Cover
Titel
Herbert Wehner. Biographie


Autor(en)
Meyer, Christoph
Erschienen
Anzahl Seiten
579 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniela Münkel, Historisches Seminar, Leibniz-Universität Hannover

Herbert Wehner (1906–1990) ist neben Franz Josef Strauß wohl einer der umstrittensten bundesdeutschen Nachkriegspolitiker. Seine Vergangenheit als Kommunist seit den 1920er-Jahren sowie die lange undurchsichtige Rolle während seiner Zeit im Moskauer Exil nährten Gerüchte und Verschwörungstheorien. Gleiches gilt für Wehners bis heute nicht eindeutig geklärtes Verhalten in der Affäre Guillaume und beim darauf folgenden Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt. Ein restriktiver Umgang mit dem Nachlass Wehners, der 16 Jahre nach seinem Tod der historischen Forschung in weiten Teilen immer noch nicht zugänglich ist, trägt ebenfalls nicht gerade zur Aufklärung bei. Nun durfte anlässlich des 100. Geburtstages der erste Wissenschaftler eine Biografie unter Einbeziehung des gesamten Nachlasses schreiben – Christoph Meyer, der Leiter des Herbert-Wehner-Bildungswerks in Dresden.

Die Meinungen der bisherigen Rezensenten gehen auseinander: Lobt „Die Zeit“ das Buch fast schon überschwänglich als die Biografie, die „dem Lebenswerk des Politikers und Menschen Wehner in hohem Maße gerecht“ werde1, war in der „taz“ zu lesen, dass die „schillernde Ausnahmegestalt“ Wehner eine „subtilere Würdigung als Meyers biedere Verteidigungsschrift verdient“ habe.2

Meyer geht chronologisch entlang von Wehners Lebensweg vor, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf der Zeit nach 1945 liegt. Eine ausführliche Einleitung fehlt, ebenso ein Schluss. Ein kurzes Vorwort führt in das Buch ein, wobei Meyer vor allem betont, dass Wehners Witwe Greta „auf die Darstellung und Wertung […] keinen Einfluss ausgeübt“ habe und er selbst, obwohl ihm „in besonderer Weise“ an der „Würdigung des Lebenswerks von Herbert Wehner gelegen ist“, nicht „einseitig und parteiisch“ sein möchte. Es folgen zwei Kapitel über Wehners Kindheit und Jugend in schwierigen familiären und ökonomischen Verhältnissen sowie über seinen politischen Weg in der Weimarer Republik. Dieser führte Wehner vom Anarchismus zur KPD, in der er einen schnellen Aufstieg zum sächsischen Landtagsabgeordneten (1930/31) bzw. zum technischen Sekretär des KPD-Politbüros in Berlin (ab 1932) absolvierte.

Auch persönliche Erfahrungen, Verletzungen, Enttäuschungen – wie Wehners erste Ehe mit der Schauspielerin Lotte Löbinger, die ihn betrog und von der er sich nach kurzer Zeit wieder trennte – werden ausführlich einbezogen. Meyer gelingt es, in solchen Passagen die bisher eher unterbelichtete persönliche Seite des SPD-Politikers zu zeigen. Der Mensch Wehner wird ausführlich und detailliert charakterisiert.

Die Zeit im Untergrund – Wehner organisierte unter anderem den Abstimmungskampf der KPD im Saarland –, sein Aufstieg zum Kandidaten des Politbüros der KPD sowie seine Aufenthalte in Moskau und sein Exil in Schweden inklusive der zweijährigen Haftzeit werden in den folgenden Kapiteln detailliert, differenziert und kritisch beleuchtet, jedoch ohne besondere neue Erkenntnisse. Dies gilt auch für die Zeit in Moskau, als Wehner, wie viele andere KPD-Mitglieder auch, in den Strudel der stalinistischen Säuberungsaktionen geriet und einige seiner Genossen an den NKWD verriet.

Bis zu Wehners Rückkehr nach Deutschland (September 1946) und seinem Eintritt in die SPD (Oktober 1946) legt Meyer insgesamt eine lesenswerte, kenntnisreiche und ausgewogene Biografie Herbert Wehners vor. Allerdings wird die Frage, warum sich Wehner trotz der Erlebnisse in Moskau und seinem Wissen über die Herrschaftsmechanismen innerhalb von KPD, KPdSU und Kommunistischer Internationale erst so spät auch innerlich vom Kommunismus lossagte, nicht thematisiert. Gleiches gilt für die große Prägekraft, die die Zeit als hoher politischer Funktionär der KPD und die Erfahrungen im Moskauer und schwedischen Exil für Wehners späteres Leben – jenseits der Diffamierungskampagnen von politischen Gegenspielern nach 1945 – gehabt haben.

Meyers Einordnung und Bewertung von Wehners langem politischem Wirken in der deutschen Sozialdemokratie und der Bundespolitik ist hingegen überaus problematisch: Hier macht sich Meyer zum Anwalt Wehners, spielt dessen Rolle in vielen Punkten hoch, um seine Sicht Wehners als eines „Jahrhundertpolitikers“ zu untermauern. Dabei scheint sich Meyer in nicht wenigen Fällen bewusst oder unbewusst die Sichtweise Greta Wehners zu Eigen gemacht zu haben. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Folgt man Meyer, so wären – etwas überspitzt gesagt – das Godesberger Programm bzw. der außen- und innenpolitische Kurswechsel der SPD nie so schnell zustande gekommen, und Brandt wäre nicht Kanzlerkandidat seiner Partei geworden.

Ein weiterer kritischer Punkt ist die immer noch ungeklärte Rolle Wehners beim Rücktritt Brandts. Brandt selbst hat durch einen Nachtrag zu seinen Erinnerungen, den „Notizen zum Fall G.“, die Spekulationen um die zwielichtige Rolle Wehners in der Affäre Guillaume angeheizt. In Brandts Nachlass findet sich allerdings nichts darüber Hinausgehendes, was seine Sicht mit Fakten untermauern würde. Nun hat im Jahr 2004 Brigitte Seebacher eine sehr subjektive Biografie über Brandt veröffentlicht, in der sie Wehner ins Zwielicht zu rücken versucht, ihm „zu“ enge Kontakte in die DDR und nach Moskau vorwirft sowie ihm einen aktiven Anteil an der Demontage Brandts als Bundeskanzler zuschreibt. Auch Seebacher bleibt den Beweis für ihre Vermutungen schuldig – sie spricht von obskuren Aktenstücken in Moskauer Archiven, die sie allerdings nie gesehen hat.3 Von einer Biografie über Wehner wäre zu erwarten gewesen, dass diese sich differenziert und kritisch mit den wahrscheinlich gar nicht haltbaren Vorwürfen auseinandersetzt.

Stattdessen geht Meyer in Verteidigungsposition: Er versucht die Wehner zugeschriebenen öffentlichen Demontageversuche des Bundeskanzlers im Jahr 1973 durch die Behauptung zurechtzurücken, Wehner habe die abfälligen Äußerungen nicht vor einer größeren Öffentlichkeit getan, sondern nur im engsten Kreis von Journalisten – als wenn dies wirklich von entscheidender Bedeutung wäre. Bezüglich des Verhaltens während der „Guillaume-Affäre“ meint Meyer, dass es Wehner selbst gewesen sei, der aktives „Krisenmanagement“ betrieben habe, während die Medien Unwahrheiten in Umlauf gebracht hätten. Wehner sei von „Verzweiflung erfüllt“ gewesen, als er von den Selbstmordgedanken des Kanzlers erfahren habe. Beim Treffen in Bad Münstereifel – wo Brandt die Entscheidung zum Rücktritt fasste – habe er ihm „wohl weder abgeraten noch hat er ihm dazu geraten“ (S. 423). Als Gegenbeweis für die überzogenen Behauptungen Brigitte Seebachers führt Meyer jedoch lediglich einen Vermerk Brandts „wahrscheinlich vom Mai 1974“ an, in dem steht, „Herbert Wehner hat mich niemals zum Rücktritt gedrängt“ (S. 425). Alles in allem bleibt Meyer hier recht vage, und durch den Versuch, das Verhalten Wehners künstlich zu beschönigen, werden eher wieder Zweifel genährt.

Für die Kanzlerjahre unter Helmut Schmidt, als Wehner weiterhin Fraktionschef blieb, stellt Meyer die bessere Zusammenarbeit im Vergleich zu Brandt, die Flügelkämpfe in der SPD, die nachlassende politische Aktionskraft Wehners als Folge gesundheitlicher Probleme sowie Wehners nachdrückliches Engagement für Häftlingsfreikäufe und Familienzusammenführungen aus der DDR in den Mittelpunkt. Zu Recht würdigt Meyer den oft unterschätzten jahrzehntelangen Anteil Greta Wehners an der Arbeit ihres Stiefvaters und späteren Ehemannes, ihre Bedeutung als Gesprächspartnerin sowie in den letzten Jahren als Betreuerin und Bezugsperson. Auch die wichtige Rolle Lotte Wehners, der 1979 verstorbenen zweiten Ehefrau, als einer persönlichen und politischen Ansprechpartnerin für ihren Mann wird hervorgehoben. Im letzten Kapitel beschreibt Meyer einfühlsam den körperlichen und geistigen Verfall Wehners in den 1980er-Jahren.

Zusammenfassend stellt Meyer fest, dass drei Leitmotive das politische Leben Wehners durchzogen hätten: „[…] erstens das Ringen um die demokratische Lösung der nationalen Frage des deutschen Volkes, zweitens der Einsatz für die gleichberechtigte Teilhabe und Mitwirkung der Arbeiterschaft in Staat und Gesellschaft und drittens der Einsatz politischer Macht, um bedrängten und in Not geratenen Menschen zu helfen.“ (S. 493) Die erheblichen Verdienste Wehners, die dieser um die bundesdeutsche Nachkriegsdemokratie und die Erneuerung der SPD seit den 1950er-Jahren gehabt hat, stehen außer Zweifel. Für eine überzeugende Biografie wäre allerdings eine ausgewogenere Darstellung zu wünschen gewesen, die nicht einer Verklärung und Mystifizierung das Wort redet.

Anmerkungen:
1 Ullrich, Volker, Der Fuhrmann der SPD, in: ZEIT, 6.7.2006, online unter: <http://www.zeit.de/2006/28/P-Wehner>.
2 Cammann, Alexander, Von links außen nach oben, in: tageszeitung, 8.7.2006, online unter: <http://www.taz.de/pt/2006/07/08/a0189.1/text>.
3 Vgl. Seebacher, Brigitte, Willy Brandt, München 2004, Tb.-Ausg. München 2006, S. 237ff. Siehe die Rezension von Siegfried Schwarz: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-034>.

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