Brüssel ist in den letzten Jahren in die „Champions League des Lobbyismus“1 aufgestiegen und hinter Washington mittlerweile die wichtigste Stadt für Verbände, Anwaltskanzleien, Nichtregierungsorganisationen und Lobbyist:innen aller Art geworden.2 Insbesondere nach der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte hat die Anzahl an Interessengruppen seit den 1980er-Jahren sukzessive zugenommen. Im Transparenzregister der Europäischen Union haben sich bis Juni 2022 ca. 12.500 Organisationen eintragen lassen3, darunter auch Unternehmen und Verbände ohne ein Verbindungsbüro in Brüssel. Christian Lahusen selbst schätzt die Anzahl der mit typischen Lobbyingaktivitäten befassten Personen auf 13.000 (S. 125). Entsprechend ist das Lobbying auf europäischer Ebene seit den 1990er-Jahren auch vorrangig zu einem Gegenstand der politikwissenschaftlichen Europaforschung geworden, was sich in zahlreichen Publikationen und Handbüchern zeigt. Lahusen stellt bei der Darstellung des Diskussionsstandes zutreffend heraus, dass sich die vorliegenden Studien in erster Linie der organisatorischen Seite der Interessenvertretung und den Einflussmöglichkeiten der europäischen Institutionen widmen. Sein Buch soll sich davon abgrenzen, indem es sich mit der Verberuflichung und der Professionalisierung des Tätigkeitsfeldes beschäftigt. Es ist daher folgerichtig, dass Lahusen sich der Professionssoziologie bedient. Er nutzt diese, um Aussagen darüber zu treffen, ob Prozesse der Verberuflichung und Professionalisierung durchlaufen werden, durch die das Tätigkeitsfeld auf Grundlage gemeinsamer Laufbahnen, Wissensbestände und Selbstverständnisse konstituiert, organisiert und reguliert wird.
Lahusen verwendet für die in Bereichen der Interessenvertretung tätigen Personen den Begriff der EU-Affairs-Professionals. Damit knüpft er an bisherige Erkenntnisse der Europasoziologie an, die die Personengruppe der EU-Professionals in den Blick nimmt, um ein tiefgreifendes Verständnis über die habituellen Eigenschaften, sozialen und kulturellen Ressourcen der Hauptakteure der Europapolitik zu erhalten, die in den EU-Institutionen, den Administrationen oder in Bereichen der Interessenvertretung tätig sind.4 Mit der Einschränkung auf EU-Affairs-Professionals hebt Lahusen auf diejenigen ab, die in den verschiedenen Bereichen der Interessenvertretung tätig sind. Er macht deutlich, dass Lobbying wiederum ein wichtiger Tätigkeitsbereich der EU-Affairs-Professionals ist. Damit findet auch eine Abgrenzung zu politikwissenschaftlichen Publikationen statt, in denen vorrangig von Lobbyist:innen gesprochen wird.5
Die im vorliegenden Band präsentierten Erkenntnisse basieren auf einem umfassenden Datensatz, der im Rahmen eines durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekts zwischen 2014 und 2017 generiert worden ist. Ein Mixed-Method-Ansatz kombiniert qualitative und quantitative Forschungsmethoden. Es erweist sich als Glücksgriff für die Studie, dass sowohl auf eine große Anzahl geführter Experteninterviews als auch einen hohen Rücklauf an schriftlichen Fragebögen zurückgegriffen werden kann, an denen Lobbyist:innen unterschiedlicher Nationalitäten, unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen Organisationen teilgenommen haben. Auch Vertreter:innen von Non-Governmental Organizations (NGOs) wurden berücksichtigt, was eine differenzierte Auswertung erlaubt. Lahusen behauptet zurecht, dass die „Daten […] in ihrer Breite als einzigartig deklariert werden“ können (S. 19). Der Datensatz erlaubt es, valide Rückschlüsse auf die Verberuflichung, die Professionalisierung und die Legitimität des europäischen Lobbyings zu ziehen, die jeweils in den Kontext der Erkenntnisse der Professionssoziologie gestellt werden. Dass sich die Einflussnahme von EU-Affairs-Professionals gerade außerhalb demokratischer Prozesse und parlamentarischer Kontrolle vollzieht, stellt sie vor die Herausforderung, wie sie ihr eigenes Handeln legitimieren und regelkonform gestalten können. Inwieweit Verhaltensregeln, wie sie beispielweise Transparenzregister beinhalten, geeignete Instrumente zur Kontrolle von Lobbying sein können, wird in dem Buch nur angerissen.
Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist von besonderem Interesse, dass auch ein Datensatz an Interviews aus den 1990er-Jahren herangezogen wurde, um Veränderungen im Berufsbild der Lobbyisten bzw. des Lobbyisten herauszuarbeiten. Da zur Generierung des Datensatzes Daten und Interviews mit EU-Affairs-Professionals aus sämtlichen Mitgliedstaaten der EU einbezogen wurden, ist die Wahl des Deutschen als Publikationssprache fast etwas bedauerlich, da dies den Kreis potenzieller Leser:innen von vornherein ein wenig begrenzt.
Der schiere Umfang des zugrundeliegenden Datensatzes führt zu einer ausführlichen Darstellung der Interviewergebnisse, die in den Hauptkapiteln teils in paraphrasierter Form oder als Originalzitate eingebaut werden. Zur Darstellung der Ergebnisse der schriftlichen Befragungen bedient sich Lahusen Balkendiagrammen und Regressionsanalysen. Darstellung und Schreibstil entsprechen denen einer Studie. Gemessen an den tatsächlich gewonnenen Erkenntnissen werden die Aussagen der Interviewpartner:innen trotzdem teils sehr ausführlich beschrieben. An manchen Stellen sind sie gar redundant. Beides trägt zweifelsfrei zum hohen Seitenumfang des Buchs bei. Um sich einen schnellen und dennoch ausreichenden Überblick zu verschaffen, eignen sich die eingängigen Fazits, die am Ende eines jeden Kapitels gezogen werden. Auch werden die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse zu Beginn eines jeden Kapitels noch einmal zusammengefasst.
Insgesamt ist es Lahusen gelungen, ein ausführliches Werk zum Berufsfeld des Lobbyings auf europäischer Ebene vorzulegen, um eine Forschungslücke im Bereich der Europasoziologie zu schließen. Für Historiker:innen ist das Buch von großem Interesse, da die Entwicklung des Berufsfeldes der EU-Affairs-Professionals innerhalb zentraler Entwicklungslinien der europäischen (Wirtschafts-)Integration gezeigt wird. So haben insbesondere die Einheitliche Europäische Akte aus dem Jahr 1986 und das Binnenmarktprogramm der Europäischen Kommission aus dem Jahr 1992 den Weg für das Aufkommen dieses Berufsfeldes erst ermöglicht. Außerdem zeigt Lahusen am Ende, welche Implikationen seine Ergebnisse für die politikwissenschaftliche Europaforschung haben. Auch wenn es sich ausdrücklich nicht um ein Praxishandbuch zum Themenfeld des Lobbyings handelt, lassen sich die Erkenntnisse auch für die Praxis nutzen. Insbesondere Berufseinsteiger:innen und interessierte Studienabgänger:innen dürften von der Lektüre und den gebotenen Einblicken in das Berufsfeld und das Selbstverständnis der EU-Affairs-Professionals durchaus profitieren, da Lahusen dafür ein genaues Anforderungsprofil mit erforderlichen Wissensbereichen, Fertigkeiten und Fähigkeiten liefert. Allerdings stellt er auch deutlich heraus, dass das Berufskapital einer Lobbyistin oder eines Lobbyisten nicht angelesen werden kann, sondern es vor allem von beruflichen und persönlichen Kontakten sowie auch von Reputation abhängt, die erst während der berufspraktischen Tätigkeit selbst erworben werden können.
Lahusen zeigt, dass es beim Lobbying um den Austausch von Informationen und Insiderwissen und die Vernetzung mit politischen Entscheidungsträger:innen und Mitarbeiter:innen der europäischen Institutionen geht. Lobbyist:innen sind laut diesem Buch „freundlich, zugänglich und aufgeweckt“ (S. 332). Zu ihren höchsten Gütern gehören Glaubwürdigkeit, der persönliche Ruf und sowohl die eigene Reputation als auch jene der Organisation, für die sie tätig sind.
Da Lobbytätigkeiten dennoch in der Öffentlichkeit schnell als anrüchig wahrgenommen werden6, thematisiert Lahusen im vorliegenden Band Legitimationsfragen explizit. Er kann zeigen, dass EU-Affairs-Professionals selbst ein hohes Interesse an Seriosität, Regelkonformität, Transparenz und Kontrolle der Interessenvertretung haben. Die Einschätzungen der Befragten werden dabei wertfrei abgebildet und liefern daher einen eindrücklichen Einblick in das Lobbying aus Sicht der direkt damit befassten Akteure. Wer nach Fällen illegitimer oder illegaler Einflussnahme oder gar Korruption sucht, wird in dem Buch nicht fündig. Im Zentrum der Studien stehen Selbstwahrnehmungen und berufsethische Vorstellungen der EU-Affairs-Professionals.
Allerdings lassen sich durchaus Unterschiede zwischen dem Lobbying für Wirtschaftsinteressen und für gemeinwohlorientierte NGO-Interessen erkennen. So beschreibt Lahusen am Ende des Buches ein Spannungsverhältnis zwischen Professionalismus und Aktivismus und zeigt auf, dass sich in NGOs tätige Personen zumeist dennoch eher kritisch gegenüber der Vertretung partikularer und insbesondere kommerzieller Interessen äußern. Auch wenn Christian Lahusen mit seiner Studie hier erste wichtige Pflöcke einschlägt: Angesichts der Tatsache, dass dieses Spannungsfeld sich sogar im Buchtitel findet, wäre eine noch intensivere Analyse der Deutungskämpfe um ein „gutes“ Berufsethos der EU-Affairs-Professionals wünschenswert gewesen.
Anmerkungen:
1 Rinus van Schendelen, Brüssel. Die Champions League des Lobbying, in: Thomas Leif / Rudolph Speth (Hrsg.), Die fünfte Gewalt. Lobbyismus in Deutschland, Bonn 2006, S. 132–162.
2 The power of lobbyists is growing in Brussels and Berlin, in: The Economist, 13.05.2021, https://www.economist.com/business/2021/05/13/the-power-of-lobbyists-is-growing-in-brussels-and-berlin (28.06.2022).
3 Auszug aus dem Transparenzregister der EU, https://ec.europa.eu/transparencyregister/public/consultation/statistics.do?locale=en&action=prepareViewView (28.06.2022).
4 Sebastian M. Büttner, EU-Experten und -Professionals, in: Maurizio Bach / Barbara Hönig (Hrsg.), Europasoziologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium, Baden-Baden 2018, S. 130–140, hier S. 131ff.
5 Irina Michalowitz, Lobbying in der EU, Wien 2007, bes. S. 73ff.
6 Siehe u.a. Heike Faller, House of Cars?, in: ZEITmagazin Nr. 46, 09.11.2017, S. 25–34.