Nachdem zuletzt im Juni 2005 an dieser Stelle vier Neuerscheinungen zur Diskussion um das (inzwischen eingeweihte) Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin – kurz: Holocaust-Mahnmal – vorgestellt wurden1, gilt es nun eine weitere Studie zur Problematik des Holocaust-Gedenkens in und durch Denkmäler zu präsentieren. Gibt es denn noch etwas, so mag man sich vor diesem Hintergrund fragen, was hierzu noch nicht gesagt wurde? Mit Blick auf Peter Carriers vergleichende Untersuchung des Berliner Holocaust-Mahnmals und des Pariser Denkmals für die deportierten Juden aus dem Vélodrome d’Hiver (dt.: Winterradsportstadion) – kurz: Vél’ d’Hiv’ – lautet die Antwort eindeutig: Ja.
Das Anregende und Originelle an dieser Arbeit, die aus einer im Jahr 2000 an der Freien Universität Berlin eingereichten Dissertation hervorgegangen ist, liegt in ihrer komparatistischen Grundkonzeption und einer – nicht zuletzt durch den Blick von außen erleichterten – sachlich-analytischen und erfrischend ‚unnormativen’, wenn auch nicht unkritischen Perspektive. Der aus England stammende, nun in Berlin lebende Politikwissenschaftler Peter Carrier interessiert sich bei seiner Analyse der Entstehungshintergründe der beiden Denkmäler und der sie begleitenden öffentlichen Kontroversen nicht für die Frage, ob die diesseits und jenseits des Rheins gewählte Denkmal-Lösung die ‚richtige’ ist, um an die systematische Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und die jeweilige nationale Verantwortung zu erinnern. Vielmehr geht er von der Frage aus, inwiefern sich die beiden Monumente gegenüber anderen Nationaldenkmälern auszeichnen und was sie zum Kristallisationspunkt der öffentlichen Kommunikation über die Vergangenheit in Deutschland bzw. Frankreich gemacht hat. Dabei konzentriert er sich auf die politische, symbolische und soziale Funktion von Denkmälern selbst, die er mit Raoul Girardet als „products of social reality, but also as producers of social reality“ (S. 214) versteht. Die Analyse der öffentlichen Diskussionen über die Holocaust-Monumente ist also der Ausgangspunkt, um grundsätzlichen Fragen der Konstruktion nationaler Identitäten innerhalb spezifischer „spaces of political communication“ (S. 182) nachzugehen.
Das Buch gliedert sich in drei große Abschnitte, die aufeinander aufbauen, jedoch so konzipiert sind, dass sie im Prinzip auch alleine stehen könnten. So wurden auch die beiden Fallstudien zu Deutschland und Frankreich (siehe weiter unten) bereits zu einem früheren Zeitpunkt als eigenständige Artikel veröffentlicht. Die Geschlossenheit der einzelnen Kapitel gibt dem Leser die Möglichkeit, an unterschiedlichen Stellen des Buches einzusteigen. Liest man dieses dagegen in seiner Gesamtheit, kommt man nicht umhin, einige Redundanzen zu bemerken.
Im ersten Abschnitt geht es allgemein um die Rolle von Denkmälern als einer Form der Vergangenheitsrepräsentation und um ihre Entwicklung seit 1945. Carrier hebt hier vor allem den „hybriden“ Charakter von Denkmälern hervor (S. 35f.). Da diese stets drei unterschiedliche historische Bezugspunkte besitzen – „the historical moment referred to, the moment of production, and the moment of reception“ (S. 33) –, hänge ihre Bedeutung jeweils davon ab, in welcher Situation und aus welchem (künstlerisch-ästhetischen, politischen und/oder historischen) Blickwinkel sie betrachtet werden.
Der zweite Teil des Buches ist der französischen und der deutschen Debatte um das Vél’ d’Hiv’ bzw. das Holocaust-Mahnmal gewidmet. Carrier gelingt es, auf relativ knappem Raum – die Falldarstellungen umfassen jeweils rund 50 Seiten – die Hintergründe und wesentlichen Merkmale der beiden Kontroversen prägnant aufzuzeigen. Auch wenn das Kapitel zum Berliner Holocaust-Mahnmal mit Blick auf die zuvor bzw. parallel erschienenen Studien kaum Neues enthält, lassen sich doch aufgrund der Kontrastierung mit dem französischen Fall einige bislang wenig beachtete deutsche Besonderheiten erkennen, während andere, vermeintlich deutsche Aspekte ihren spezifischen Charakter verlieren. So waren zum Beispiel beide Gedenkkampagnen, die jeweils von einer privaten Bürgerinitiative angestoßen wurden, auf die Errichtung eines spezifisch ‚nationalen’ Holocaust-Denkmals ausgerichtet, das die Erinnerungen aller Bürger vereinen bzw. von allen akzeptiert werden sollte: „Versöhnung“ („réconciliation“) und „Konsens“ lauteten daher die entsprechenden Leitmotive. Wie diese nationale Einheit der Erinnerung zu erreichen sei, wurde in beiden Ländern indes unterschiedlich beantwortet: „Debate in France was about political rhetoric, in Germany over political art.“ (S. 116) Carrier streicht hier vor allem die unterschiedliche Stellung des Staates im Rahmen der jeweiligen Kontroversen um den ‚richtigen’ Umgang mit der Vergangenheit heraus: In Frankreich habe sich die Diskussion in erster Linie darum gedreht, ob und in welcher Weise der Präsident als höchster Repräsentant des Staates in einer öffentlichen Rede am Denkmal des Rafle du Vél’ d’Hiv’ Verantwortung für das Vichy-Regime und die Deportation von Juden aus dem besetzten Frankreich übernehmen sollte. Die Frage der künstlerischen Gestaltung des Denkmals wurde dabei überhaupt nicht thematisiert. In Deutschland sei dagegen die Entscheidung, welches Denkmal in Berlin gebaut werden sollte, lange Zeit von der Politik in den Bereich der Kunst delegiert worden, und die Stellungnahmen hochrangiger Politiker zu einzelnen Denkmalsentwürfen seien, wie etwa im Fall des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, eher als eine unzulässige Einmischung interpretiert worden.
Im dritten und letzten Teil des Buches wird in Auseinandersetzung mit dem Konzept der ‚Lieux de mémoire’ (Pierre Nora) bzw. der ‚Erinnerungsorte’ (Etienne François/Hagen Schulze) die spezifische Funktion der Holocaust-Denkmäler für die Entwicklung eines ‚nationalen Gedächtnisses’ in beiden Ländern thematisiert. Carrier verwendet hierfür den Begriff der „negativen Kompensation“ (S. 200ff.) und streicht besonders den seiner Ansicht nach ‚neuen’ Denkmal-Charakter heraus: „The novelty of theses monuments lies in their parallel focus on victims and perpetrators [...]. A formerly archetypal out-group, and the moral depravity of the nation, is thereby given a central visible sign by means of a commemorative convention traditionally reserved for a national cult, whether of national triumphs, heroes or dead soldiers. These symbols do not reverse history by transforming the former out-group into an in-group, but represent a symbolic gesture of recognition and compensation and thereby subvert the conventional function of monuments as focal points of positive identification.“ (S. 202) Mit Blick auf die Diskussionen in Deutschland und Frankreich, aber auch auf Entwicklungen in anderen Ländern macht Carrier schließlich auf das „trans-“ bzw. „postnationale“ Element aufmerksam, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Völkermord an den Juden heutzutage kennzeichne: „Germany [has] no longer [...] a monopoly over the moral accountability for the genocide committed during the Second World War. The analogies between the complex symbolic representations of the Holocaust in Paris and Berlin [...] exemplify the internationalisation of critical metatheoretical memorial practices.“ (S. 207)
Carrier hat mit seinem Vergleich der öffentlichen Denkmalskontroversen einen äußerst lesenswerten Beitrag zur Frage vorgelegt, wie große soziale Gebilde wie ‚Staaten’ bzw. ‚Nationen’ durch die Auseinandersetzung mit der eigenen, mitunter äußerst negativ besetzten Geschichte ‚Identität’ konstruieren. Sein Vorschlag, Denkmäler als ‚öffentliche Kommunikation über Vergangenes’ und in diesem Sinne als Teil einer nationalen Erinnerungskultur zu verstehen, könnte allerdings in manchen Augen auch als Provokation verstanden werden, folgt doch aus diesem Fokus für die Analyse der ausgewählten Denkmäler, dass normative bzw. moralische Fragen, die mit der Erinnerung an den Holocaust als historischem Ereignis verbunden sind, gegenüber der Analyse der gegenwärtigen Kommunikation über die Denkmäler zurücktreten.2
Auch wenn man sich insgesamt eine etwas ausführlichere und systematischere Diskussion von zentralen Begriffen wie ‚memory’ und ‚memory culture’ zu Beginn des Buches gewünscht hätte – die eigentliche Definition von ‚Erinnerungskultur’ erfolgt auf S. 186 –, und Carrier eine Antwort auf die naheliegende Frage, wer denn eigentlich die Träger der Kommunikation über die Vergangenheit im Einzelnen sind, letztlich schuldig bleibt, ist diesem Buch eine große Leserschaft zu wünschen. Ohne Zweifel zeigt es, dass künftige Forschungsarbeiten zur Erinnerungsproblematik von einem analytisch-vergleichenden Ansatz nur profitieren können.
Anmerkung:
1 Siehe die Sammelrezension von Christian Saehrendt: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-218. Siehe auch weitere Rezensionen zum Thema unter http://www.zeitgeschichte-online.de/md=Holocaust-Mahnmal-Rezensionen.
2 In diesem Punkt deckt sich Carriers Arbeit mit dem ansonsten ganz anders angelegten Buch von Leggewie, Claus; Meyer, Erik, „Ein Ort, an den man gerne geht“. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München 2005.