M. Borchard u.a. (Hrsg.): Entspannung im Kalten Krieg

Titel
Entspannung im Kalten Krieg. Der Weg zum Moskauer Vertrag und zur KSZE


Herausgeber
Borchard, Michael; Karner, Stefan; Küsters, Hanns Jürgen; Ruggenthaler, Peter
Erschienen
Graz 2021: Leykam
Anzahl Seiten
800 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Schattenberg, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

„Jeder wusste es: Der Schlüssel zur Öffnung der Türen in Europa lag in Moskau. Bisher wird die veränderte Deutschland-, Ost- und Entspannungspolitik oftmals allein als Erfolg Willy Brandts dargestellt. Tatsächlich war es Brežnev, der die Klinke betätigte, um selbst eine aktivere Westpolitik betreiben zu können. Neue sowjetische Akten belegen, ohne seine Bereitschaft zu einem Kurswechsel im Sinne von Entspannung und Friedenssicherung wäre der Moskauer Vertrag nie zustande gekommen.“ (S. 11) Mit diesem Satz beginnt die Einleitung dieses Sammelbands, die sich wie ein Manifest liest. Anstatt wie üblich das Themengebiet einzukreisen und den Forschungsstand vorzustellen, gehen die Herausgeber in medias res und reihen eine These an die nächste. Einerseits kann man sich freuen, dass dies endlich mal ein Sammelband ist, der nicht nur eine klare Zielsetzung hat, sondern geradezu eine Mission verfolgt. Andererseits möchte man keine dieser Thesen unkommentiert stehen lassen, zumal hier in der Einleitung keine einzige mit Quellen oder Literatur untermauert ist. Sehr schnell beschleicht einen der Verdacht, dass es hier weniger um neu zugängliche Quellen aus dem Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte (RGANI) geht, sondern vielmehr um nichts weniger als die Umwertung der Geschichte. Es wird suggeriert, dass diese „neuen Akten“, die online abrufbar sind1, keine anderen Schlüsse zulassen: Die Ostpolitik sei weder neu noch Brandts Idee gewesen, sondern eine etwas ungestüme, stümperhafte Fortsetzung von Adenauers wohlüberlegter, besonnener Strategie. So lassen sich wohl die Einleitung und auch der erste Beitrag von Michael Borchard zusammenfassen.

Doch sollte man dem Eingangszitat entgegnen, dass es keiner neuen sowjetischen Akten bedurfte, um diese Binsenweisheit festzustellen: Die Voraussetzung für eine Vertragsunterzeichnung ist immer der beidseitige politische Wille. Auch ohne bisher Einsicht in die Politbüroakten gehabt zu haben, lässt sich das in zahlreichen Memoiren und anderen Archivakten nachlesen.2 Wenn es aber um die Frage geht, wer als erster den Kontakt herstellte, so war es Willy Brandt, der am 19. November 1969, nur einen Monat nach seinem Amtsantritt als Kanzler, einen Brief an die sowjetische Regierung schrieb, in dem er eine vertrauensvolle Zusammenarbeit anbot, um „den Frieden sicherer zu machen“.3 Als Breschnews Mittelsmann vom KGB am Heiligabend 1969 bei Egon Bahr erschien, um den vertraulichen Kontakt zu Brandt herzustellen, trug dieser Emissär Brandts Brief als Erkennungszeichen bei sich. Nikita Petrov, der in diesem Sammelband das Zustandekommen des „geheimen Kanals“ zwischen Moskau und Bonn beleuchtet, geht auf diese Tatsache nicht ein, dafür aber Nikolaj Pavlov (S. 127).4 Deutlicher lässt sich die Frage nach „Henne“ und „Ei“ nicht beantworten. Andererseits sollte man ihr auch nicht zu viel Beachtung schenken, da ein Annäherungs- und Friedensprozess immer ein Pas-de-deux und die Frage, wer wen zum Tanz aufforderte, zweitrangig ist.

Die Herausgeber fahren fort: „Entscheidend für die politische Annäherung waren wirtschaftliche Vorleistungen.“ (S. 11) Dabei ist keineswegs so eindeutig entschieden, wie hier behauptet wird, was eigentlich was begünstigte – der Handel den Wandel oder umgekehrt die politische Annäherung den Güteraustausch. Auch dies ist eine müßige Frage nach Henne und Ei, die wesentlich komplexer ist als hier dargestellt.5

Weiter heißt es: „Brežnev brauchte Ruhe und Entspannung in Europa, um China gegenüber gestärkt auftreten zu können.“ (S. 11) Auch diese These wird an dieser Stelle nicht belegt, obwohl sie sehr eindimensional nach Osten gerichtet ist und außer Acht lässt, dass es Breschnews erklärtes Ziel war, über Deutschland und Frankreich die USA zu erreichen und mit diesen zu einem Ausgleich zu kommen.6 Das führt dann auch Sergey Radchenko in seinem Beitrag über China aus: dass der wahre Sehnsuchtspartner die USA waren (S. 248). Dabei gehen die Herausgeber selbstverständlich davon aus, dass es einzig um geostrategische Ziele ging. Obwohl sie dezidiert erklären, „eindimensionale Erklärungsansätze wie das Agieren einzelner, weitsichtiger, herausragender Politiker und Führungspersönlichkeiten“ (S. 14) führten zu nichts, und stattdessen vorhaben, „die Komplexität der ineinandergreifenden politisch-diplomatischen, sicherheitspolitisch-militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Vorgänge […] multiperspektivisch zu beleuchten“ (S. 13), wird genau dies nicht eingelöst. Erneut ist es Radchenko und damit erst der zehnte Beitrag, der erwähnt, dass Breschnew noch andere als geostrategische Ziele hatte – nämlich „das Gefühl einer persönlichen Sendung: Er wollte Krieg verhindern“ (S. 253).

Die Herausgeber hingegen bleiben noch hinter einer zweiten von ihnen aufgestellten Prämisse zurück: Ihre Aussage, komplexe Entwicklungen ließen sich nicht durch das Agieren „eines Leonid Brežnev, Willy Brandt oder Henry Kissinger“ erklären (S. 14), widerspricht direkt ihrem Eingangsstatement, es sei Breschnew und nicht Brandt gewesen, der die Tür aufstieß, sowie auch dem gesamten Beitrag von Michael Borchard, der eine einzige Huldigung an Konrad Adenauer und seine Ostpolitik ist und den Adenauer-Biographen Hans-Peter Schwarz zitiert, als sei er eine unwiderlegbare Archivquelle (S. 50).

Noch einiges müsste zurechtgerückt oder zurückgewiesen werden: Weder stoppte Breschnew Chruschtschows Wohnungsbauprogramme, noch bekämpfte er die Kossygin’schen Reformen (S. 20) – beides sind Klischees, die lange widerlegt sind. Dass der Militärisch-Industrielle Komplex nicht erst unter Breschnew viele Ressourcen verschlang, sondern bereits von Chruschtschow gehätschelt wurde, beschreibt auch Bezborodov in seinem Beitrag (S. 376). Der Afghanistan-Krieg belastete nicht ab 1970, sondern ab 1980 die Wirtschaft (S. 20), aber das ist nur ein ärgerlicher Tippfehler. Zwei letzte Anmerkungen seien zur Einleitung erlaubt: Wenn man schon einen großen Bogen des Entspannungsprozesses zwischen Ost und West schlagen will, dann sollte dieser nicht in Wien 1961 (S. 13), sondern in Genf 1955 beim ersten Gipfeltreffen beginnen.7 Überhaupt ist Chruschtschows Einfluss in dieser Hinsicht nicht zu unterschätzen.8 Seine Entspannungspolitik hatte aber 1961 schon längst den Zenit überschritten; der Gipfel mit Kennedy war der Versuch zu retten, was nicht mehr zu retten war.

Richtig ist, dass bislang viele entscheidende Archivquellen im RGANI nicht zugänglich waren (S. 14). Leider wird kein Wort darüber verloren, dass Publikationen russischer Akten immer ein zweischneidiges Schwert sind, weil es nach außen so aussieht, als wäre dies der lang ersehnte Durchbruch, während sich für die Arbeit im Lesesaal nur wenig ändert. Von den Beständen Breschnews und des Politbüros, die hier als freigegeben gepriesen werden, ist aus dem ersten noch lange nicht alles erhältlich und zu dem zweiten gibt es keine adäquaten, nämlich annotierten Findbücher. Schön wäre eine Erläuterung gewesen, nach welchen Kriterien die hier beworbenen und als Zeugen angerufenen „100 Schlüsseldokumente“ aus dem RGANI ausgewählt, übersetzt und ins Internet gestellt wurden (S. 14).9

Aber der Band besteht aus viel mehr als dem revisionistischen Ansinnen. 33 Aufsätze sind in sieben Abschnitte gegliedert: Nach (1) den Konstellationen vor allem der westdeutschen Außenpolitik – besonders unterhaltsam der Beitrag von Kai Wambach über die missglückte Moskau-Reise von Rainer Barzel 1971, der sich bitterlich über die „konspirative Koexistenz“ zwischen Brandt und Breschnew beklagte (S. 153) – und (2) den machtpolitischen Voraussetzungen in Moskau geht es (3) um die wirtschaftlichen Interessen „als Triebfeder der veränderten Politik“ (S. 15). Diese Beiträge holen teilweise sehr weit aus oder erzählen eine umfassende Wirtschaftsgeschichte der Sowjetunion nach dem Krieg (Stefan Karner); aber in keinem wird mit Quellen belegt, dass die Wirtschaft die entscheidende Triebfeder für Breschnews Westpolitik war, auch nicht in dem Beitrag von Olga Pavlenko, der dies im Titel trägt: „Wirtschaft als Triebfeder der Entspannung“. Das weniger Bekannte und Interessante präsentiert sich aber in den hinteren Abschnitten: die Auswirkungen des Moskauer Vertrages auf (4) die osteuropäischen Staaten, (5) die Reaktionen der transatlantischen Bündnispartner und (6) die Interessen der neutralen Länder, hier Finnland und Österreich. Der Band schließt (7) konzeptionell und zeitlich mit dem gut erforschten KSZE-Prozess (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und der Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte 1975.

Was der Band zeigt, ist die transnationale Reichweite von fünf Jahren Ostpolitik: nicht nur, wie viele Menschen und Mechanismen zusammenwirkten, um eine neue Ära beginnen zu lassen, sondern gerade auch, in welchem Maße die diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den „Satellitenstaaten“ vom Moskauer Vertrag abhängig waren. Nachdem Rumänien vorgeprescht war und 1967 bereits Botschafter nach Bonn entsandt hatte, entschieden die Außenminister der sozialistischen Staaten, dass dies nicht opportun sei, solange Bonn nicht grundlegend seine Politik ändere (S. 522). Die Beziehungen vertraglich zu regeln, wurde daher für alle Moskautreuen erst nach 1970 möglich.

Es ist sehr zu bedauern, dass sich zwei Drittel der Autor:innen nicht die Mühe gemacht haben, den Forschungsstand zu referieren und zu analysieren, welche neuen Erkenntnisse tatsächlich durch die neuen Quellen gewonnen werden können, die allerdings in 15 Beiträgen auch gar nicht herangezogen werden. So wird viel Bekanntes referiert, die „kulturellen Vorgänge“ (S. 13) werden nirgends beleuchtet, und einige bleiben sogar hinter dem aktuellen Forschungsstand zurück. Immer wieder verweisen die Autor:innen bei Thesen und Aussagen, für die eine Quelle angebracht wäre, nur auf die anderen Beiträge. Letztlich belegt der Band ein weiteres Mal, wie wichtig diese weltpolitische Phase war. Dass dies mehr Adenauers als Brandts Verdienst war, belegt er jedoch nicht.

Anmerkungen:
1 Die Herausgeber beziehen sich in ihrer Einleitung auf Dokumente aus dem RGANI, die auf der Seite der Konrad Adenauer Stiftung veröffentlicht wurden: https://www.kas.de/de/web/wissenschaftliche-dienste-archiv/portal-ostpolitik (30.04.2021).
2 Egon Bahr, Zu meiner Zeit, 3. Aufl., München 1996; Willy Brandt, Erinnerungen. Mit den „Notizen zum Fall G“, München 2003; Anatolij S. Černjaev, Sovmestnyj ischod. Dnevnik dvuch ėpoch, 1972–1991 gody, Moskau 2010, und viele mehr.
3 Brandt an Kossygin, Brief vom 19.11.1969, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1969, Bd. 2, München 2000, S. 1.313; siehe auch Susanne Schattenberg, Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins, Köln 2017, S. 486–487.
4 Beide zitieren hier keine Archivquellen, sondern Wjatscheslaw Keworkow, Der geheime Kanal. Moskau, der KGB und die Bonner Ostpolitik, Berlin 1995, S. 55.
5 Vgl. dazu Angela Stent, Wandel durch Handel? Die politisch-wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion, Köln 1983; aber auch Dunja Krempin, Die sibirische Wucht. Der Aufstieg der Sowjetunion zur globalen Gasmacht, 1964–1982, Köln 2019, die nahelegt, die politische Annäherung sei in erster Linie geschehen, um den Handel auszubauen, der also das „wahre“ Ziel gewesen sei.
6 Schattenberg, Breschnew, S. 500.
7 Susanne Schattenberg, „Gespräch zweier Taubstummer“? Die Kultur der Chruščev‘schen Außenpolitik und Adenauers Moskaureise 1955, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 57/7 (2007), S. 27–46.
8 William Taubman, Khrushchev. The Man and his Era, New York 2003.
9 Die verkündete Domain www.ostpolitik.de existiert allerdings tatsächlich unter dieser Adresse: https://www.kas.de/de/web/wissenschaftliche-dienste-archiv/portal-ostpolitik (19.05.2021).

Kommentare

Von Ruggenthaler, Peter07.12.2021

Die Rezensentin behauptet, die Einleitung des Bandes lese sich „wie ein Manifest“, habe eine „klare Zielsetzung“, verfolge „geradezu eine Mission“ und streitet den Beiträgen Wissenschaftlichkeit im Sinne einer kritisch-differenzierenden Analyse ab. Angesichts wissenschaftlicher Annotationen und der Auswertung neuen, bislang unzugänglichen Quellenmaterials aus russischen Archiven ist dies eine gravierende Unterstellung. Die Herausgeber haben in der Einleitung auf eine nochmalige Quellenzitation verzichtet, da die zentralen Thesen in den Beiträgen der Autorinnen und Autoren quellen- und literaturgestützt belegt sind. Der Vorwurf, es sei „keine einzige These mit Quellen oder Literatur untermauert“, ist daher falsch.

Um jeder Person den Quellenzugang zu verschaffen, wurden mit der Veröffentlichung 100 Schlüsseldokumente im Internetportal www.ostpolitik.de in deutscher Übersetzung und als Faksimiles im russischen Original im Internet präsentiert – eine Besonderheit. Dort wird zudem auf einen in Vorbereitung befindlichen Editionsband mit weiteren übersetzten Dokumenten hingewiesen und dann die Auswahl begründet. Jeder kann daraus eigene Interpretationen herleiten. Wer in russischen Archiven geforscht hat, weiß um die Problematik des Quellenzugangs. Nirgendwo wird im Band angesichts dieser bekannten Malaise behauptet, hier wäre „der lang ersehnte Durchbruch“ gelungen.

Noch schwerer wiegt der Vorwurf, es gehe um die „Umwertung der Geschichte“. Die neu ausgewerteten Akten ließen „keine anderen Schlüsse“ zu. Eine solche Behauptung impliziert ein nicht nachvollziehbares Wissenschaftsverständnis , ebenso wie die Behauptung, „auch ohne bisher Einsicht in die Politbüroakten gehabt zu haben, lässt sich das in zahlreichen Memoiren und anderen Archivakten nachlesen“. Jeder Person steht es frei, eigene Schlussfolgerungen aus Quellen zu ziehen, die sich bei Kenntnis wichtiger Politbüro-Akten der KPdSU in Teilen anders darstellen als in Memoiren. Historische Forschung muss der ganzen Wahrheit nachgehen, kann sich nicht mit Gerüchten oder Halbwahrheiten begnügen.

Ohne Blick auf vorausgegangene Entwicklungen, die zu den Moskauer Vertragsverhandlungen führten, behauptet die Rezensentin, die bundesdeutsche Ostpolitik sei von Willy Brandt am 19. November 1969 initiiert worden, die Frage nach „Henne“ oder „Ei“ beantwortet. Eine solche Sichtweise ist unhistorisch, lässt sie doch die Vorgeschichte außer Acht. Wenn die Rezensentin meint, es sei „zweitrangig“, ob Brandt oder Breschnew die Initiative ergriffen habe, bleibt unverständlich, warum sie daraus ihren Vorwurf ableitet, der Blick auf vorangegangene Geschehnisse bedeute eine „Umwertung der Geschichte“ und belege das „revisionistische Ansinnen“ des Werkes. Ist es schon Geschichts-Revisionismus, wenn neue Erkenntnisse bekannt und veröffentlicht werden, weil wenig rezipierte Aspekte benannt und Vorgänge in diesem Lichte neu bewertet werden?

Das betrifft auch die Fragen, was nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Bonn und Moskau 1955 passierte, wie sich Positionen veränderten, an welchen Grundprinzipien festgehalten wurde und in welchen Punkten die bundesdeutsche Ostpolitik Änderungen erfuhr. Darüber ist einiges veröffentlicht. Ebenso wichtig sind aber Perzeptionen, Lagebeurteilungen, Interessenpositionen und das taktische Vorgehen der Kreml-Herren. Darüber können nur neue Quellen Auskunft geben.

Ein harter Vorwurf des Revisionismus muss nicht nur gut belegt sein; auch muss die Rezensentin selbst frei von dem Verdacht sein, sie ließe sich eben von diesem Ziel leiten. Das trifft ihre polemische Kritik, die Einleitung und der Beitrag über Adenauers Ostpolitik zielten darauf ab, Brandts Ostpolitik als „ungestüme, stümperhafte Fortsetzung von Adenauers wohlüberlegter, besonnener Strategie“ darzustellen und eine bloße „Huldigung an Konrad Adenauer“ vorzunehmen. Dieses Urteil verschweigt, dass manche Historiker, trotz anderslautender Quellen und Forschungen, lange an der These festhielten, die neue Ostpolitik stelle einen Epochenbruch ohne nennenswerte Vorläufer dar. Den Herausgebern war wichtig, dem entgegenzutreten. Denn Adenauers Deutschland- und Ostpolitik wie auch die der Unionsparteien waren viel facettenreicher und haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Es schmälert nicht das historische Verdienst Brandts, darauf hinzuweisen, dass Adenauers Ostpolitik „Elemente der späteren Ostpolitik“ vorweggenommen hat. Zumal sich Brandt selbst verschiedentlich deutlich in die Kontinuität Adenauers stellte, ein „Wandern zwischen den Welten“ bundesdeutscher Außenpolitik ablehnte und die militärische Stärke der NATO gar als Voraussetzung für Entspannungspolitik begriff. Dass Publizisten wie Theo Sommer, die Adenauer keineswegs nahestehen, diese Kontinuitäten betonen, bleibt bei Susanne Schattenberg unerwähnt.

Ähnlich zugespitzt urteilt die Rezensentin über die wirtschaftlichen Grundbedingungen und deren Einfluss auf die Ost- und Entspannungspolitik. Für Breschnew gab es kaum ideologische Schranken, als es in den 1960er-Jahren galt, die marode Sowjet-Wirtschaft technologisch an westliche Standards, besonders an die Bundesrepublik, heranzuführen. Da und dort auftauchende Widerstände verstummten mit den erwarteten Gas- und Öl-Dollars. Breschnews Problem war das 1963 abgelaufene deutsch-sowjetische Warenabkommen, das über kontingentierte Einfuhrausschreibungen fortgeführt wurde. Ein neues Abkommen scheiterte 1966 nicht zuletzt an Forderungen Moskaus nach weitreichender Liberalisierung der Einfuhren und mangelnder Bereitschaft, West-Berlin einzubeziehen. Handelsinteressen waren kein Nebeneffekt, sondern eine Grundlinie sowjetischer Außenpolitik. Quasi im Do-ut-des erhielt Brandt die Zustimmung des Kremls zu seiner Ostpolitik. Der bemühte Henne-Ei-Vergleich hilft hier nicht weiter. Ein Blick auf die zeitliche Abfolge zeigt den Widersinn dieser hypothetischen Vergleichskonstruktion: Zuerst schloss Italien mit der Energiegesellschaft ENI ein Abkommen mit der Sowjetunion. 1968 folgte Österreich mit der ersten sowjetischen Gas-Pipeline und zwei Jahre später die Bundesrepublik, um nur die letzten Etappen vor den Barter-Verträgen zu nennen.

Dass Breschnew Kosygins Reformen, die wesentlich auf Vorstellungen der Charkower Nationalökonomen wie Liberman zurückgehen, aus welchen Gründen auch immer bekämpfte, wird heute von keinem Wirtschaftshistoriker mehr bestritten und in der angegebenen Literatur belegt. Dass Breschnew ein Wohnbauprogramm, in Fortentwicklung des Chruschtschowschen 5-Etagen-Plattenbaus forcierte, arbeitet Karners Artikel, mit Zahlen belegt, deutlich heraus.

Einerseits wirft die Rezensentin dem Band vor, nicht „die Komplexität der ineinandergreifenden politisch-diplomatischen, sicherheitspolitisch-militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Vorgänge [...] multiperspektivisch zu beleuchten“. Andererseits hält sie dem Band zugute, er behandele „die transnationale Reichweite von fünf Jahren Ostpolitik: nicht nur, wie viele Menschen und Mechanismen zusammenwirkten, um eine neue Ära beginnen zu lassen, sondern gerade auch, in welchem Maße die diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den ,Satellitenstaatenʼ vom Moskauer Vertrag abhängig waren“ . Folglich streicht die Rezensentin in ihrer Kritik eben jene komplexen Aspekte heraus, die sie im Band vermisst. Größer kann ein Widerspruch nicht sein.

Den ausgewiesenen Expertinnen und Experten auf ihren Gebieten pauschal ihre Qualifikation abzusprechen, sie hätten den Forschungsstand weder referiert noch analysiert, dient nicht dem wissenschaftlichen Diskurs.

Schließlich bietet die Einleitung, was die Rezensentin angeblich vermisst: zusammengefasste Schlussfolgerungen und Thesen, also neue Erkenntnisse, die über bisherige Einsichten hinausgehen. So können geläufige Sachverhalte im Lichte neuer Quellen verifiziert oder falsifiziert werden.

Michael Borchard, Stefan Karner, Hanns Jürgen Küsters, Peter Ruggenthaler


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