Cover
Titel
Nach dem Krieg. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945-1949


Autor(en)
Echternkamp, Jörg
Reihe
Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert
Erschienen
Zürich 2003: Pendo Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 9,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander von Plato, Institut für Geschichte und Biographie, Fernuniversität Hagen

Sollte es die Mehrzahl von "Spagat" geben, so versucht Jörg Echternkamp mit seinem Buch "Nach dem Krieg" gleich mehrere: Er beschränkt sich zeitlich auf die Jahre von 1945 bis 1949, weiß aber selbst, dass "insbesondere die längerfristigen mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Entwicklungen nicht in das enge Zwangskorsett von fünf Jahren gesteckt werden" können (S. 10). Er folgt den Periodisierungen, die in der historischen Forschung für 1945 und 1949 vorgenommen wurden, fragt aber zugleich nach dem Sinn solcher Periodisierungen, die vor allem durch die Zäsur von 1989/90 relativiert würden (S. 230). Er versucht drei Längsschnitte zu Alltagserfahrungen, Neuorientierung und "Vergegenwärtigung der Kriegsvergangenheit in der Nachkriegsgesellschaft" (S. 13) – allesamt Themen, die die Beschränkung auf die Jahre 1945 bis 1949 wiederum kaum erlauben. Diese Themen verlangen überdies eigene Forschungen auf der Basis erfahrungs- oder mentalitätsgeschichtlicher Quellen; Echternkamp legt aber vor allem eine Literaturarbeit vor, in der sich erinnernde Subjekte höchstens als Autoren von Autobiografien vorkommen.

Schon der Untertitel "Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945–1949" legt nahe, was Echternkamp dann in drei großen Kapiteln ausbreitet: Im I. Kapitel ("Nachkriegskrise") geht es um "Existenzunsicherheiten", die durch Kriegszerstörungen, die Schwierigkeiten der Versorgung, die Beschränkungen der Fürsorgepolitik und die speziellen Bedrohungen von Frauen während der Besatzungsjahre hervorgerufen wurden. Breiten Raum widmet er dabei der "Entwurzelung" als Kriegsfolge, das heißt vor allem der Flucht und Vertreibung von Deutschen aus den alten Ostgebieten, aber auch der Rückführung von Zwangsarbeitern oder dem „Ausschluss“ und der „Integration“ von Verfolgten, Displaced Persons und Emigranten.

Das II. Kapitel ("Den Frieden gewinnen: Politische Neuorientierung zwischen Besatzungspolitik und Selbstverständigung") handelt vor allem von der "Deutschlandpolitik zwischen Kriegsende und Kaltem Krieg", der Entwicklung der "Besatzungsherrschaft hin zum Kalten Krieg", der "Verhärtung der Fronten" zwischen den ehemaligen Alliierten bis hin zur "Währungsreform und Berlin-Blockade" und der "doppelten Staatsgründung". Es folgen die innere Entwicklung zur Demokratie im Westen und zur SED-Herrschaft im Osten sowie schließlich "Umerziehung und Selbstbesinnung in der Freizeit" mit "Nachkriegsgeneration und Jugendpolitik" und "Kultur im Aufbruch".

Im III. Kapitel ("Im Schatten des Krieges: Die Konfrontation mit der Vergangenheit") versucht Echternkamp so disparate Themen wie "Politische Säuberung und strafrechtliche Verfolgung der Kriegsverbrecher", "Kampf der Geschlechter", "Schuldzuweisung und Abwehrhaltungen" und "Zwischen gestern und morgen. Erinnerung an eine Übergangszeit" zu subsumieren. Das Buch enthält schließlich hilfreiche Sach-, Orts- und Personenregister sowie eine Bibliografie.

Im Ergebnis ist Echternkamps Arbeit eine gut lesbare Publikation, die die wesentlichen Entwicklungen und Probleme dieser Jahre zwischen dem öffentlichen bzw. dem privaten Kriegsende und der Gründung der beiden deutschen Staaten aufführt. Es ist allerdings weit überwiegend eine Kompilation der vorhandenen Forschungsliteratur. Die "Spagate", die ich eingangs erwähnte, werden auch nicht wirklich aufgelöst: Am Deutlichsten ist der Spagat zwischen Mentalitäts- bzw. Generationengeschichte auf der einen und der zeitlichen Begrenzung auf die Jahre zwischen 1945 und 1949 auf der anderen Seite. Hier wäre es sinnvoll gewesen, die Ankündigung von Längsschnitten wirklich zu erfüllen. Auch die Entstehung und die langfristigen Wirkungen unterschiedlicher Mentalitäten in SBZ/DDR und Westzonen/Bundesrepublik, die immer wieder aufscheinen, hätten selbst bei Echternkamps breiter Anlage eine größere Beachtung verdient. Dagegen sind seine Zusammenfassungen der geschlechtsspezifischen Entwicklungen und der "Lasten" der Vergangenheit sehr informativ, gehen allerdings nicht über die hierzu bereits vorliegenden speziellen Forschungen hinaus.

Eine Frage wurde für mich im Zuge der Lektüre des trotz der genannten Einschränkungen anregenden Buchs immer interessanter: Worin unterscheiden sich eigentlich die Ergebnisse von Echternkamps Zusammenfassungen von jenen Arbeiten, die auf Längsschnitte abzielen und durch "erfahrungsgeschichtliche Quellen" gewonnen wurden, also vor allem durch nachträglich geführte lebensgeschichtliche Befragungen, Briefe, Tagebücher, Fotoalben usw.? Die erfahrungsgeschichtlichen Forschungen, für die ich auf Grund eigener oder nahe stehender Forschungen sprechen kann1, machen beispielsweise in der Frage der Nachwirkungen des Dritten Reiches die "Attraktionselemente des Nationalsozialismus" deutlicher sichtbar, also jene Elemente, mit denen die NSDAP damals Jugendliche und Ältere gewann und eben nicht nur durch Terror einschüchterte. (Damit sind selbstverständlich nur diejenigen gemeint, die nicht verfolgt wurden.) Diese "attraktiven Elemente" dürften jedoch nicht erst durch den langen Zeitabstand zwischen Kriegsende und Interviewzeit in den Vordergrund getreten sein, sondern waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch stärker präsent.

Zu den unterschiedlichen Ergebnissen gehören auch die engen Bezüge in den Werten und Haltungen zwischen den 1930er und 1950er-Jahren, die in den erfahrungsgeschichtlichen Arbeiten schärfer sichtbar werden als bei Echternkamp, ebenso die Antworten auf die Frage nach den "guten" und den "schlechten Zeiten" in den Augen der Befragten. Die Antworten mit ihren Zeiteinteilungen sprengen die gängigen politischen Periodisierungen, wie dies zuerst Ulrich Herbert wahrgenommen hat2: Demnach waren die „guten Zeiten“ für die damaligen und später im Westen befragbaren Jahrgänge die Phasen 1935–1942 sowie ab 1950. Die „schlechten Zeiten“ wurden demgegenüber durch den Bombenkrieg bzw. Stalingrad sowie die Nachkriegsnot markiert. Eine solche, eher alltags-ökonomische als politische Sichtweise bestimmte natürlich die Einschätzung der Nazis und der Alliierten wesentlich mit, und zwar die Einschätzung der Nazis positiver, während die Verschlechterungen der Versorgung um 1945 den Alliierten zur Last gelegt wurden.

Auch die Aufgaben und Probleme der Familien oder gar die Wieder-Entdeckung der "Großfamilie" durch den Zusammenbruch der staatlichen Fürsorgeinstanzen bzw. deren katastrophalen Zustand sind in den erfahrungsgeschichtlichen Forschungen deutlicher konturiert. Dazu gehört zum Beispiel die Einschätzung Lutz Niethammers, dass weder der Schwarze Markt noch die familiäre oder die staatliche Versorgung durch Lebensmittelkarten allein ausgereicht hätten, um den Unterhalt der Familienmitglieder zu sichern. Deshalb habe man in der weiteren Nachkriegszeit weder der Bürokratie der Lebensmittelkarten-Systeme noch der Marktversorgung, wie sie durch die Macht der Stärkeren auf dem Schwarzen Markt versucht wurde, noch der familiären Sicherung allein getraut. Aus dieser Disposition heraus habe man im Westen einer „sozialen Marktwirtschaft“ zustimmen können (und vermutlich auch im Osten).3

In den erfahrungsgeschichtlichen Arbeiten springt schließlich ins Auge, dass Entwurzelung nicht nur durch Vertreibung und Flucht erfolgte, sondern eben auch durch Dienstverpflichtung, Kinderlandverschickung, Evakuierung, Kriegseinsatz, Verhaftungen und Verfolgungen etc., durch die auch Einheimische, Emigrierte und Verfolgte entwurzelt wurden, von den politischen Umorientierungen aller ganz abgesehen.4 Gerade letzteres gehört auch zur Einschätzung der "skeptischen Generation", die Schelsky vornahm und Echternkamp wiederholt: Die Skepsis war ja bestimmt von dem Verlust der Orientierung am Dritten Reich, von einem Zusammenbruch "früherer Ideale" oder früherer "Gemeinschaftlichkeit" , wie es in den Interviews immer wieder heißt. "Skepsis" wäre demnach weniger eine rational-kritische politische Distanzierung als vielmehr eine Abwehr des Politischen aus einer Enttäuschung heraus. Erst im Zuge der Notwendigkeiten der Nachkriegszeit erlaubten sich die meisten Befragten wieder politische Haltungen oder seltener auch politische Aktivitäten, jedoch über den Umweg "unpolitischer" Organe, wie der Kirche, der Gewerkschaften, Unternehmerverbände oder ähnlicher Institutionen. Aber die meisten der zunächst als Jugendliche Befragten behaupteten später als Erwachsene, dass sie Aktivität, "Einsatz", Selbstbehauptung und "Verantwortung" in den nationalsozialistischen Jugendorganen gelernt hätten.5

Was bedeuten alle diese Haltungen nun für die zweite Aufbaugeneration der Bundesrepublik mit ihren parlamentarischen (Stell-)Vertretungsorganen oder der DDR mit ihren scharfen Entscheidungsstrukturen und den scheinhaften "Massenbeteiligungen"? Daran schließt sich sofort die Frage nach den Wirkungen und Grenzen der benutzten Quellen an: Inwieweit bestimmen sie unsere Perspektive oder Einschätzungen früherer Zeiten? Inwieweit müssten nicht auch diese unterschiedlichen Sichtweisen aufgrund verschiedener Quellen stärker miteinander verglichen oder gar konfrontiert werden? Dies ist eine Frage an die Zunft, aber eben auch eine an Jörg Echternkamp.

Anmerkungen:
1 Vgl. die auf der Website des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen (<http://www.fernuni-hagen.de/INST_GESCHUBIOG>) aufgeführten Veröffentlichungen.
2 Herbert, Ulrich, „Die guten und die schlechten Zeiten“. Überlegungen zur diachronen Analyse lebensgeschichtlicher Interviews, in: Niethammer, Lutz (Hg.), „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll“. Faschismus-Erfahrungen im Ruhrgebiet (Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960 1), Berlin 1983, S. 67-96.
3 Vgl. Niethammer, Lutz, Privat-Wirtschaft. Erinnerungsfragmente einer anderen Umerziehung, in: Ders. (Hg.), „Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schief gegangen ist“. Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet (Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960 2), Berlin 1983, S. 17-106.
4 Plato, Alexander von; Meinicke, Wolfgang, Alte Heimat – neue Zeit. Flüchtlinge, Vertriebene, Umgesiedelte in der SBZ und DDR, Berlin 1991.
5 Vgl. z.B. Möding, Nori, "Ich muß immer irgendwo engagiert sein. Fragen Sie mich bloß nicht, warum." Überlegungen zu Sozialisationserfahrungen von Mädchen in NS-Organisationen, in: Niethammer, Lutz; Plato, Alexander von (Hgg.), "Wir kriegen jetzt andere Zeiten". Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern (Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960 3), Berlin 1985, S. 256-304.