Die Führungsmechanismen der Sowjetunion haben bereits unter Zeitgenossen Spekulationen hervorgerufen. War Stalin, dessen Prestige nach dem Zweiten Weltkrieg einen Höhepunkt erreichte, unumschränkter Despot oder Primus inter pares? Welche Rollen kamen Politbüro und Regierung zu, welche Bedeutung hatten die Kaderrotationen in ihnen? Waren sie Ausdruck von Fraktionskämpfen und ideologisch-politischen Richtungsstreitigkeiten 1, oder lediglich Ausdruck von Stalins unberechenbarem Führungsstil?
In ihrer Monografie, die auf jüngere Vorstudien der Verfasser und anderer HistorikerInnen zurückgreift 2, lehnen Yoram Gorlizki und Oleg Chlewnjuk beide Annahmen ab. Stattdessen formulieren sie die These, dass Stalin bis zu seinem Tod 1953 die Führung fest in der Hand behielt und durch seine Attacken auf seine unmittelbare Umgebung eine „politische und administrative Logik“ (S. 3), konkret: zwei Ziele, verfolgte. Erstens dienten sie der Festigung seiner eigenen Position sowie des Machtgleichgewichts und der Loyalität auf der Führungsebene unter ihm. Zeigte einer seiner Minister zu viel Unabhängigkeit oder drohte er zu viel Macht zu akkumulieren, wies Stalin ihn durch Ämterentzug, Demütigung oder andere Druckmittel in die Schranken. Gorlizki und Chlewnjuk analysieren nicht weniger als zwölf derartige Fälle aus den Jahren 1945 bis 1953. Zweitens sandte Stalin damit auch politische Signale aus, um den Staatsapparat zu Leistungssteigerungen anzutreiben oder außenpolitische Kurswechsel durchzusetzen. Gleichzeitig bemühte er sich, die Staatsführung durch die Reorganisation der Institutionen und die Heranziehung einer neuen technokratischen Elite effizienter zu machen, um dadurch dem sowjetischen Anspruch als Supermacht zu genügen.
An der Spitze des Staates existierten nach Kriegsende 1945 zwei Führungsgremien, zwischen welchen Arbeitsteilung herrschte. Das Politbüro als oberste Parteiinstanz behandelte „politische“ Angelegenheiten, d.h. Verteidigung, Außenpolitik, Staatssicherheit und Ideologie. Der Rat der Volkskommissare (ab März 1946: Ministerrat) beschäftigte sich v.a. mit Wirtschaftsfragen. Tatsächlich fielen die politischen Beschlüsse aber nicht im Politbüro, sondern in informellen Zusammenkünften in Stalins Kabinett oder seiner Datsche, wozu nicht alle neun Politbüromitglieder, sondern lediglich die „Führungsgruppe“ eingeladen war. Diese Form der Beschlussfassung ging auf eine seit den 1920er-Jahren geübte Praxis zurück 3. Die Führungsgruppe besaß die Funktion, Stalins Willen in Politbürobeschlüsse zu formen, die hernach im Umlauf einstimmig approbiert und in Kraft gesetzt wurden. Indem sie eine Fassade kollektiver Führung schufen, teilten die Mitglieder der Führungsgruppe mit Stalin Ansehen und Verantwortung, ohne zu Dissens berechtigt zu sein.
Der Entscheidungszirkel wurde nach Anzahl der Mitglieder als Vierer-, Fünfer-, Siebener- oder Neunergruppe bezeichnet. Ihre Zusammensetzung wurde von Stalin festgelegt, ohne auf die Parteigremien Rücksicht nehmen zu müssen. So gehörten ihr 1945 nicht der kränkliche Kalinin, der in Ungnade gefallene Woroschilow oder die außerhalb Moskaus stationierten Satrapen Chruschtschow und Schdanow an. Dafür besaßen Berija und Malenkow Zutritt zu dem Kreis der Mächtigen, bevor sie die Politbürovollmitgliedschaft erlangt hatten. Bei Kriegsende wurde das Führungsquintett von Stalin, Molotow, Berija, Malenkow, Mikojan gebildet, Ende 1945 zog Stalin Schdanow hinzu, 1947/48 erweiterte er die Führungsgruppe zu einem Nonett, bis 1952 reduzierte er die Anzahl wieder auf fünf (Stalin, Malenkow, Berija, Chruschtschow, Bulganin).
Die Führungsmitglieder wurden von Stalin abwechselnd unter Druck gesetzt. Im Herbst 1945 kanzelte er Molotow für dessen angebliche Konzessionsbereitschaft gegenüber dem Westen ab und zwang ihn zur Selbstkritik.4 1946 wandte er dieselbe Methode gegenüber Mikojan an, setzte Malenkow durch die „Flugzeugsabotageaffäre“ unter Druck und schwächte Berija durch die Entlassung seines Schützlings, Staatssicherheitsminister Merkulow. 1948 demütigte er den zuvor von ihm als Gegengewicht zu Berija und Malenkow protegierten Schdanow. Die Ablöse Molotows und Mikojans als Minister 1949, der Aufstieg Bulganins, die Entlassung und Hinrichtung Wosnesenskis dienten dem Zweck, keinen potenziellen Nachfolger zu stark werden oder sich auf seinen Lorbeeren ausruhen zu lassen. Jeder von Stalin geförderte Neuaufsteiger musste damit rechnen, bald nach seiner Erhöhnung zurückgestutzt zu werden: Chruschtschow 1951 mittels der Affäre um einen „Prawda“-Artikel, Berija durch die „Mingrelische Affäre“, Bulganin durch einen Skandal in der Rüstungsindustrie. Zweifellos verharrten die Führungsmitglieder dabei nicht reglos. Dennoch besaß die UdSSR bis 1953 nur einen Herrn und Meister, der alle genannten Fälle inszenierte und instrumentalisierte.
Trotzdem konnte Stalin nicht die gesamte Staatsführung allein bewältigen. Die Kompetenzteilung zwischen der Führungsgruppe, deren Entscheidungen Stalin kontrollierte, und dem Ministerrat, von dessen Sitzungen er sich meist fernhielt, war eine Konsequenz. Im Unterschied zur informellen, auf persönliche Loyalität gegründeten und unregelmäßig zusammengerufenen Führungsgruppe tagten der Ministerrat und seine formalisierten und spezialisierten Arbeitskomitees mit „maschinenhafter Regelmäßigkeit“ (S. 58). Die Führungsstruktur war somit durch zwei gegensätzliche Komponenten gebildet. Stalins Methode, diese beiden Elemente mit dem Ziel der Machtsteigerung der UdSSR und des eigenen Machterhalts zu kombinieren, bezeichnet Gorlicki als „neopatrimonial“.5
Kurz vor seinem Tod berief Stalin im Herbst 1952 den XIX. Parteitag ein. Dem Vorbild Lenins folgend, strebte er, potenzielle Nachfolger zu desavouieren und die Führung in kollektive Bahnen zurück zu lenken. Molotow wurde verstoßen, das Politbüro durch ein Parteipräsidium mit 36 Mitgliedern ersetzt. Die Wirkung dieser Maßnahmen und auch das auf Stalins Tod folgende Intermezzo der „kollektiven Führung“ waren allerdings nur von kurzer Dauer.
Gorlicki und Chlewnjuk haben eine kompakte Darstellung in sechs Kapiteln vorgelegt, die neue Fakten bietet und überzeugt. Mancherorts stößt auch sie an die in russischen Archiven weiterhin exekutierte Geheimhaltung: So ist z.B. die Geheimkonferenz der Führer der sowjetischen Machtsphäre im Januar 1951 zur Vorbereitung auf einen möglichen Krieg gegen den Westen 6 offenbar noch immer nicht anhand sowjetischer Quellen belegbar (S. 98f. und Anm. 4). Unklar sind auch weiterhin die näheren Umstände der Entlassung von Stalins langjährigem Leiter der Geheimkanzlei Aleksandr Poskrjobyschew kurz vor dem Tod seines Herrn (S. 161 und Anm. 120).
Anmerkungen:
1 Hahn, Werner G., Postwar Soviet Politics. The Fall of Zhdanov and the Defeat of Moderation, Ithaca 1982; Ra’anan, Gavriel, International Policy Formation in the USSR. Factional Debates during the Zhdanovshchina, Hamden 1983.
2 Shukow, Juri, Borba sa wlast w rukowodstwe SSSR w 1945-1952 godach, in: Woprosy istorii 1995, S. 23-39; Mastny, Vojtech, The Cold War and Soviet Insecurity. The Stalin Years, New York 1996; Zubok, Vladislav; Pleshakov, Constantine, Inside the Kremlin’s Cold War. From Stalin to Khrushchev, Cambridge 1996; Danilow, A., Stalinskoje Politbjuro w poslewojennye gody, in: Jerofejew, N. (Hg.), Polititscheskie partii Rossii. Stranizy istorii, Moskva 2000, S. 193-221; Chlewnjuk, Oleg, Stalin i Molotow. Jedinolitschnaja diktatura i predposylki „oligarchisazii“, in: Ders. (Hg.), Stalin – Stalinism – Sowetskoje obschtschestwo, Moskva 2000, S. 272-290; Gorlizki, Yoram, Stalin’s Cabinet. The Politburo and Decision Making in the Post-war Years, in: Europe-Asia Studies 53 (2001), S. 291-312; Gorlizki, Yoram, Ordinary Stalinism. The Council of Ministers and the Soviet Neopatrimonial State, 1946-1953, in: The Journal of Modern History 74 (2002), S. 699-736.
3 Chlevnjuk, Oleg, Das Politbüro. Mechanismen der Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Hamburg 1998.
4 Vgl. Pechatnov, Vladimir, “The Allies are pressing on you to break your will…”. Foreign Policy Correspondence between Stalin and Molotov and other Politburo Members, September 1945 – December 1946, in: Cold War International History Project Working Paper 26 (1999).
5 Vgl. Gorlizki, Ordinary Stalinism (wie Anm. 2).
6 Vgl. zuletzt Wettig, Gerhard, Stalins Aufrüstungsbeschluß. Die Moskauer Beratungen mit den Parteichefs und Verteidigungsministern der „Volksdemokratien“ vom 9. bis 12. Januar 1951, in: VfZ 53 (2005), S. 635-650; Staritz, Dietrich, Stalin im Januar 1951. Angriff oder Verteidigung? Quellen und Lesarten, in: ZfG 53 (2005), S. 1019-1033.