Titel
Stilräume. Jacob Burckhardt und die ästhetische Anordnung im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Schütte, Andrea
Erschienen
Bielefeld 2004: Aisthesis Verlag
Anzahl Seiten
385 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marian Füssel, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Der Zusammenhang von Historiografie und ästhetischer Darstellungspraxis beschäftigt die Forschung bereits seit geraumer Zeit. Sowohl von germanistischer, kunstgeschichtlicher als auch von historischer Seite sind inzwischen grundlegende Arbeiten vor allem zur Zeit des Historismus, als klassischer Phase der Verwissenschaftlichung moderner Geschichtsschreibung vorgelegt worden.1 Verstärktes Augenmerk gilt dabei unter anderem den strukturellen Homologien zwischen Historiografie, bildender Kunst, Literatur oder Architektur. Vor diesem Hintergrund hat jetzt Andrea Schütte in ihrer Bonner Dissertation anhand der Kulturgeschichtsschreibung Jacob Burckhardts Konzeptionen ästhetischer Repräsentation des 19. Jahrhunderts rekonstruiert. Als zentrales heuristisches Paradigma dient ihr die Figur des Textes (S. 11). Analog zur Vorgehensweise Burckhardts, der nicht nur die historiografischen Quellen, sondern die vergangene Kultur insgesamt als Texte gelesen habe, konzentriert sich Schütte dabei bewusst nicht allein auf die Historiografie, sondern auf ein breites Spektrum kultureller Praktiken, denen eine spezifische Form der Repräsentation gemeinsam ist.

Als Strukturprinzip der Untersuchung dient der griechische Begriff des „Pinax“, der so unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann wie „Landkarte; Schreibtafel; Holzbrett; Gemälde; Stab“ (S. 12). Zunächst wird dabei Burckhardts Historiografie im Kontext von Aufklärungshistorie, der Geschichtsschreibung des deutschen Idealismus und Historismus diskutiert. Entgegen landläufigen Annahmen attestiert Schütte auch der Historiografie der Aufklärung starke ästhetische Impulse, die in Form eines „ästhetischen Subtextes“ (S. 27) zum Tragen gekommen seien. Werden auch für die idealistische Geschichtsphilosophie Fragen von Textorganisation und der Erzählbarkeit als grundlegend hervorgehoben, so kommt doch die Narrativität erst mit der Historiografie des klassischen Historismus praktisch voll zur Entfaltung. Dabei geht die Verfasserin sogar so weit, bei Ranke die Formulierung einer impliziten ästhetischen Theorie aufzufinden, die in der Formel „Kunst ist Konstellation“ kulminiere (S. 60).

Auf der Ebene des „Werktisches“ werden im Folgenden zunächst Tierpräparationen, als Repräsentationsformen historischer Wirklichkeit behandelt.2 Ihre Kennzeichnung als „simulacra“ (S. 68) erscheint jedoch ein wenig bemüht, da es sich im engeren Sinne weniger um Abbildungen einer gar nicht vorhandenen Realität handelt, wie es etwa Baudrillards Begriffsverständnis nahe legen würde, als um eine bestimmte Logik der Authentifizierung. Am Beispiel der so genannten „Habitat Dioramen“, also szenischen Darstellungen von Tieren in einer stilisierten Umgebung, tut sich im Anschluss an den von Roland Barthes beschriebenen „effet de réel“ eine weitere Differenz auf Seiten der Repräsentation auf. So können nun Faktoren voneinander unterschieden werden, die Barthes als „prédiction“ und „notation“ unterscheidet. Steht die „prédiction“ unmittelbar für das historische Objekt, so bezeichnet die „notation“ eher ausschmückende, jedoch für die Illusion des Realen ausschlaggebende Elemente.

Mit der unter „Schreibtafel II“ vorgelegten eingehenden Lektüre von Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen nähert sich die Verfasserin dem Kern ihrer Untersuchung. Burckhardts Darstellungspraxis und Geschichtskonzeption wird in drei Schritten unter den Schlagworten „Verzicht auf alles Systematische“, „Querdurchschnitte“ und „Signaturen des Geistes“ verfolgt. Burckhardt, der immer wieder seine Abneigung gegenüber dem systematischen Zugriff der Philosophie wie der zünftigen Geschichtswissenschaft betonte, fordert eine „Poetisierung der Historie“, die sich jedoch kaum in einer konkreten verfahrenstechnischen Methodik niederschlug. Neben dem beispielhaft anekdotischen Erzählen sind es vor allem die zeitlichen „Querdurchschnitte“ welche es ihm ermöglichen sollten, der Komplexität und Widersprüchlichkeit des historischen Materials gerecht zu werden. Um sich bei gleichzeitiger Ablehnung linearer Ereignisschilderung und der Einbindung anthropologisch gehaltvoller Einzeldarstellungen nicht in Paradoxien zu verstricken, führte Burckhardt als Strukturprinzip den Begriff des Geistes ein. Der Geist hat jedoch trotz metaphysischer und anthropologischer Anklänge primär eine technische Funktion als Organisationsmedium des historischen Diskurses.

Die geläufigste Verwendung von „pinax“ ist das Bild oder Gemälde, welches für die Verfasserin die zentrale Kategorie von Burckhardts Form der Geschichtsbetrachtung bildet. Das Bild erlaubt es, das Einzelne in Konstellationen zur Erscheinung zu bringen ohne seine Individualität dabei aufzuheben. Das „tableau“ als Darstellungsprinzip von Geschichte ermöglicht die Darstellung komplexer Zusammenhänge ohne sich einer linearen Abfolgestruktur von Ereignissen zu unterwerfen. Von der Ordnung im Bild wendet sich Schütte im Folgenden der Ordnung der Bilder in den Museen und Gemäldegalerien des 18. und 19. Jahrhunderts zu, um so strukturelle Parallelelen ästhetischer Anordnungspraktiken in Museumskonzepten und historiografischen Texten zu erschließen. Vom Fridericianum in Kassel, der Düsseldorfer Gemäldegalerie, der Galerie im Oberen Belvedere in Wien bis hin zu Münchener Hofgartengalerie zeigen die frühen Museen die Rivalität zwischen rein „ästhetischen“ und chronologischen Ordnungsprinzipien. Im Zuge der mit der Münchener Glyphothek aufkommenden neuen Museumstypen, wie etwa dem alten Museum in Berlin, etabliert sich der Typus der deutschen „Bildungsbauten“, die einem genuin pädagogischen Interesse folgen. Erst die alte Pinakothek in München lässt dem Besucher jedoch architektonisch den Freiraum seine eigene Sichtweise zu entwickeln, ohne sich der vorgegebenen Anordnung zu unterwerfen. Das zu beobachtende Nebeneinander unterschiedlicher Ordnungsprinzipien findet sich auch in Burckhardts kulturgeschichtlichen Textkompositionen. Noch augenscheinlicher werden die Parallelelen jedoch an kulturhistorischen Museen, wie dem germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. So weisen Burckhardts Texte, wie beispielsweise die Kultur der Renaissance, deutliche Ähnlichkeit mit den „Epochenräumen“ des Museums auf, in denen die Kombination unterschiedlicher Gegenstände einer Zeit sich für den Betrachter zu einem komplexen Bild zusammenfügen. Strukturell vergleichbar mit dem Begriff des „Geistes“ ist es auf ästhetischer Ebene der „Typos“, der zwischen Konstanz und Wandel vermittelt und damit zum Medium bzw. Strukturprinzip seiner Darstellung wird. Als Beispiel für ein typologisch geordnetes Museum präsentiert Schütte abschließend das Pitt Rivers Museum in Oxford, in dem ethnologische Artefakte sowohl nach formalen wie regionalen Kriterien arrangiert wurden. „Pinax“ und Typos“ werden schließlich als die „musealen Dispositive“ gekennzeichnet, in denen sich die Darstellungslogik von Burckhardts Texten spiegele (S. 274f.).

Das letzte Kapitel versucht eine Genealogie des Stilbegriffs von Johann Joachim Winckelmann bis zu Burckhardt. Die Stationen dieser Entwicklung bilden Texte von Johann Wolfgang Goethe, Karl Friedrich von Rumohr, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Friedrich Theodor Vischer, Gottfried Semper, Christian Hermann Weiße, Rudolph Hermann Lotze und Alois Riegel. Im Gegensatz zu den genannten Autoren hat Burckhardt selbst keine explizite Theorie des Stilbegriffs formuliert, so dass sich entsprechende Konzeptionen eher implizit in seinen Werken auffinden lassen. Aus der Kontextualisierung des Begriffs kristallisiert sich eine Art Sammelkategorie heraus, die eher als Strukturprinzip kultureller Produktion denn als inhaltlich exakt bestimmbarer Terminus gefasst wird. Burckhardts Texte werden für die Verfasserin vor diesem Hintergrund zu „Stilräumen“, zu relationalen Bedeutungsgeweben, in denen sich auch oftmals Gegensätzliches zu einem schlüssigen Ganzen fügt.

Insgesamt zeigt sich ein deutlich modernisierender Zugang zum Werk des Meisterdenkers. Zwar verwahrt sich die Verfasserin explizit dagegen, Burckhardt als Wegbereiter der Postmoderne zu stilisieren (S. 12, Anm. 8). Dennoch gewinnt der Leser streckenweise den Eindruck die system- und diskurstheoretischen Interpretamente machten den Baseler Historiker wesentlich moderner als landläufig angenommen. Das ist grundsätzlich legitim, doch wird der – in historiografiegeschichtlichen Arbeiten ja häufig gegebenen – Problematik des Wechselverhältnisses zwischen der Rekonstruktion und Kontextualisierung eines historischen Diskurses einerseits und seiner systematischen Aneignungen für aktuelle Diskussionen andererseits nicht konsequent genug begegnet. Obwohl Begriffe wie „Repräsentation“ oder „Kultur als Text“ im Zentrum stehen, kommen weder die Theorieentwürfe von Weber, Geertz etc. noch die verschiedenen Debatten zur „Krise der Repräsentation“ zur Sprache. Überhaupt hätte sich, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Forschung zu Burckhardt inzwischen beträchtliche Ausmaße angenommen hat, sicher nicht nur der weniger eingeweihte Leser eine stärkere Einbindung in die bestehenden Forschungsdiskussionen gewünscht. Etwas gewöhnungsbedürftig ist auch der ausgeprägte kulturwissenschaftliche Jargon, dessen eigene Ästhetisierungspotentiale hier selbst wiederum fleißig ausgeschöpft werden.

Die Stärke der Arbeit liegt insgesamt eindeutig in der Berücksichtigung unterschiedlicher Diskurse und Medien, die auf ihre gemeinsame „kulturelle Matrix“ hin analysiert werden. Die Einbeziehung ästhetischer Kontexte nicht nur auf der Ebene der Theorie, sondern in ihrer konkreten Praxis bietet dabei eine wertvolle Ergänzung traditioneller historiografiegeschichtlicher Analyseverfahren. Die Studie beleuchtet insofern nicht nur eine zentrale Facette von Burckhardts Historiografie, sondern gibt auch einen vielseitigen Einblick in den problematischen Zusammenhang zwischen ästhetischer und historiografischer Repräsentation. In den „Stilräumen“, bzw. der „Geschichte als pinax“ ein verbindendes Strukturprinzip sowohl von Burckhardts Texten als auch der Kultur des 19. Jahrhunderts allgemein zu erkennen, gewinnt schließlich durchaus an Plausibilität.

Anmerkungen:
1 Vgl. Fulda, Daniel, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860, Berlin 1996; Süßmann, Johannes, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780 bis 1824) (Frankfurter Historische Abhandlungen 41), Stuttgart 2000, Bann, Stephen, The Clothing of Clio:. A Study of the Representation of the Past in Nineteenth-Century Britain and France, Cambridge 1984.
2 Die Darstellung orientiert sich im Wesentlichen an Wonders, Karen, Habitat Dioramas. Illusions of Wilderness in Museums of Natural History, Uppsala 1993.