In der öffentlichen und veröffentlichten Meinung in Deutschland überwiegt eine sehr kritische Einschätzung der Haltung Großbritanniens zu Europa und zur europäischen Einigung, die durch den unseligen Brexit noch einmal Auftrieb erhalten hat. Aber auch in der historischen Forschung hat sich das Narrativ vom „awkward partner“ durchgesetzt, der die Entscheidungen der übrigen EG/EU-Mitglieder stets konterkarierte sowie die nationalen Interessen in den Vordergrund stellte und damit den Weg zur „ever closer union“ erschwerte. Diese negative Sicht auf die britische Europapolitik ist zwar in der Forschung zur europäischen Integrationsgeschichte schon seit längerem in Frage gestellt worden und einem differenzierteren Urteil gewichen. So ist es schon beinahe eine Binsenweisheit, dass die vermeintlich einseitige Verfolgung nationaler Interessen kein britisches Alleinstellungsmerkmal ist. Und es haben Arbeiten jüngerer Integrationsforscher:innen gezeigt, dass die EG/EU-Politik der Briten in den Institutionen der Gemeinschaft sowie auf bestimmten Politikfeldern wie der Gemeinsamen Außenpolitik oder dem Binnenmarkt durchaus konstruktiv war. Die Studie des deutsch-britischen Historikers Mathias Haeussler, mit der er 2018 in Cambridge promoviert worden ist, schließt sich dieser differenzierten Perspektive auf die britische Europapolitik an. Sie ist zum einen eine (Teil-)Biographie Helmut Schmidts, zugleich aber auch eine Studie über die deutsch-britischen Beziehungen und diese binationale Zusammenarbeit in Europa in einem für die europäische Integration zentralen Jahrzehnt.
Wie der Titel bereits anklingen lässt, wird die Europapolitik als ein deutsch-britisches Missverständnis gedeutet, das auf unterschiedlichen Europavorstellungen basierte. Da die Kanzlerschaft Helmut Schmidts von 1974 bis 1982 den zeitlichen Rahmen bildet, werden die Amtszeiten dreier britischer Premierminister:innen untersucht, zum einen die beiden Premierminister der Labour Party Harold Wilson und James Callaghan und zum anderen die dreijährige Amtszeit der Konservativen Margaret Thatcher. Jenseits der persönlichen Eigenarten der jeweiligen Premierminister:innen, ihrer unterschiedlichen europapolitischen Ansätze sowie der innen- wie wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen werden Konstanten britischer Außenpolitik erkennbar, die mit den Grundlagen deutscher Außen- und Europapolitik schwerlich in Einklang zu bringen waren. Für Schmidt, nicht anders als für seine Vorgänger und Nachfolger, war die Bundesrepublik als außenpolitischer Akteur nur im Rahmen der europäischen Einigung denkbar. Krisen innerhalb der Gemeinschaft bedrohten immer zugleich den Status Quo der internationalen Einbindung der Bundesrepublik Deutschland und entzogen ihr in der Wahrnehmung der politischen Akteure die Grundlage. Während Deutschland stets seinen esprit communautaire unter Beweis stellen musste, hatte Großbritannien einen deutlich pragmatischeren Ansatz. Die EG war nur eine europäische Option unter vielen, ohne Exklusivität beanspruchen zu können. Zugleich stellte Kritik an Teilbereichen der EG-Politik aus britischer Sicht zu dieser Zeit nicht die gesamte Integration in Frage. Wenn deutsche Politiker sogleich das gesamte Projekt Europa als gefährdet ansahen, waren für britische Akteure strittige Fragen wie das Budget der Gemeinschaft oder Währungsfragen immer nur recht nüchtern betrachtete Teilaspekte der Politik. Das europäische Missverständnis basierte demnach auf unterschiedlichen Perzeptionen, die eine gemeinsame Europapolitik erschwerten, die sich aus unterschiedlichen Erfahrungen, Ideen, Konzepten und Einflüssen speisten.
Im Mittelpunkt der Studie steht das Handeln der führenden politischen Akteure. Die politischen Archive bilden daher die Hauptquelle der Analyse. Auch konnte Haeussler noch längere Interviews mit Helmut Schmidt führen. Wenngleich der Autor „re-introduces elements of human agency and chance into the study of international history” (S. 8), so ist dies dennoch kein Rückfall hinter den methodologischen Stand der Forschung. Neue perzeptionsgeschichtliche Ansätze fließen in die kluge Analyse ebenso ein wie innen- und parteipolitische Hintergründe, die das Handeln der Akteure beeinflussten. Zum anderen wurden in den 1970er-Jahren vor dem Hintergrund zahlreicher europäischer und globaler Krisen Entscheidungen von höchster Tragweite in der Außenpolitik auch tatsächlich auf der höchsten Ebene getroffen. So fiel in diese Zeit unter Federführung Schmidts die Institutionalisierung der Gipfeldiplomatie mit der Schaffung der G6/G7-Wirtschaftsgipfelgespräche ab 1975 auf globaler und der Schaffung des Europäischen Rates 1974 auf EG-Ebene. Haeussler zeigt auf, dass „personal diplomacy“ durchaus eine zentrale Rolle spielte. Zwischen Callaghan und Schmidt entwickelte sich trotz unterschiedlicher europapolitischer Konflikte ein funktionierendes Tandem, das in europapolitischen Fragen wie bei der europäischen Währungspolitik keinen Konsens erzielte, aber gegenüber dem amerikanischen Präsidenten geschlossen auftrat. Mit dem Amtsantritt Thatchers verschlechterten sich schlagartig nicht nur die bilateralen, sondern auch die persönlichen Beziehungen, sodass es trotz inhaltlicher Übereinstimmung in zahlreichen Fragen der internationalen Politik, die mit dem zweiten Kalten Krieg zusammenhingen, Übereinstimmungen gab. Das betraf den NATO-Doppelbeschluss oder die Situation in Polen und den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Auf die bilaterale Kooperation in der EG hatte dies dennoch keinen positiven Einfluss.
Zu guter Letzt ist die Studie auch ein wichtiger Beitrag zur Helmut-Schmidt-Forschung. Sie macht den Sinneswandel vom anglophilen Jungpolitiker zum Kritiker der britischen Politik nachvollziehbar. Für Schmidt handelte es sich um eine rationale Abwägung, nicht auf die aus seiner Sicht in ihrer internationalen und ökonomischen Bedeutung absinkende ehemalige Großmacht zu setzen, sondern primär auf die deutsch-französische Achse.
Haeussler bereichert mit seinen pointierten Analysen nicht nur vor dem Hintergrund des Brexit die Fachdebatten zur britischen Europapolitik. Ihm wäre auch eine breitere Leserschaft in der interessierten Öffentlichkeit zu wünschen, für die eine deutsche Übersetzung natürlich von Vorteil wäre.