Cover
Titel
The Myth of the Military-Nation. Militarism, Gender, and Education in Turkey


Autor(en)
Altinay, Ayse Gül
Erschienen
New York 2004: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
206 S.
Preis
$ 59.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Lukas Kieser, Schweizerischer Nationalfonds und Universität Zürich

Zwar wird die türkische Armee in Wissenschaft und Politik nicht mehr pauschal aufwertend als modernizing force bezeichnet wie einst im Zeichen der jungen NATO-Partnerschaft.1 Es gibt seit dem Militärputsch von 1980 eine zunehmende Zahl kritischer Analysen über den „Staat im Staat“ der türkischen „Militärkaste“. Dennoch und trotz der auch international bedeutsamen Rolle der türkischen Armee lässt die einschlägige, in westlichen Sprachen zugängliche Forschung noch viel zu wünschen übrig. Umso verdienstvoller ist die auf Englisch publizierte Dissertation von Ayse Gül Altinay, die an der privaten Sabanci-Universität bei Istanbul Anthropologie und Cultural Studies lehrt. Sie hinterfragt aus der Perspektive von Erziehung und Geschlecht eine zum Mythos gemachte Armee. Als stärkste Armee im Nahen Osten neben der israelischen, spielt sie als „Schule der Nation“ eine zentrale gesellschaftliche Rolle und übt - wenn seit Kurzem auch etwas zurückgebunden dank des EU-Annäherungsprozesses - grossen Einfluss auf die Politik aus. Die Autorin verhehlt nicht, dass der Mangel an gesellschaftlicher Diskussion über einen omnipräsenten, kaum cachierten Militarismus sie ärgert und in ihrer Forschung antreibt.

Altinays Buch ist in drei Teile mit je zwei Kapiteln gegliedert. Der erste analysiert einen durch militärische Vorstellungen geprägten Begriff von Nation, dem auch das Frauenbild zu gehorchen hat. Eine „moderne Türkin“ diente 1937 als weltweit erste Kampfpilotin. Zwei Aspekte machen den Mythos von Sabiha Gökçen, wie die Pilotin und Adoptivtochter Atatürks hiess, höchst fragwürdig. Erstens warf sie Bomben ab auf „innere Feinde“, nämlich auf Bergdörfer weitgehend wehrloser alevitischer Kurden (mit Ausnahme des Koreakriegs und der Zyperninvasion von 1974 schoss die Armee der Republik nur auf „innere Feinde“). Zweitens war Atatürks Adoptivtochter ein armenisches Waisenmädchen - schwer zu verstehen, warum Altinay diesen seit Anfang 2004 bekannten Aspekt in ihrer Endredaktion nicht noch berücksichtigte. Die armenische Abstammung passt gar nicht zu einer wichtigen Aussage der Türkischen Geschichtsthese der 1930er-Jahre, dass nämlich die türkische Nation auf Grund rassenanthropologischer Eigenschaften zum Kriegsdienst und zur Staatsgründung prädestiniert, ja „als Soldat geboren“ sei. Gökçen, die armenische „Vorzeigetürkin“, verinnerlichte die Maximen ihres Adoptivvaters so sehr, dass sie in ihren Memoiren die türkischen Frauen als soldatische Töchter einer soldatischen Nation beschrieb. Zu ihrer Enttäuschung blieb ihr Einsatz jedoch eine Ausnahme; das Recht eine militärische Karriere einzuschlagen erhielten Bürgerinnen der Türkei - weiterhin ohne generelle Dienstpflicht der Frauen - erst in den 1990er-Jahren. Afet Inan, eine weitere Adoptivtocher Atatürks und grosse Verfechterin der Geschichtsthese, verfasste unter Anleitung ihres Adoptivvaters ein Schulbuch mit dem Titel Staatskunde, wovon ein Teil Colmar von der Goltz' Schrift „Das Volk in Waffen“ (1883) bzw. dessen osmanische Übersetzung aus dem Jahre 1884 resümierte.

Während der erste Teil Elemente verknüpft, die in der einschlägigen Forschung weitgehend bekannt sind, basiert der zweite, mit „Militärdienst“ betitelte Teil (Kapitel 3 und 4) teilweise auf Interviews der Autorin mit ehemaligen Rekruten. Die bisweilen etwas subjektiv-impressionistisch erscheinenden, insgesamt jedoch aufschlussreichen Schilderungen dieser Begegnungen verbindet sie mit allgemeinen Überlegungen zur Rolle eines Militärdienstes, der noch heute für alle männlichen Bürger Pflicht ist. Sie kommt zum Schluss, dass die Armee der Bürger als eine moderne Institution Gleichheit unter den (heterosexuellen, muslimischen) Männern, Identifikation mit dem Staat und ein prägnantes Gefühl der Überlegenheit über die Frauen schafft. Feldforschungen in anatolischen Dörfern der 1980er-Jahre haben eine verblüffend ähnliche Rolle der Moschee für die Sozialisierung sunnitischer Männer - Gleichheit, Herrschaft über die Frau, Identifikation mit dem Staat - herausgestellt.2 Die als GM (gayri müslim = Nichtmuslim) gekennzeichneten christlichen und jüdischen Bürger der Republik erfahren im Militärdienst in den letzten Jahren zwar keine offene Diskriminierung mehr, haben aber weiterhin kaum Aufstiegschancen. Kapitel 4, wiederum gestützt auf Interviews, ist ein wertvoller Exkurs über die noch sehr junge und zarte Pflanze der Militärdienstverweigerung aus Gewissengründen in der Türkei. Da keinerlei Gesetzesklausel einer solche Verweigerung zulässt, sind die wenigen, die offen den Dienst verweigern (und die nicht wie viele Tausende auf andere Weise dem Militärdienst ausweichen), hohen Risiken, Strafen und gesellschaftlicher Ächtung ausgesetzt. Worum geht es diesen zu „Soldaten geborenen“, das Soldatentum jedoch refüsierenden und damit die tragende Ideologie subvertierenden Bürgern der Türkei? Sie wollen in einem jahrzehntelang „sicheren Hafen des Militarismus“, wie sie sagen, eine antimilitaristische Sprache als Grundlage eines neuen gesellschaftlichen Umgangs, einer veränderten Sicht der Umwelt zu schaffen. Bestärkt darin wurden sie durch Begegnungen mit Yesh Gvul, einer israelischen Gruppe, die den Kriegsdienst in besetzten Territorien verweigert und die ebenfalls in einem jungen Nationalstaat agiert, in welchem Waffendienst einen ausserordentlich hohen gesellschaftlichen Stellenwert geniesst.

Der dritte Teil (Kapitel 5 und 6) setzt sich mit dem Zugriff der Armee auf die Erziehung junger Menschen und mit den Folgen der „Militarisierung von Politik und Identität“ auseinander. Als am 3. März 1924 das Kalifat abgeschafft wurde, wurde gleichentags sowohl der organisierte sunnitische Islam als auch das Schulsystem zentralstaatlicher Kontrolle unterstellt. Letzteres erhielt, dem Zeitgeist entsprechend, einen stark nationalistischen Einschlag, der bis heute die Bildungsgesetzgebung prägt und der das Militär als „natürliche“ Errungenschaft türkischer Kultur und Geschichte darstellt. Damit eng verknüpft ist die Perpetuierung einer tiefen existentiellen Unsicherheit, ständigen Bedrohtheit und eines überhöhten Sicherheitsbedürfnisses, wie Altinay mit Verweis auf den Nationalismusforscher Tanil Bora festhält.3 Indem die Erziehung türkische Existenz schlechthin von nicht hinterfragbaren nationalistischen Maximen abhängen lässt, verbaut sie Weltorientierung jenseits des Nationalismus - was an Orhan Pamuks jüngste, entwaffnende Gleichsetzung von Türkesein und Verwirrtsein erinnert.4 Ein 1926 eingeführter, für alle SchülerInnen obligatorischer Jahreskurs stellt die institutionalisierte Schnittstelle von Armee und Schule dar. Dieser heute auf Sekundarstufe II unter dem Titel „Nationale Sicherheitskunde“ durchgeführte Kurs wird generell von einem Offizier in Uniform erteilt, der unabhängig vom Erziehungsministerium agiert. Obwohl vor wenigen Jahren eine didaktische Wende vollzogen und seither vorwiegend „strategic thinking“ und „Atatürkism as a lifestyle“ gelehrt wird, wie Altinay formuliert, heisst es dennoch im neuesten Lehrbuch weiterhin, dass „eine Person, die ihren Militärdienst nicht geleistet hat, nicht nützlich für sich selbst, ihre Familie und ihr Heimatland“ sein könne. Altinay untersucht in Interviews, wie SchülerInnen diesen bisher nie öffentlich diskutierten Kurs rezipieren. Die Bandbreite geht von jungen Kurden, die sich vom dominierenden Sicherheitsdiskurs völlig ausgeschlossen fühlen, bis zu Schülerinnen, die durch engagierte Überidentifikation mit den Kursinhalten ihre - durch die Armee nicht wirklich beförderte - Gleichgestelltheit zu demonstrieren suchen.

Mit diesem Buch liegt eine ertragreiche, aktuelle und hoffentlich politisch anregende Studie vor. Es hängt mit der zu einseitigen Ausrichtung auf die englischsprachige Welt des Elite-Bildungssystems in der heutigen Türkei zusammen, dass bei Altinay Bezüge zu einschlägigen Arbeiten auf Französisch und Deutsch fehlen. Ein Vergleich etwa mit Uta Kleins Studie über Militär und Geschlecht in Israel, dem militärischen Verbündeten der Türkei, hätte bedenkenswerte Analogien von einer von Atatürk wie Ben Gurion als „Schulen der Nation“ verstandenen Armee und maskuliner Selbstbestätigung bis hin zu den Militärkursen an den öffentlichen Schulen zu Tage gefördert.5

Anmerkungen:
1 Lercher, Daniel; Robinson, Richard D., Swords and Ploughshares. The Turkish Army as a modernizing Force, in: World Politics 13 (1960)1, S. 26-54.
2 Shankland, David, The Alevis in Turkey. The Emergence of a Secular Islamic Tradition, London 2003, S. 50-73.
3 Bora, Tanil, „Ders kitablarinda millyetçilik“, in: B. Çotuksözen, A. Erzan und O. Silier, Ders kitablarinda insan haklar? Taram sonuçlar?, Istanbul 2003, S. 65-89.
4 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 25.12.2005, S. 3.
5 Klein, Uta, Militär und Geschlecht in Israel, Frankfurt am Main 2001; vgl. auch: Heinzelmann, Tobias, Heiliger Kampf oder Landesverteidigung? - Die Diskussion um die Einführung der allgemeinen Militärpflicht im Osmanischen Reich 1826-1856, Frankfurt am Main 2004.

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