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Titel
Militärisches Entscheiden. Voraussetzungen, Prozesse und Repräsentationen einer sozialen Praxis von der Antike bis zum 20. Jahrhundert


Herausgeber
Clauss, Martin; Nübel, Christoph
Reihe
Krieg und Konflikt
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Anke Fischer-Kattner, Historisches Institut, Universität der Bundeswehr München

Alltägliches Entscheiden ist immer wieder eine „Zumutung“1, doch in militärischen Entscheidungssituationen, vor allem im lebensbedrohlichen Gefecht, ist der Druck noch weit höher. Das Militär versucht daher, seine Angehörigen mit standardisierten Prozessen sowie individualisierten Reflexions- und Begleitungsangeboten zu unterstützen. Management-Berater übertragen dieses Instrumentarium gerne auf ökonomische Entscheidungsprobleme, obwohl in letzter Zeit eher Vorgänge in der Bundeswehr durch Handlungsvorbilder aus der Wirtschaft modernisiert werden sollten. Dass solche Einflusskonjunkturen weniger in Wesensmerkmalen des Entscheidens, sondern vielmehr in historisch spezifischen Kontexten gründen, zeigt in langfristiger Perspektive der vorliegende, von Martin Clauss und Christoph Nübel herausgegebene Sammelband. Er fokussiert vor allem auf den deutschsprachigen Raum, bezieht aber auch kulturelle Wurzeln in der griechisch-römischen Antike und dem byzantinischen Reich ein.

Der Band entstand aus der Jahrestagung des Arbeitskreises Militärgeschichte 2017. Als Gastgeber in Münster bot der SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ konzeptionelle Bezugspunkte. Der kritische historische Blick auf Entscheidungsprozesse, wie z. B. von Barbara Stollberg-Rilinger entwickelt, hat Charakteristika des Entscheidens herausgearbeitet: Neben dem Zumutungscharakter sind dies die Kontingenz, die zugleich Unsicherheit schafft und Optionen eröffnet, sowie soziale Strukturierungen und nachträgliche Konstruktionen nur scheinbar rationaler und individueller Vorgänge. Vor diesem Hintergrund werden neue Perspektiven auf militärisches Entscheiden entwickelt. So kann auch dessen zum Teil fortbestehende mythische Verklärung in der deutschen Auftragstaktik hinterfragt werden.

Aus dieser Chance ergibt sich aber in langfristiger historischer Perspektive auch eine Herausforderung: Der Verfremdungseffekt staunender Betrachtung scheint für die Moderne besonders erkenntnisgenerierend, doch sind in Antike und Mittelalter offenbar immer wieder wichtige „Parallelen zwischen Vormoderne und Moderne“ (S. 29) zu entdecken.

Bevor 15 Sammelbandbeiträge in drei Abschnitten Voraussetzungen (I), Prozesse (II) und Repräsentation (III) militärischen Entscheidens untersuchen, fordert Wolfram Pyta programmatisch, das transepochal wie transdisziplinär bedeutsame „Brückenthema“ durch die „Verknüpfung politik-, militär- und kulturhistorischer Fragestellungen“ (S. 49) zu erschließen. Dabei stellt er die Verantwortung des entscheidenden Subjekts ins Zentrum. Diesem spricht Pyta mit Carl Schmitts Dezisionismus-Begriff Willensfreiheit zu, die durch Tugend in geregelte Bahnen gelenkt werden soll. Militärisches Entscheiden erscheine daher bis in gegenwärtige Dienstvorschriften hinein als intensiv einzuübende Kunst.

Zur Illustration führt Pyta hier ausgerechnet Formulierungen aus der Vorschrift „Truppenführung“ vom Oktober 1933 mit der Heeresdienstvorschrift 100/100 von 2007 zusammen (S. 63). Angesichts der fortdauernden Debatten um die historische Tradition der Bundeswehr wäre eine argumentative Einordnung dieser Zusammenstellung jenseits von Formulierungsähnlichkeiten dringend angeraten. Pytas Fokussierung auf den zentralen individuellen Entscheider der deutschen Militärtheorie ermöglicht zwar Verantwortungszuschreibung, erweist sich aber als anfällig für dessen mythische Überhöhung als individualistischer Künstler.

Die Beiträge in Abschnitt I fragen demgegenüber allgemein nach persönlichen, institutionellen und informationellen Ressourcen der Entscheidungsvorbereitung, aber auch den Grenzen jeder Lagebeurteilung. Statt streng individueller Entscheidungsfindung betonten bereits die von Simon Puschmann untersuchten antiken Militärtheoretiker Onasandros und Vegetius die Bedeutung von Rat und Gespräch. Jan Philipp Bothe zeigt an Anweisungen der frühneuzeitlichen Militärtheorie zum Erwerb von „Landeskenntnis“, wie uneindeutige Informationen durch soziale Praktiken aufbereitet werden mussten. Handlungsalternativen waren nur kommunikativ durch Vereinfachungen herzustellen. Auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg sollte dies der von Lukas Grawe untersuchte Generalstab organisatorisch sichern. Für die Dritte Oberste Heeresleitung im Krieg erkundet Peter Mertens das Potential des sozialpsychologischen „Reflective-Impulsive Model of Social Behavior“ (S. 155) anhand der Beurteilung fremder Heere durch den Generalstab. Marco Sigg beschließt diesen Teil mit einer überzeugenden Historisierung des Dezisionismus als Denkstil, der Entscheidungen im preußisch-deutschen Heer zwischen 1869 und 1945 kulturell tief prägte.

Im Gegensatz zu seinen Voraussetzungen ist der eigentliche Entscheidungsakt häufig eine analytische Leerstelle. Kommunikativ getroffene Kollektiventscheidungen sind dank schriftlicher Spuren besser zu erfassen als innerlich ablaufende Entscheidungsvorgänge, weswegen die Mehrzahl der Beiträge in Abschnitt II Beratung als Teil des Entscheidungsprozesses betont. Dieser Zugriff ist erwartungsgemäß sehr ergiebig für die von Simon Liening betrachteten Städtebünde und eidgenössische Kriegsgemeinden (Oliver Landolt) im Spätmittelalter, aber auch schon für die Kontrolle der Feldherren durch den Senat der Römischen Republik bis ins 1. Jahrhundert v. Chr. (Florian Wieninger). Die byzantinischen Kaiser erreichten durch Konsultationen, so Michael Grünbart, eine „Externalisierung oder Delegation von Entscheiden“ (S. 263) und selbst die angebliche Beratungsresistenz des militärischen Dilettanten Adolf Hitler entpuppt sich in Roman Töppels kritischer Quellenlektüre als Entlastungsmythos der Wehrmachtsgeneralität nach dem Krieg. Nur Friedrich II. von Preußen bleibt, in Alexander Querengässers Darstellung, als roi-connétable alleiniger Lenker seiner Schlachten, der sich durch persönliche Anwesenheit am Kriegsschauplatz unkalkulierbaren Risiken aussetzte. Ob und wie seine besondere Form monarchischer Selbstinszenierung als Feldherr seine Entscheidungen beeinflusste, tritt gegenüber der direkten „Willensbekundung […] im Kriegsrat oder vom Feldherrnhügel“ (S. 315) in den Hintergrund.

Die Beiträge in Abschnitt III dekonstruieren demgegenüber überzeugend militärische Entscheidungsrepräsentationen. Für Quellen der Stauferzeit weist Sebastian Schaarschmidt nach, wie Übereinstimmung zwischen militärischen und politischen Entscheidungsformen im Rat der Großen inszeniert wurde. Die visuelle Repräsentation des Dezisionismus von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts untersucht Thomas Weißbrich anhand vielfältiger bildlicher Darstellungen von Feldherren (allein oder im Stabskreis), durch die historische Momente des Entscheidens affirmativ (mit-)konstruiert wurden. Frederik Frank Sterkenburgh übernimmt Stig Försters Modell eines preußischen Führungsdreiecks und weist dem künftigen Kaiser Wilhelm I. darin die entscheidende Rolle zu: 1870/71 oblag diesem im Konflikt zwischen Minister Bismarck und Generalstabschef Moltke die letztgültige Entscheidungsgewalt über Kriegsoperationen und Friedensverhandlungen. Weniger zielführend waren, wie Sebastian Rojek darlegt, die „Gestaltungsentscheidungen“ (S. 479) des Großadmirals Alfred Tirpitz, der den Schlachtflottenbau massiv propagiert hatte. Vor einer enttäuschten Öffentlichkeit, die eine Entscheidungsschlacht erwartet hatte, versuchte er, von Fehlern der Rüstungspolitik abzulenken, indem er diese rhetorisch „gegen jede rationale Kritik immunisierte“ (ebd.).

Insgesamt belegt der Band, wie Wolfram Pyta verspricht, welches historisch-kritische Potential die interdisziplinär inspirierte Analyse von Entscheidungsprozessen in Militär und Krieg birgt. Vor diesem Hintergrund ist das Fehlen eines Registers und eines bilanzierenden Schlusskapitels in dem an Querverbindungen reichen Band bedauerlich. Gerade die ausführlichen Überlegungen zu „Militärische[m] Entscheiden zwischen Vormoderne und Moderne“ (S. 28) aus der Einleitung hätten hier eine hervorragende Grundlage geboten. Zudem scheint leider ein Verlagslektorat ausgeblieben zu sein, denn die Redaktionsqualität der Beiträge variiert sehr. Beispielhaft seien hier nur die innerhalb desselben Beitrags verzeichneten Varianten des Schlüsselbegriffs König-Feldherr angeführt: War Friedrich nun „Roi Connétable“, „roi-connetable“ (beide S. 314), „roi-connétable“ (S. 315) oder gar „roi connètable“ (S. 335)?

Davon abgesehen eröffnen die Herausgeber und Beiträger des Bandes einen wegweisenden Zugang zu einem innovativen Themenfeld, das wichtige historiographische wie gesellschaftspolitische Diskussionen in Zukunft entscheidend bereichern wird. Gerade in der longue durée erweist sich, dass scheinbar überzeitliche Grundannahmen über militärisches Entscheiden in ihrer engen Anbindung an einen mythisch überhöhten Dezisionismus zu hinterfragen sind. Viele weiterführende Studien können hier anschließen und z. B. andere Formen militärischer Aktion als die Schlacht oder – gerade für die Vor- und Frühmoderne – andere Entscheidungsträger als Offiziere und Monarchen in den Blick nehmen. Welchen Einfluss nahmen etwa protestierende Frauen und Kinder auf militärische Entscheidungen? Wie funktionierte Entscheiden im dezentralisierten Kleinen Krieg? Welche militärischen Entscheidungsmechanismen wirkten im Rest Europas und in der ganzen Welt? Das Feld vielversprechender Anschlussfragen ist riesig. Vielleicht wird dadurch in Zukunft auch die Reihe der Beiträger zum Thema noch etwas diverser als im aktuell vorliegenden Band? Auf jeden Fall ergänzen die hier gewonnenen Erkenntnisse die Forschung, aber auch gesellschaftliche und militärische Debatten, wie die um die Rolle der Bundeswehr, durch wichtige historische Relativierungen und neue Deutungsangebote.

Anmerkung:
1 Barbara Stollberg-Rilinger, Praktiken des Entscheidens. Zur Einführung, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte, Köln u.a. 2015, S. 630–634, hier: S. 630.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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