„Atlas“ steht für ein grafisches Nachschlagewerk mit Bildtafeln zu einem Wissensgebiet. Die Reihe „dtv-Atlas“ erinnert sicher viele an die Schulzeit: für Geschichte und Biologie gaben sie sehr knappe illustrierte Informationen. Bei Geografie und Geschichte liegt es nahe, mit Hilfe von Karten Übersichten über Ressourcen, Bevölkerungsverteilungen, Grenzen und deren Veränderungen zu geben. Die dtv-Reihe richtet sich an Laien, insbesondere Schüler/innen, es sind knappe stichwortartige Einführungen. Mittlerweile sind 47 Titel – von der Anatomie bis zur Physik – erschienen. Aber wie sollte ein solcher Atlas für die Ethnologie aussehen? Diese Frage stellt sich vor allem in einer Zeit, in der theoretische Auseinandersetzungen stärker im Mittelpunkt des Faches stehen, und es nicht in erster Linie darum geht, abgegrenzte „Stämme“ auf Landkarten zu verorten.
Meine Zweifel an einer befriedigenden Lösung dieser Aufgabe wurden durch den inzwischen vorliegenden dtv-Atlas Ethnologie bestätigt. Jeweils die rechte Seite ist mit Text, die linke mit farbigen Illustrationen gefüllt. Es handelt sich nicht um Fotografien, sondern um gezeichnete Illustrationen. Leider wurde die schwierige Aufgabe der Visualisierung von Informationen mehr als schlecht gelöst. Übliche Literaturlisten zu verschiedenen Themenbereichen sind beispielsweise auf die Abbildungsseite gesetzt und, um ihnen den Anstrich von Abbildungen zu geben, farbig unterlegt. Das ist nicht nur überflüssig, sondern erschwert die Lesbarkeit etwa durch Schrift auf dunkel violettem oder braunem Hintergrund (S. 174 „Gesellschaft“, S. 186 „Politik“, S. 202 „Recht“, S. 212 „Verwandtschaft“, S. 228 „Religion“, 256 „Kommunikation und Ausdruck“). Diese Schwäche ist eine eher formale.
Sieht man sich jedoch Darstellungen an, die über reine Aufzählungen von Titeln oder Personen hinausgehen, dann wird die Sinnlosigkeit des Bildes um jeden Preis deutlicher. Aufwändig ist etwa eine Grafik „Monographien als Genre“ (S. 70) dargestellt. Mit Symbolen (Kopf, Buch, Gruppe von Menschen) werden in drei Spalten „Ethnologe“ (hier der Kopf) —> „schreibt“ —> „Ethnographie“ (Buch) —> „stellt dar“ —> „kulturelle Realität“ (Menschengruppe) angeordnet. Einmal unter der Überschrift „Ethnographischer Realismus (objektivistischer Zugang), dann unter der Überschrift „Experimentelle Ethnographie (interpretativer Zugang)“ und „Postmoderne Ethnographie (diskursanalytischer Zugang)“. Ausgetauscht ist in Spalte zwei und drei nur jeweils das „stellt dar“ gegen „interpretiert“ außerdem gibt es in der „Postmodernen Ethnologie“ einen Pfeil mit Doppelspitzen („Interaktion“) zwischen „Ethnologe“ und „kultureller Realität“. Heißt das, dass es im „Realismus“ keine Interaktion zwischen dem Ethnologen und der Realität gibt? Wird nicht gerade in der Postmoderne „die Realität“ problematisiert? Meist bleibt die Beziehung zwischen Abbildung und Text unklar, so dass auch deshalb durch die Visualisierung kein Mehr an Information oder Klarheit erreicht wird.
Abbildungen können komplexe Sachverhalte modellhaft vereinfachen und das Verständnis dadurch erleichtern. Sie können aber auch einfache Sachverhalte durch viele Pfeile und unklare Bildsprache verkomplizieren, wie etwa die bildliche Darstellung der „Allgemeinen Vermittlungskonstellation“ der Ethnologie (S. 70 a). In wenigen Sätzen wäre das Problem viel einfacher und klarer dargestellt. Diese Schwäche findet sich auf allen Ebenen von ganzen Abbildungen bis hin zur Wahl der Symbole. Warum etwa werden Aktenordner als Illustration von „Darstellung von Alltagssituationen über Fallstudien“ gewählt? Fallstudien wären nach dieser Grafik Textmerkmal des „Realismus“ – sie kommen jedoch auch in experimenteller und postmoderner Ethnografie vor. Hier werden unzutreffende Sachverhalte an Anfänger vermittelt, die dies noch nicht vor einem weiteren Hintergrund beurteilen können.
Die zentralen Inhalte und Fragestellungen der Ethnologie sind schwer sinnvoll visualisierbar. Besonders deutlich wird dies auch an einer Seite, auf der vier Begriffspaare zu „Betrachtungsweisen“ der Ethnologie als Oppositionen angeordnet und mit Symbolen versehen wurden: sozial – kulturell, qualitativ – quantitativ, Essentialismus – Konstruktivismus und traditionell – modern (S. 36). Für „sozial“ steht ein Handschlag, für „kulturell“ ein Dollarzeichen und ein Herz. Was bedeutet das? Und was sagt das den Leser/innen? Komplexe theoretische Zusammenhänge werden hier nicht in Grafiken umgesetzt, sondern verschwinden. Das schlichte Denken in Oppositionen, das die Ethnologie immer wieder versucht hat abzubauen, wird zum Prinzip erhoben. Die dahinter stehenden Ideen werden dadurch weder deutlicher noch verständlicher. Dies obwohl Haller selbst im Vorwort schreibt: „Die ethnologische Diskussion zielt auf eine Wissenschaft vom Menschen, die stets ihre eigenen Voraussetzungen kritisch mit überdenkt.“ (S. 5)
In einigen Fällen können Abbildungen tatsächlich präzise zusätzliche Informationen geben: Karten sind hilfreich, Tabellen können, sofern sie übersichtlich sind, die Aufnahme von Informationen unterstützen, auch Fotos können effizient wichtige Details vermitteln. Abbildungen sollten genutzt werden, aber nur dann, wenn im Sinne der Vermittlung notwendig. Dass dies nicht über den gesamten Stoff hinweg zu 50 Prozent durchgehalten werden kann, war vorhersehbar. Besonders bedauerlich ist, dass die Übermacht der Grafiken hier auf Kosten des Textes geht: Der gewonnene Platz hätte für eine weniger einseitige und differenziertere Darstellung genutzt werden können.
Einseitigkeit und dadurch entstehende Fehlinformationen werden nicht nur bei der unzeitgemäßen Zusammenfassung der „Verwandtschaftsethnologie“ (S. 212-226, besser: „Sozialethnologie“), sondern vor allem bei Dieter Hallers Darstellung der Geschichte der Ethnologie deutlich. Unter der Überschrift „Theorien/Nationale Traditionen“ (S. 54-60) werden Frankreich, Russland, Italien, Niederlande, Spanien Brasilien, Japan, Indien, Native Anthropology und Völkerkunde im Nationalsozialismus in dieser Reihenfolge abgehandelt. Dass die Ethnologie in Deutschland entstanden ist (Fischer 1970; Lutz 1969; Vermeulen 1995) und es erwähnenswerte Ansätze deutschsprachiger Forschungen gegeben hat, wird nicht erwähnt. Die deutschsprachige Ethnologie ist so ausschließlich durch die Zeit des Nationalsozialismus repräsentiert. Die Beziehungen von Fachvertretern zu nationalsozialistischem, rassistischem, kolonialistischem und antisemitischem Gedankengut waren tatsächlich ausgesprochen komplex und widersprüchlich (Fischer 1990, Pützstück 1995, Streck (Hg.) 2000) und stellen mittlerweile einen eigenen Bereich der Forschung dar.
Im Klappentext des dtv-Atlas wird angekündigt, die Trennung zwischen Völkerkunde und Volkskunde werde in der vorgelegten Veröffentlichung weitgehend aufgegeben und in der Darstellung der Ethnologie vereint. Tatsächlich befasst sich der Atlas jedoch nur am Rande mit der Volkskunde, eher noch mit einigen soziologischen Ansätzen. Besonders deutlich zeigt sich das im Literatur- und Quellenverzeichnis, das keinerlei volkskundliche Nachschlagewerke, Einführungen oder Monografien verzeichnet.
Der Band „Ethnologie“ erinnert an einen mit PowerPoint gehaltenen Vortrag, bei dem vor lauter Abbildungen und Modellen die Inhalte verloren gegangen sind bzw. Inhalte nicht durch wenige ausgewählte, exakt passende Visualisierungen unterstützt werden. Fazit: Laien und Anfänger/innen des Studiums der Ethnologie ist sehr viel besser geholfen mit einem Wörterbuch (etwa Wörterbuch der Völkerkunde, Berlin: Reimer Verlag), ergänzt durch eine Einführung in die Ethnologie. Ein großer Vorteil solcher Nachschlagewerke ist – vor allem, wenn sie nicht nur von einem Autor, sondern von mehreren Spezialisten/innen verfasst sind – dass neben profundem Fachwissen auch unterschiedliche Herangehensweisen und Blickwinkel vermittelt werden. In einem Fach, dass unterschiedliche Theorie-Traditionen (und Ideologien) unter einem Namen vereint, ist das unbedingt notwendig. Von einer randständigen Position aus geschriebene Einführungen, die aufgrund einer „Geschlossenheit“ auch Vorteile haben könnten, sollten diese Position jedoch explizit kenntlich machen, statt den Eindruck eines „Wissenskanons“ zu erwecken. Denn gerade für Anfänger/innen ist eine einseitige und einengende Sicht, die noch nicht aus eigener Kenntnis und Erfahrung relativiert werden kann, ausgesprochen nachteilig.1
Anmerkung:
1 Aus technischen Gründen können die beschriebenen Abbildungen im Mail-Format leider nicht reproduziert werden. Ein Eindruck wird durch die bebilderte Rezension in der Süddeutschen Zeitung vermittelt (<http://www.sueddeutsche.de/,kulm2/kultur/artikel/732/64668/>)
Zitierte Literatur:
Fischer, Hans, "Völkerkunde", "Ethnographie", "Ethnologie". Kritische Kontrolle der frühesten Belege, in: Zeitschrift für Ethnologie 95 (1970), S. 169-182.
Fischer, Hans, Völkerkunde im Nationalsozialismus. Aspekte der Anpassung, Affinität und Behauptung einer wissenschaftlichen Disziplin, in: Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Band 7, Berlin 1990.
Lutz, Gerhard, Volkskunde und Ethnologie, in: Zeitschrift für Volkskunde 65 (1969). S. 65-80.
Pützstück, Lothar, “Symphonie in Moll”. Julius Lips und die Kölner Völkerkunde, Pfaffenweiler 1995.
Streck, Bernhard (Hrsg.), Ethnologie und Nationalsozialismus. (Veröffentlichungen des Instituts für Ethnologie der Universität Leipzig, Reihe: Fachgeschichte, Band 1), Gehren 2000.
Vermeulen, Han F, Het ontstaan van de Volkenkunde ca. 1770 in Göttingen. Doctoraalscriptie Culturele Antropologie, Leiden 1995.