: Blut und Eisen. Deutschland im Ersten Weltkrieg. Zürich 2003 : Pendo Verlag, ISBN 3-85842-448-X 272 S. € 9,90

Hamilton, Richard F.; Herwig, Holger H. (Hrsg.): The Origins of World War I. . Cambridge 2003 : Cambridge University Press, ISBN 0-521-81735-8 537 S. $60.00

: Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie. Reinbek 2003 : Rowohlt Verlag, ISBN 3-499-61194-5 637 S. € 14,90

: Britain and the Origins of the First World War. . Basingstoke 2003 : Palgrave Macmillan, ISBN 0-333-73466-1 341 S. $69.95

: Deutschlandbilder und Deutschlandpolitik. Studien zur Wilson-Administration (1913-1921). Stuttgart 2003 : Franz Steiner Verlag, ISBN 3-515-08124-0 386 S. € 70,00

: Der Erste Weltkrieg. . Paderborn 2003 : Ferdinand Schöningh, ISBN 3-506-77403-4 415 S. € 29,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Altmann, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Der Erste Weltkrieg markiert eine tiefe Zäsur in der Geschichte der Menschheit. Auch neunzig Jahre nach seinem Beginn sind die Konsequenzen dieser globalen Auseinandersetzung noch allenthalben zu besichtigen. Ein Blick auf die politische Landschaft des Balkans etwa genügt, um den Weg zu ermessen, den Europa zurücklegen musste, ehe es die zwischen 1914 und 1918 geschlagenen Wunden wenigstens oberflächlich zu heilen vermochte. Nicht von ungefähr hat sich daher im Sprachgebrauch der anglophonen Welt die Bezeichnung „Großer Krieg“ als Synonym für den Ersten Weltkrieg erhalten. Und wenn der Methusalem der internationalen Diplomatie im 20. Jahrhundert, George F. Kennan, die Dimensionen der Gewaltexplosion ab 1914 mit dem vielzitierten Wort der „Urkatastrophe“ zu umreißen versuchte, dann drückt sich darin ein feines Gespür für die Fernwirkungen eines in seiner Dynamik bis dahin maß- und beispiellosen Geschehens aus. Neben den materiellen Verwerfungen, die Europa für lange Zeit zu einem Kontinent der strategischen wie ökonomischen Bittsteller reduzierten, waren es die ideologischen und psychologischen Frontlinien, die die Welt von 1918 so fundamental von der des Frühjahrs 1914 unterschieden. Dass Historiker in ihrem Bemühen, chronologische Sinnabschnitte zu definieren, das „lange 19. Jahrhundert“ meist 1918 enden lassen, hängt aufs Engste mit dieser Entwicklung zusammen. Es gibt zwar begründete Einwände gegen den Vorschlag, die Schüsse von Sarajewo als Auftakt zu einem neuen Dreißigjährigen Krieg zu konzeptualisieren. Die Bürgerkriege, die Europa zwischen 1918 und 1939 erschütterten, sind nicht ohne weiteres den Staatenkriegen zuvor und danach zu assimilieren. Und der Genozid, den Hitler-Deutschland mitten in Europa zu entfesseln verstand, machte den Zweiten Weltkrieg zu einem „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) ganz anderer Qualität als jenen, der die Menschen nach 1914 aus eingeübten Denk- und Verhaltensgewohnheiten herausriss. Dennoch schuf der Erste Weltkrieg offenbar trotz – oder gerade wegen – seiner präzedenzlosen Schrecken eine Disposition zur Gewalt, die erst 1945, im Schatten der Atombombe, eingehegt werden konnte. Auch danach blieb der Große Krieg freilich präsent: in der Erinnerung, in den Gedenktagen und in den geschichtspolitischen Debatten. Immerhin gilt der Erste Weltkrieg als Geburtsstunde der zeithistorischen Forschung. Die Kontroverse um die Thesen Fritz Fischers gehört neben den Disputen über die Arbeiten Ernst Noltes und Daniel Goldhagens zu den herausragenden historiografischen Kristallisationspunkten deutscher Selbstverständigungsprozesse. Die Frage nach dem „Sonderweg“, auf dem Deutschland vermeintlich in das Fiasko von 1914 geeilt war, hat zwar in den letzten Jahren etwas an Virulenz verloren. Vermittelnde Positionen konnten sich gegenüber deterministischen und exkulpatorischen Interpretationen gleichermaßen behaupten. Dennoch geben die Vorgeschichte und der Verlauf des Ersten Weltkriegs weiterhin Rätsel auf. Kein Wunder also, dass eine Reihe von Neuerscheinungen den neunzigsten Jahrestag des Kriegsbeginns begleitet.

In der überarbeiteten Neuauflage eines diplomatiegeschichtlichen Klassikers möchten Zara Steiner und Keith Neilson den britischen Anteil am Ausbruch des Ersten Weltkriegs klären. Das Vereinigte Königreich gilt gemeinhin als jenes Mitglied der 1815 inaugurierten Pentarchie, das am wenigsten Schuld trifft. Die Verpflichtungen eines weltumspannenden und bisweilen als verteidigungspolitische Bürde empfundenen Imperiums ließen Großbritannien zu einer Status-quo-Macht par excellence avancieren. Was auch immer man angesichts der globalen Vernetzung Großbritanniens von der Denkfigur einer „splendid isolation“ halten mag, so waren die Verantwortlichen in London zweifellos darauf erpicht, ein „continental commitment“ 1 nur im äußersten Notfall einzugehen. Steiner und Neilson analysieren die Entscheidungsprozesse und -träger der britischen Außenpolitik in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und veranschaulichen dabei, wie die „deutsche Gefahr“ immer mehr zum Nervus rerum der britischen Verteidigungsstrategie wurde. Indem die deutsche Diplomatie – begleitet von schrillen Tönen seitens des Kaisers und der Presse – keine Chance ungenutzt ließ, das Wilhelminische Reich ins Abseits zu manövrieren, trieb sie Großbritannien förmlich in die Arme ganz unwahrscheinlicher Bündnispartner. Der Ausgleich mit Frankreich und Russland auf imperialem Terrain ebnete einer engeren Zusammenarbeit in Europa den Weg.

Die „strategische Revolution“ (S. 220) der britisch-französischen Gespräche über eine mögliche militärische Kooperation auf dem Kontinent vollzog sich indes unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Steiner und Nilson porträtieren die außenpolitische Elite Großbritanniens als eine Art Kaste, die nur das Nötigste an die Öffentlichkeit dringen ließ. Selbst innerhalb der Regierung Asquith existierten 1914 nur verschwommene Vorstellungen über die Reichweite der britischen Verpflichtungen im Falle eines europäischen Krieges. In dem Maße, wie das scheinbar zwischen ostentativer Selbstsicherheit und irrationaler Angst schwankende Gebaren Deutschlands in London zusehends als dreister Erpressungsversuch wahrgenommen wurde, betrieben die jingoistischen Massenblätter Großbritanniens antideutsche Stimmungsmache und schränkten damit den Spielraum für Kompromisse zusätzlich ein. Die auf Ausgleich bedachten Stimmen im Umfeld etwa der „Union of Democratic Control“, die wie Norman Angell vor den Fallstricken der Geheimdiplomatie warnten, konnten sich demgegenüber vor 1918 kaum Gehör verschaffen. In den Augen Steiners und Neilsons waren es die Regierungen in Berlin und Wien, die 1914 letztlich die Entscheidung für den Krieg trafen. Der britische Außenminister Lord Grey musste sich den Vorwurf gefallen lassen, naiv an die Handlungsfreiheit Großbritanniens zu glauben, während die Vertreter der Streitkräfte die Entente im Stillen zu einem regelrechten Militärbündnis ausbauten. Dieser Befund, an dem auch die Fehleinschätzungen, denen die Militärs ihrerseits erlagen, nichts ändern, kollidiert freilich ein Stück weit mit der These Steiners und Neilsons, dass die außenpolitische Elite Großbritanniens die traditionell defensive Strategie des Landes unabhängig von Dritten verfolgen konnte.

Die Autoren des von Richard Hamilton und Holger Herwig edierten Sammelbandes kommen zu anderen Ergebnissen als Steiner und Neilson. Sie lassen sich bei ihrer nach Ländern gegliederten Untersuchung der Kriegsursachen im Wesentlichen von der Annahme leiten, dass eine spezifische Kombination von „Gruppendynamik“ und mehr oder weniger objektiven „Informationen“ (S. 11) zur Eskalation führte. Die Entscheidung für den Krieg wurde Hamilton und Herwig zufolge von kleinen, maximal zehn Männer umfassenden Gruppen getroffen, welche die außenpolitischen Geschicke der fünf Großmächte Deutschland, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich und Russland bestimmten. Anders als Steiner und Neilson glauben die Herausgeber mit Blick auf die Politik Berlins nicht an ein Ablenkungsmanöver in die Enge getriebener Eliten, die durch einen Krieg interne Probleme externalisieren wollten. Sie erteilen andererseits auch dem von David Lloyd George popularisierten Diktum, die Staaten Europas seien 1914 unabsichtlich in den Krieg geschlittert, eine klare Absage und verweisen stattdessen auf das Wechselspiel von „Cliquen und Kontingenz“ (S. 43). Mit dieser relativ unscharfen Ursachendiagnose scheinen sich die Herausgeber indes Versatzstücke genau von jenen beiden Großthesen – Sozialimperialismus und kollektive Verantwortung – zu borgen, die sie eigentlich dementieren.

Wie Hamilton in seinem Beitrag über Krieg und Frieden zwischen 1815 und 1914 ausführt, brach das Konzert der Mächte, das seit dem Wiener Kongress für eine in gewissem Umfang berechenbare Staatenwelt sorgte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen. Diese der Lockeschen Vertragstheorie vergleichbare Konfiguration der internationalen Beziehungen sprach den Großmächten ein prinzipielles Existenzrecht zu und knüpfte jedwede Veränderung der zwischenstaatlichen Balance an die Bedingung des Konsenses. Seit dem Krimkrieg schlichen sich Hobbesianische Elemente in die auf Ausgleich bedachte Diplomatie ein, die obendrein von folgenschweren Fehlentscheidungen unterminiert wurde. Zu den gewichtigsten zählt Hamilton die Nichtverlängerung des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages durch Berlin im Jahre 1890. Fortan gewannen die antideutschen Kräfte in Petersburg allmählich die Oberhand, während Bismarcks „cauchemar des coalitions“ Gestalt annahm.

In Deutschland generierte die Festlegung auf den Schlieffenplan, der einen zeitlich gestaffelten Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland vorsah, einen für die Unwägbarkeiten der Diplomatie und des Krieges sträflich unempfindlichen „Tunnelblick“ (S. 154). Zudem bewegten sich die Verantwortlichen in einem gesellschaftlich-kulturellen Umfeld, das den Krieg nicht nur wie einen festen Bestandteil der natürlichen Ordnung, sondern sogar wie ein sozialdarwinistisches Allheilmittel gegen die krankhaften Auswüchse der Moderne erscheinen ließ. Der Glaube an die Möglichkeit eines kalkulierten Kriegsrisikos komplettierte eine mentale Disposition, die den Ausbruch der Kämpfe als Chance und nicht als Katastrophe konturierte.

Frankreichs Unterstützung für Russland machte zwar einen Krieg wahrscheinlicher. Aber in Paris waren die Politiker genauso wenig an einem bewaffneten Konflikt interessiert wie die in London oder Washington. Österreich hingegen hoffte auf einen dritten Balkankrieg, der die Strafaktion gegen die Hintermänner des Attentats auf Franz Ferdinand mit der Ausschaltung eines für die Doppelmonarchie bedrohlichen Unruheherds verquickte. Die kleineren Mächte Italien, Griechenland, Rumänien und Bulgarien sannen indes auf territoriale Zugewinne und ordneten diesem Ziel notfalls ältere Loyalitäten unter.

Auch wenn dieses aus den einzelnen Beiträgen extrahierte Motivgeflecht eigentlich auf Wien und Berlin als die Hauptverantwortlichen deutet, kann Herwig keinen „Griff nach der Weltmacht“ erkennen. Vielmehr wagten überall improvisierende Cliquen den „Sprung ins Dunkle“, um entweder das als Unterpfand realer Macht unerlässliche Prestige der Nation zu sichern oder einer als lebensbedrohlich empfundenen Gefahr zu wehren. Vertragsverpflichtungen spielten dabei die geringste Rolle.

Alexander Sedlmaier untersucht in seiner ideengeschichtlichen Studie die Deutschlandbilder der Wilson-Administration. Die Vereinigten Staaten traten erst in den Krieg ein, als der uneingeschränkte U-Boot-Krieg Berlins amerikanische Bürger zu wehrlosen Zielscheiben machte. Sedlmaiers diskursanalytisches Interesse richtet sich auf die Bedeutung von wahrnehmungsprägenden Nationenbildern für die Formulierung der amerikanischen Außenpolitik. Damit folgt er einem Trend der jüngeren kulturgeschichtlichen Forschung, die sich intensiv mit der Konstruktion von Fremd- und Feinbildern auseinandersetzt. 2

Präsident Woodrow Wilson hatte bereits in seiner Zeit als akademischer Lehrer die historische Entwicklung Großbritanniens mit Bewunderung quittiert, während ihm vor allem das universitäre Leben Deutschlands – trotz dessen weltweiter Vorreiterfunktion – uninspiriert pedantisch vorkam. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs wahrte Washington zunächst Neutralität, obwohl die Sympathien insgeheim ungleich, nämlich zugunsten der Entente verteilt waren. Wilson stieß sich jedoch an der von ihm als völkerrechtswidrig erachteten Blockade, mit der London Deutschland in die Knie zu zwingen versuchte. Der 1915 erstmals von Berlin exekutierte U-Boot-Krieg gegen Handelsschiffe und die Washington nicht verborgen bleibenden Aktivitäten deutscher Spitzel in Amerika ließen das deutsch-amerikanische Verhältnis weiter abkühlen. Wilson gelangte zu der Auffassung, die Autokratie der Hohenzollern stelle das mit Abstand größte Friedenshindernis dar. Nach der Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges 1917 und den plumpen Avancen Berlins gegenüber Mexiko konnte er schließlich die Nation auf den Krieg gegen die Mittelmächte einschwören.

Wilson charakterisierte den amerikanischen Kriegseintritt in der Folge als Aufbruch in ein neues demokratisches Zeitalter regelgeleiteter zwischenstaatlicher Beziehungen. Die Maximen der „Farewell Address“ George Washingtons und der Monroe-Doktrin wurden damit de facto annulliert, der Isolationismus Amerikas wich einem liberalen Imperialismus. 3 Die zwiespältige Haltung Wilsons, die bei der deutschen Obersten Heeresleitung im Herbst 1918 trügerischen Hoffnungen auf milde Waffenstillstandsbedingungen Vorschub leistete, offenbarte ein „Dilemma des mitspielenden Schiedsrichters“ (S. 117). Die wenig idealistischen Bestrebungen der Alliierten, die nichts von einem Kompromissfrieden hielten und mit ihren territorialen Neuordnungsplänen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker Hohn sprachen, mussten dem Präsidenten wie ein Stück aus dem alteuropäischen Tollhaus vorkommen. Doch seine Germanophobie dominierte letztlich die Position des Weißen Hauses bei den Friedensverhandlungen. Allerdings wurden diese für Amerika rasch Makulatur, da die republikanische Mehrheit des Senats den Völkerbundsträumen des Demokraten Wilson ein jähes Ende bereitete.

Die anderen von Sedlmaier untersuchten Protagonisten der US-Außenpolitik wie Colonel House, Robert Lansing oder William Bullitt waren insgesamt weniger für fest gefügte Nationenbilder anfällig. Außenminister Lansing schwenkte zudem nach Kriegsende behende von antideutschen zu antikommunistischen Invektiven über und zeichnete damit eine Entwicklung vor, die sich in Washington ein Vierteljahrhundert später wiederholen sollte. Sedlmaier zufolge eignet sich der Begriff der Nationenbilder besser als der des starren Feindbilds dazu, situationsbedingten Veränderungen unterworfene Wahrnehmungsroutinen zu beschreiben. Im Fall Präsident Wilsons habe sich die Verschlechterung des Deutschlandbildes nachhaltig in der Entscheidungsfindung der amerikanischen Administration niedergeschlagen.

Sönke Neitzels geraffte Überblicksdarstellung taucht das Geschehen von 1914 bis 1918 in das fahle Licht fatalistischer Ratlosigkeit. Neitzel beschreibt anschaulich Deutschlands Weg in und durch den Weltkrieg, blickt auf die letztlich vergeblichen Friedensinitiativen und skizziert den Alltag einer Gesellschaft im tendenziell totalen Krieg. Er hebt dabei die Ausweglosigkeit hervor, welche die Kontrahenten von 1914 auf ihren Kollisionskurs zwang, und geht scharf mit den Feldherren von damals ins Gericht. Sie hätten einen Krieg des 20. Jahrhunderts mit Armeen des 19. Jahrhunderts ausgefochten und angesichts maroder Kommunikationsmittel selbst schnell die Orientierung verloren. Das in der Forschung umstrittene „Augusterlebnis“, in dem auf dem Münchner Odeonsplatz der jubelnde Adolf Hitler seine gespenstische Ikone fand, ergriff, so Neitzel, im Wesentlichen das Bürgertum. Dieses hing den um 1900 weit verbreiteten Weltreichslehren an und begrüßte deshalb den Kriegsbeginn als Aufbruch zu neuen Ufern. Allerdings wurde es bald eines besseren belehrt, denn das Inferno des Stellungskriegs und der Materialschlachten an der Westfront entmenschlichten nicht nur die Soldaten in unsäglicher Weise. An der Marne, vor Verdun und an der Somme versanken auch die Kopfgeburten wilhelminischen Größenwahns im Morast der von Granaten durchpflügten Front. Zudem bezahlte der bürgerliche Mittelstand seine Kriegsbegeisterung mit dem sozialen Abstieg. Während die Arbeiterschaft dank der Kooperation der Gewerkschaften im Rahmen des Hindenburgprogramms und des Hilfsdienstgesetzes von 1916 über eine schlagkräftige Interessenvertretung verfügte, mussten Beamte und Angestellte ihrer ökonomischen Auszehrung in der Regel hilflos zusehen.

Nicht zuletzt aufgrund der britischen Fernblockade, die Entscheidungsschlachten auf hoher See vermeiden sollte und damit nachträglich das Flottenwettrüsten ad absurdum führte, starben während des Ersten Weltkriegs mehr Deutsche an den Folgen der Unterernährung als im Zweiten durch die Einwirkung alliierter Bomben. Neitzel macht dafür jedoch hauptsächlich die Ineffizienz der deutschen Verwaltung verantwortlich. Während die Kriegsrohstoffabteilung unter Walther Rathenau bei der Erfassung und Bewirtschaftung industrieller Ressourcen Beachtliches leistete, verschlimmerte sich die Nahrungsmittelknappheit durch administrativen Schlendrian zusätzlich.

Die um Fehlentscheidungen nie verlegene Reichsleitung stellte Neitzel zufolge mit dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg jenes Schwert auf, in das sie mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten unweigerlich stürzen musste. Selbst das Ausscheiden des revolutionären Russlands aus der Entente konnte Deutschland nicht mehr retten. Die materielle und psychische Überlegenheit der um Amerika verstärkten Westalliierten zwang Ludendorff dazu, der konsternierten zivilen Führung die Augen zu öffnen und den Krieg verloren zu geben. Den Versailler Vertrag apostrophiert Neitzel als „unglückliches Mittelding zwischen Ausgleich und Repression“ (S. 218). Die etwa zehn Millionen Toten des Ersten Weltkriegs waren mithin die Drachensaat, die kaum eine Generation später erneut aufgehen sollte.

Ähnlich dunkle Töne schlägt John Keegan in seiner Monografie über den Ersten Weltkrieg an. Der renommierte britische Militärhistoriker betrachtet den Zweiten Weltkrieg als unmittelbares Produkt des Ersten und die liberal-optimistische Kultur der Zeit vor 1914 als einen der Hauptleidtragenden des Krieges. Die zwischen 1914 und 1918 heraufbeschworenen Hassgefühle vergifteten dauerhaft das Miteinander in Europa und gebaren die Totalitarismen des Kommunismus und Faschismus. Auf die Schuldfrage findet Keegan keine einfache Antwort. Wien wollte eigentlich nur Serbien bestrafen, aber nicht im Alleingang. Deutschland suchte dringend einen diplomatischen Erfolg, aber keinen Krieg. Für Russland galt dasselbe. Und Großbritannien konnte das Ausmaß seines Engagements relativ frei wählen. Das „neurotische Klima des Argwohns und der Unsicherheit“ (S. 583), das durch die mutwillig vom Zaun gebrochene deutsch-britische Rivalität angefacht wurde, verschloss letztlich wohl Auswege aus der Sackgasse, in die sich Europa nach dem Attentat von Sarajewo hineinmanövrierte.

Die Tragik des Ersten Weltkriegs lag Keegan zufolge nicht zuletzt in der militärisch-technischen Unzulänglichkeit der beteiligten Armeen, die den Konflikt wesentlich verlängerte und eine Entscheidungsschlacht verhinderte. Neben der mangelhaften Kommunikation zwischen Front und rückwärtigem Gebiet wirkte sich hier vor allem die völlige Schutzlosigkeit der Infanteristen verheerend aus, die ohne Aussicht auf größere Durchbrüche gegen immer professioneller befestigte Stellungen in den sicheren Tod stürmten. So mussten die indischen Verbände des britischen Expeditionskorps zum Beispiel vorzeitig ausscheiden, da sie die im Vergleich zu klassischen Kolonialkriegen weitaus härtere, auf Abnutzung zielende Gangart an der Westfront nicht ertrugen. Seinem romantischen Naturell gemäß sprach sich Winston Churchill als Erster Lord der Admiralität zudem im Frühjahr 1915 für ein schneidiges militärisches Abenteuer im östlichen Mittelmeer aus, um das Osmanische Reich von den Meerengen zu vertreiben und der russischen Marine so die Durchfahrt zu ermöglichen. Die Landung auf Gallipoli endete jedoch in einem Fiasko und kostete Churchill seinen Posten.

Deutschland versäumte indes die Konstruktion einer hinreichenden Zahl von Panzern, weshalb die britischen und amerikanischen Vorstöße mit dieser neuartigen Waffengattung die kaiserlichen Truppen nachhaltig demoralisierten. Keegan nimmt im Übrigen die Reichsleitung gegen Vorwürfe in Schutz, sie habe mit dem Frieden von Brest-Litowsk die hässliche Fratze des hemmungslosen Raubkriegs entblößt. Da weite Teile Osteuropas ohnehin schon in deutscher sowie Finnland in der Hand Verbündeter waren und die Bolschewiki weder in der Ukraine noch in Transkaukasien eine durchgreifende Kontrolle ausübten, ratifizierte Brest-Litowsk lediglich den Status quo.

Keegans versiert übersetzte Darstellung legt den Schwerpunkt auf den Verlauf der einzelnen Truppenbewegungen und Schlachten. Dabei gelingt es ihm jedoch zugleich, die menschliche Dimension der Kämpfe ebenso einzublenden wie die politisch-strategischen Rochaden der politisch Verantwortlichen. Hinzu kommt, dass er den Großen Krieg präzise im Kontext der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verorten weiß. Aus der Distanz von neunzig Jahren vermag Keegan deshalb halb resigniert, halb erleichtert zu resümieren: „Wenn einer der typisch lebensmüden Beamten des Habsburgerreiches heute wieder geboren würde, könnte er durchaus fragen, was sich eigentlich verändert habe.“ (S. 590)

Michael Salewskis aus einer Vorlesung hervorgegangenes Buch erweist sich wie das Keegans als Musterbeispiel narrativer Geschichtsschreibung. Trotz Überarbeitung für die Druckfassung blieb der Duktus des gesprochenen Worts bewahrt. Noch stärker als Keegan zieht Salewski freilich Parallelen mit historischen Entwicklungen und Konstellationen seit der Frühen Neuzeit. Seine meinungsfreudige Darstellung enthält verschiedene an Trouvaillen reiche Exkurse und verschafft den Leserinnen und Lesern damit Einblicke nicht nur in die Geschichte des Ersten Weltkriegs, sondern auch in methodische, historiografiegeschichtliche und komparative Aspekte der zeithistorischen Forschung.

Salewski sieht in der Konzeption des Schlieffenplans eine der Hauptursachen des Kriegsausbruchs. Zudem klaffte eine immer bedrohlichere Lücke zwischen „Staatskunst und Kriegshandwerk“.4 Ein mediokres politisches Personal jonglierte am Abgrund des Krieges mit Heeren und Flotten und fand im Sommer 1914 schließlich keinen Weg mehr aus der Krise. Die Hybris, die im scheinbar mühelosen Triumph der Bismarckschen Blitzkriege wurzelte, ließ die Reichsleitung das militärische Potential der Kontrahenten sträflich unterschätzen. Allerdings weist Salewski die Sozialimperialismusthese für Deutschland kategorisch zurück. Die wilhelminische Gesellschaft musste – anders als die britische – nicht erst durch militaristischen Pomp zusammengeschweißt werden. Vielmehr war der „Militarismus von unten“ (Stig Förster) wirkungsvoll genug, um im Verein mit den populären Weltreichslehren und gebetsmühlenhaft artikulierten Einkreisungssorgen eine „Flucht in den Krieg“ als vermeintlich letzte Rettung vor den politisch-sozialen Fliehkräften überflüssig zu machen. Als die Herrscher Europas 1914 vor der Kriegsentscheidung standen, fürchteten sie Kompromisse auf dem diplomatischen Parkett offenbar mehr als das Risiko eines Krieges. Diese „merkwürdige Verschiebung der Wertigkeiten“ (S. 84) gehört zu den spezifischen Differenzkriterien, die den ersten totalen Krieg des 20. Jahrhunderts von den Kabinettskriegen früherer Zeiten unterscheiden.

Salewskis besonderes Augenmerk gilt den symbolischen, über das konkrete Kampfgeschehen hinausweisenden Aspekten des Krieges. So manifestiert sich für ihn im Ringen um Verdun, das seit karolingischer Zeit immer wieder Schauplatz historischer Ereignisse war, die These, dass Geschichte stets auch Geistesgeschichte sei. Der Retter Verduns, Marschall Pétain, konnte daher 1940 erneut für Frankreich in die Bresche springen. Der Held von Tannenberg, Feldmarschall von Hindenburg, musste seinerseits 1925 – ein zweites Mal – reaktiviert werden, um als eine Art „Vater des Vaterlandes“ die Nation durch die Fährnisse der Nachkriegszeit zu lotsen. Die weltgeschichtliche Zäsur des Jahres 1917, das den Kriegeintritt der Vereinigten Staaten und die Oktoberrevolution in Russland sah, bedeutete für Europa den Beginn einer Marginalisierung, die zumindest seiner Westhälfte nach 1945 durchaus bekommen sollte. Zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Tocqueville und Bismarck hatten im 19. Jahrhundert bereits den unaufhaltsamen Aufstieg Amerikas zur Hegemonialmacht prophezeit. Das sowjetische Intermezzo von 1917 bis 1991 sorgte nach der Auflösung der Anti-Hitler-Koalition für einen engen Schulterschluss zwischen dem Alten Kontinent und der Neuen Welt. Salewski erkennt daher in dem Eingeständnis seitens der Verantwortlichen in Großbritannien, dass der nicht länger finanzierbare Zweiflottenstandard nur aufgegeben werden könne, falls die Vereinigten Staaten kein potentieller Kriegsgegner mehr seien, den Keim der nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufenen NATO.

Der Reiz von Salewskis Darstellung liegt nicht zuletzt im Mut zur kontrafaktischen Spekulation. Diese in der angloamerikanischen Geschichtswissenschaft jüngsthin mit einer gewissen Respektabilität ausgestattete Methode gibt den Blick frei auf alternative Ereignisketten und kann Historiker gegen quasi-teleologische Betrachtungsweisen immunisieren. In diesen Kontext gehört Salewskis Überlegung, dass Ludendorff die Abwicklung des verlorenen Krieges zwar allzu geflissentlich den demokratischen Kräften des Reiches überließ. Andererseits entsprach dies jedoch den – wenn auch diffusen – Ideen Präsident Wilsons, der das, was er als wilhelminische Autokratie betrachtete, nicht als satisfaktionsfähigen Verhandlungspartner für den Frieden akzeptierte. Und da Ludendorff, anders als Hitler, die Niederlage im Krieg nicht mit dem Ende der Welt gleichsetzte, wollte er das Schicksal seines Landes nicht mit einer militärischen Götterdämmerung herausfordern.

Neunzig Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs müssen auch die hier angezeigten Neuerscheinungen eine gewisse Ratlosigkeit konzedieren, wenn es darum geht, die Ursachen der „Urkatastrophe“ zu benennen oder gar die Verantwortlichen zweifelsfrei zu identifizieren. Schlechter hätte das neue Jahrhundert jedenfalls nicht beginnen können. Und so stehen bei aller Verwunderung über die Wege, die von Sarajewo über Tannenberg, Verdun, das Skagerrak und Brest bis Versailles geführt haben, die Konsequenzen des Großen Krieges recht klar vor Augen. Deutschland entwuchs dem Krieg als eine Demokratie auf Abruf. War die politische Führung vor 1918 auf dem westlichen Auge blind gewesen und hatte deshalb ohne Not zunächst Großbritannien den maritimen Fehdehandschuh hingeworfen und dann die Vereinigten Staaten in den Krieg gezogen, so machte der parteiübergreifende Revisionismus mit Blick auf die neuen Ostgrenzen den Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik hoffähig. Die Verrohung und Brutalisierung, die im Krieg ein Stück weit zur Überlebensfrage wurden, avancierten in vielen Regionen Europas zu Kennzeichen des politischen Alltags und hinterließen auch in Kunst und Kultur ihre Spuren. In einer breiten Schütterzone, die praktisch vom Rhein bis an den östlichen Rand des Kontinents reichte, agierten mit Erfolg Polithasardeure, die man heute allenfalls als Schurken aus James-Bond-Filmen kennt. Dass die nationalen Entflechtungskriege der 90er-Jahre auf dem Balkan in gewissem Sinne den Zustand vom Beginn des 20. Jahrhunderts restaurierten, sagt gleichzeitig etwas über die Qualität der in den Pariser Vorortverträgen niedergelegten Friedensordnung aus. Sie bestätigte jene, die sie wie Joseph King, Mitglied der britischen Independent Labour Party, als „Frieden, um den Frieden zu beenden“5, denunzierten. Feindbilder und tief sitzende Ressentiments brauchten ohnehin keine notariell beglaubigte Geburtsurkunde.

In globaler Dimension vollzog sich sukzessive der Wachwechsel von der Pax Britannica zur Pax Americana. Beide Friedenskonzepte waren in erheblichem Umfang mit moralischem Partikularismus unterfüttert, der sich indes immer dann gegen seine Urheber wandte, wenn diese sich nicht an ihm messen lassen wollten. Dieses Dilemma ist im Übrigen seit der Antike bekannt, als die Bewohner der Insel Melos während des Peloponnesischen Krieges nichts von der Mustergültigkeit der imperialen Demokraten Athens spürten. Nach 1918 richteten es sich die Vereinigten Staaten freilich wieder in ihrem überkommen Isolationismus ein und verschafften so dem Britischen Empire eine Atempause, die das Mutterland trotzdem zu überfordern drohte. Die Konversion zur Friedenswirtschaft, die langwierigen Verhandlungen über die deutschen Reparationszahlungen und die gestiegenen Anforderungen kolonialer Entwicklung ließen die weltweite Verantwortung Großbritanniens in einem geostrategisch prekären Umfeld eher als Last denn Lust erscheinen. Der Große Krieg erwies sich demnach als Triebfeder tief greifender Veränderungsprozesse – weltweit.

Anmerkungen:
1 Nach wie vor anregend dazu Howard, Michael, The Continental Commitment. The dilemma of British defence policy in the era of the two world wars, London 1972.
2 Siehe stellvertretend hierzu Später, Jörg, Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945, Göttingen 2003.
3 Die Widersprüchlichkeit, die dieser Idee innewohnte, spiegelte sich auch in Wilsons Persönlichkeit. Der Mann, der die Welt für die Demokratie sicher machen wollte, verschärfte als Präsident der Universität Princeton und als Präsident der Vereinigten Staaten die Vorschriften zur Rassentrennung erheblich. Vgl. hierzu Ponting, Clive, The Twentieth Century. A World History, New York 1999, S. 472.
4 Der Zwillingsbegriff stammt von Ritter, Gerhard, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, 4 Bände, München 1954ff.
5 King, Michael, Political Crooks at the Peace Conference, London 1920, S. 15.

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