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Titel
Arzt – ein krank machender Beruf?. Arbeitsbelastungen, Gesundheit und Krankheit von Ärztinnen und Ärzten im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Wenger, Sebastian
Reihe
Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Beihefte
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
219 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Richard Kühl, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

„Kann befreien, wer selbst unterworfen ist?“, lässt Thomas Mann 1924 im „Zauberberg“ Hans Castorp über „ein Paradoxon für das einfache Gefühl, eine problematische Erscheinung“ sinnieren.1 Gemeint war der „kranke Arzt“ – er war in der modernen Medizin zur Irritation geworden, zu einem eigentlich nicht mehr vorgesehenen Fall, ja zum rufschädigenden Tabu. Aufklärung über Genese, Wandel und Gegenwart dieses wirkmächtigen Bildes und dessen Folgen für den medizinischen Alltag seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verspricht nun eine der letzten Forschungsarbeiten, die aus dem renommierten, seit Mitte 2020 auf seine Archivfunktion reduzierten Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart hervorgegangen sind. Die anregende Studie des Historikers Sebastian Wenger ist eine Pionierleistung.

Wengers Buch basiert auf einer von Robert Jütte, dem langjährigen Direktor des Stuttgarter Instituts, betreuten Dissertation. Es nimmt den späten Zeitpunkt der Entstehung eines medizinischen Fachgebiets in Deutschland zum Ausgangspunkt. Anders als in den USA, wo seit rund einem halben Jahrhundert das Fach „Physician Health“ existiert, nahm hierzulande erst in den 2000er-Jahren die Konzeption der Disziplin „Ärztegesundheit“ an Fahrt auf. An den Grad der Etablierung in den USA reicht diese Entwicklung bis heute nicht heran. Aber das Thema hat die medizinische Profession auf einem qualitativ neuen Niveau zu beschäftigen begonnen. Davon zeugen etwa mehrere seit dem Jahr 2010 von bedeutenden Einrichtungen und Verbänden der organisierten Ärzt:innenschaft in Auftrag gegebene Studien, die sich mit berufsspezifischen Gesundheitsrisiken, nicht zuletzt psychosozialen Belastungsfaktoren befassen. Auch historisches Interesse hat sich seitdem geregt, das bislang jedoch über Gelegenheitsarbeiten für medizinische und medizinethische Foren nicht hinausging. Wenger, der in den frühen 1870er-Jahren ansetzt und sich auf den deutschsprachigen Raum konzentriert, betritt insofern beinahe von Grund auf Neuland.

Im Zentrum der sozialhistorisch angelegten Studie stehen der Einfluss der professionellen Sozialisation auf den Umgang mit eigenen Erkrankungen, der Wandel krankheitsverursachender ärztlicher Arbeitsbedingungen, die Entwicklung sowohl der Gesundheitsrisiken als auch des Krankheitsverhaltens von Ärzt:innen im Vergleich mit anderen akademischen Berufsgruppen und schließlich die Nachzeichnung standespolitischer Formen der Selbsthilfe. Diese Reihenfolge bestimmt zugleich den Aufbau der Studie. Sich dabei wesentlich auf ärztliche Selbstzeugnisse zu stützen, war ein erkennbares Anliegen Wengers. Er hat dafür im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen recherchiert, veröffentlichte Autobiographien ausgewertet und ist themenrelevanten Spuren in etablierten Foren der medizinischen Fachöffentlichkeit nachgegangen – dies besonders über eine Auswertung einer vormals führenden Fachzeitschrift („Deutsche Medizinische Wochenschrift“, gegründet 1875) und des in standespolitischen Belangen wichtigen „Deutschen Ärzteblatts“ (gegründet 1872 als „Ärztliches Vereinsblatt“).

Strukturmerkmale des modernen ärztlichen Habitus werden im ersten Hauptkapitel (Kap. 2) herausgearbeitet und auf berufsgruppenspezifische Leistungsvorstellungen hin abgeklopft. Betont wird eine bemerkenswerte Kontinuität idealer Arztbilder, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den rasanten Aufstieg der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin begleiteten und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in das Bild vom heroischen „Hochleistungsmediziner“ mündeten. Als ein bedeutender Katalysator des Eigen-Bilds von einer Elite, die Härte gegen sich selbst anzuwenden habe, wirkte Wenger zufolge das Medizinstudium, wie es im deutschsprachigen Raum spätestens am Übergang zum 20. Jahrhundert mitsamt der Einrichtung des „Praktischen Jahrs“ (1901) allgemein anzutreffen war: Zunehmend als eine Schule der Vorwegnahme berufsspezifischer Stressfaktoren begriffen, habe eine straff nach militärischem Reglement durchhierarchisierte Ausbildung die „physische und psychische Unverwundbarkeit“ nachgerade als Teil der eigenen Leistungsfähigkeit propagiert (S. 45). Diese in medizinischen Laufbahnen also bereits früh ablaufende Internalisierung scharfer Trennlinien zwischen ärztlicher Gesundheit und der Krankheit der Patient:innen habe erheblichen Anteil daran gehabt, wenn Mediziner:innen fortan „eigene Schwächen und insbesondere Krankheiten zu tabuisieren und vor Vorgesetzten, Kollegen und Patienten zu verheimlichen“ suchten (ebd.).

Welche konkreten Belastungen und als berufsbedingt angesehenen Krankheiten dies vorrangig waren, steht im Mittelpunkt der Kapitel 3 und 4. Diese Abschnitte, die ein differenziertes Bild von den Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern und in der Niederlassung sowohl auf dem Land als auch in der (Groß-)Stadt vermitteln, bilden den empirischen Kern der Studie. Sie sind dank der Verwendung zahlreicher Selbstzeugnisse immer wieder von großer Eindringlichkeit und belegen mit Beispielen aus dem gesamten Untersuchungszeitraum, in welcher Form „nicht nur vertikal nach unten, sondern auch horizontal […] sozialer Druck“ entstand, medizinische Fremdhilfe im Fall der eigenen Erkrankung verzögert oder überhaupt nicht anzunehmen (S. 83). Freilich bestätigt sich ein früherer Befund des Kölner Medizinhistorikers Daniel Schäfer2, wonach dies zu keinem Zeitpunkt für Krankheiten galt, die in Einklang mit einem heroischen Selbstbild zu bringen waren – etwa nach einem Selbstexperiment. Zu den wichtigen neuen Einsichten dieser Abschnitte gehört dagegen, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts für die eklatant hohe Mortalität von Mediziner:innen solche Erkrankungen, die durch die unmittelbare ärztliche Praxis hervorgerufen wurden, sehr viel weniger als Ursache ins Gewicht gefallen seien als „die ärztliche Haltung zur eigenen Gesundheit und Krankheit und die daraus resultierenden Verhaltensweisen und Handlungsmuster mit eigenen Schwächen und Krankheiten“ (S. 177). Dies wird vor allem anhand von psychischen Leiden und Suchterkrankungen nachvollzogen, aber ebenso am Umgang beispielsweise mit Schlaganfällen. Zentriert um die These einer auffälligen Kontinuität von Kernelementen des ärztlich-heroischen Habitus seit der Hochmoderne, unterstreicht Wengers Buch die Annahme einer im Vergleich zu anderen akademischen Berufsgruppen anachronistisch anmutenden mentalen Grundstruktur. Sie präge, so will die Studie am Ende zeigen, weiterhin die medizinische Ausbildung und die alltägliche berufliche Praxis – mit enormen Rückkopplungseffekten auf die eigene Krankheitswahrnehmung.

Die Indizien, die dafür im Verlauf der Darstellung mit einem zuweilen gegenwartsnahen Fokus zusammengetragen werden, können durchaus überzeugen. Doch bleiben für die Jahrzehnte nach 1945 entsprechende Kontextualisierungen recht blass. Das gilt etwa mit Blick auf die seit den 1970er-Jahren intensiv geführten Debatten um eine „Ökonomisierung“ der Medizin, was irritierenderweise nur sehr knapp gestreift wird und fraglos ein Versäumnis darstellt. Dies umso mehr, als sich eine Überprüfung der Argumentationslinien und zentralen Thesen wohl gerade anhand der „neoliberalen“ Transformation des Krankenhauses in den 1990er- und 2000er-Jahren angeboten hätte – ein Prozess, über den inzwischen eine Reihe empirisch dichter Arbeiten soziologischer Provenienz vorliegt, die auch dem Wandel des traditionellen Arztbildes Aufmerksamkeit geschenkt haben.3 Eine gewisse Enge der Darstellung sticht für die Zeit der Bundesrepublik zudem insofern ins Auge, als sie nur selten den medizinischen Fachdiskurs verlässt. Selbst zeitgenössisch so stark beachtete Kontroversen wie jene um Jürgen Thorwalds Bestseller „Die Entlassung“ (1960), der das kollegiale Beschweigen später Behandlungsfehler des Berliner Starchirurgen Ferdinand Sauerbruch infolge einer Demenzerkrankung aufdeckte4, fallen dadurch aus dem Blick. Auf solche Konjunkturen des Themas ärztlicher Krankheiten in der breiteren Öffentlichkeit mehr Gewicht zu legen, hätte die Möglichkeit eröffnet, systematischer danach zu fragen, warum es sich in bestimmten historischen Konstellationen eben doch als ein Politikum erwies – und was dabei jeweils sonst noch ausverhandelt wurde. Für eine Gesellschafts- und Kulturgeschichte der „Ärztegesundheit“ hat Sebastian Wengers kritisch-engagierte, in ihrer sozialhistorischen Eindringlichkeit über weite Strecken bestechende Pionierstudie damit noch Platz gelassen.

Anmerkungen:
1 Thomas Mann, Der Zauberberg. Roman [1924], 9., anhand der Erstausgabe neu durchgesehene Aufl., Frankfurt am Main 2012, S. 185.
2 Siehe S. 85 im besprochenen Buch, mit Verweis auf Daniel Schäfer, Medice cura te ipsum. Gesundheit und Krankheit von Ärztinnen und Ärzten aus historischer Sicht, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 61 (2015), S. 21–34.
3 Siehe zuletzt v.a. Heinz Naegler / Karl-Heinz Wehkamp, Medizin zwischen Patientenwohl und Ökonomisierung. Krankenhausärzte und Geschäftsführer im Interview, Berlin 2018. Vgl. Richard Kühl / Henning Tümmers, Auf dem Markt. Das bundesdeutsche Krankenhaus – Skizzen zu einer Gegenwartsgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 17 (2020), S. 261–282, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2020/5857 (01.12.2020).
4 Jürgen Thorwald, Die Entlassung. Das Ende des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch, München 1960 (und öfter). Vgl. Udo Schagen, Der Sachbuchautor als Zeithistoriker. Jürgen Thorwald korrigiert Nachkriegslegenden über Ferdinand Sauerbruch, in: Non Fiktion 6 (2011), S. 101–129.

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