Flexibilität zu beantworten versucht. Konkret hieß das, beinahe zwei Jahrzehnte lang Kohle- und Petrochemie parallel zu betreiben und dafür hohe Kosten in Kauf zu nehmen. Leider nur knapp ausgeführt wird der spannende Aspekt, dass sich die BASF mit dem endgültigen Wechsel zu Rohöl als Primärrohstoff von der ehernen Konzernstrategie der Rohstoffunabhängigkeit sowie dem Fokus auf den Verbundstandort Ludwigshafen verabschiedete und damit den Weg zu einer internationalen Konzernstruktur freimachte.
Insgesamt hat Carla Thiel mit der vorliegenden Dissertation eine aufschlussreiche und lesenswerte Interpretation der ersten einhundert Jahre der BASF-Geschichte vorgelegt. Auf Basis der Literatur zur technologischen Entwicklung des Unternehmens gelingt es ihr, die Verknüpfung technologischer und wirtschaftlicher Aspekte in den strategischen Entscheidungen der Unternehmensleitung darzulegen und generelle Muster der Problemlösungsstrategien gebündelt herauszustellen. Kritisch ist anzumerken, dass an etlichen Stellen der Arbeit wichtige Erläuterungen und eindrückliche Zitate in den Fußnoten verschwinden und so für die Argumentations- und Leserführung leicht verloren gehen. Zudem überzeugt die Begründung, die Entwicklungen während des Zweiten Weltkriegs aufgrund der vorliegenden Sekundärliteratur aus der Untersuchung auszuklammern, nur bedingt. Dies gilt vor allem mit Blick auf die sich in der Kriegszeit verschärfenden Folgen der Entscheidung, am nationalsozialistischen Autarkieprogramm teilzunehmen.
Anmerkungen:
1 “Vattenfall verkauft 49,5 Prozent des Offshore-Windparks Hollandse Kust Zuid an BASF“, <https://www.basf.com/global/de/media/news-releases/2021/06/p-21-238.html>, Stand 01.08.2021.
2 Carsten Reinhardt, Forschung in der chemischen Industrie. Die Entwicklung synthetischer Farbstoffe bei BASF und Hoechst, 1863 bis 1914, Freiberg 1997; Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber, 1868–1934. Eine Biographie, München 1998; Gottfried Plumpe, Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904-1945, Berlin 1990 sowie die Beiträge in Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2003.
3 Ernst Homburg, The Emergence of Research Laboratories in the Dyestuffs Industry, 1870–1900, in: British Journal for the History of Science 25 (1992), S. 91–111.