: Dr. med. Eduard Wirths: Ein Arzt in Auschwitz. Eine Quellenedition. Norderstedt 2005 : Books on Demand - BoD, ISBN 3833435984 204 S. € 22,00

: Der 'Märchenprinz'. Eduard Wirths. Vom Mitläufer zum Widerstand. Als SS-Arzt im Vernichtungslager Auschwitz. Giessen 2006 : Psychosozial-Verlag, ISBN 3898069249 281 S. € 24,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helgard Kramer, Institut für Soziologie, Freie Universität Berlin

Bislang war es nicht strittig, dass es sich beim langjährigen SS-Standortarzt von Auschwitz, Dr. med. Eduard Wirths, um einen so genannten Direkttäter des Holocaust handelt. Der Historiker und langjährige Vorsitzende des Internationalen Auschwitz-Komitees, Hermann Langbein, der immer um ein differenziertes Urteil über Wirths’ Verhalten bemüht blieb, schildert ihn keineswegs als Widerständler, sondern als Nazi und SS-Mediziner, der freilich immer wieder Skrupel erkennen ließ.1 Im Standardwerk über die SS-Mediziner von Auschwitz, Robert Jay Liftons „The Nazi Doctors“, kommt dem Fall Eduard Wirths ein wichtiger Stellenwert in der empirisch-psychologischen Typologie von Tätern des Holocaust zu.2 Wirths bildet das zentrale Beispiel einer Spaltung und Doppelung des Selbst in ein an den SS-Eid gebundenes „Auschwitz-Selbst“ und ein an den hippokratischen Eid gebundenes „normales Selbst“. In der medizinhistorischen Dissertation von Konrad Beischl wurden 2005 vor allem neue, nun zugängliche Unterlagen aus dem Bundesarchiv, aus dem DDR-Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmführer Dr. Horst Fischer, einem Freund und Stellvertreter Eduard Wirths’ in Auschwitz‚ Interviews mit noch lebenden Familienangehörigen und der Nachlass des ehemaligen Häftlingsschreibers des Standortarztes von Auschwitz, Karl Lill, berücksichtigt. Die Interpretation Liftons wird von Beischl implizit abgelehnt; Wirths wird von ihm als Massenmörder gedeutet, der aus Opportunismus in eine inhumane Situation geriet: „Ambivalenz“ lautet sein Resümee.3

Wenn nun der Zeithistoriker und Journalist Ulrich Völklein eine weitere Biographie des SS-Standortarztes von Auschwitz vorlegt, sollte man erwarten können, dass dabei alle vorhandenen Quellen berücksichtigt und bewertet werden. Statt dessen bietet er jedoch eine hoch selektive, tendenziöse Auswahl von Quellen, deren Fundstellen in der Biographie nur mit einem kursorischen Verweis auf den Quellenband belegt werden. Ebenso hoch selektiv werden die Quellen interpretiert, wenn überhaupt. Weder Langbeins, Liftons, noch Beischls Interpretationen werden diskutiert, vielmehr sei es „nun“ erst möglich, Eduard Wirths’ „Entwicklung vom zeittypischen Mitläufer der Vorkriegsjahre hin zum aktiven, wenngleich schuldverstrickten Widerstand gegen die rassistische Vernichtungsorgie des Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs“ unvoreingenommen darzustellen.4 Bisherige Darstellungen von Wirths‘ Biographie hält Völklein also für „voreingenommen“. Dabei kreisen alle Darstellungen um das in der Tat zentrale Problem, wie Angehörige der deutschen akademischen Elite wie der junge, aufstiegsorientierte Mediziner Wirths, Jahrgang 1909, im Zweiten Weltkrieg zu Massenmördern werden konnten.

Wie konnte dem SS-Sturmbannführer Dr. Eduard Wirths vom damaligen Funktionshäftling Hermann Langbein bei der ersten Begegnung, die im Frühjahr 1942 im KZ Dachau stattfand, das Epitaph „Märchenprinz“ angeheftet werden? Diese Frage stellte Völklein der Quellenedition von 2005 voran. Nun gibt das Epitaph sogar den Titel der neuen, von Völklein verfassten Biographie Eduard Wirths’ ab. Langbein hatte damit lediglich die Außergewöhnlichkeit eines Arztes in SS-Uniform hervorgehoben, der sich tatsächlich um kranke Häftlinge kümmerte. Ab September 1942 rettete Wirths seinem Häftlingssekretär Langbein in Auschwitz sogar mehrmals das Leben. Die Quellenedition enthält ganz überwiegend bekannte, weil im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-65) vom Gericht ausgewertete Dokumente. Weiter handelt es sich um Briefe und Briefauszüge von Wirths an seine Familie zwischen 1942 und 1945, von denen die meisten ebenfalls bereits bei Langbein (1972) und Lifton (1986) abgedruckt wurden, um posthum für Wirths von der Familie gesammelte Entlastungserklärungen sowie um Briefe aus dem Nachlass von Karl Lill, einem Funktionshäftling wie Langbein und dessen enger Freund im internationalen Häftlingswiderstand des KZ Auschwitz.

„Die Zerrissenheit dieses Menschen [...] verdient eine unvoreingenommene Darstellung, weil Eduard Wirths als einer der wenigen Täter der Vernichtungsmaschinerie zu widerstehen versuchte, um ihr schließlich doch zu unterliegen. Es gibt dafür kein zweites Beispiel ähnlicher Eindringlichkeit.“ Mit dieser Einschätzung werden nun allerdings die Tatsachen grotesk verdreht, die Wirths im Protokoll des von Völklein 2001 selbst veröffentlichten einzigen Verhörs Wirths’ durch einen britischen Geheimdienst-Offizier lakonisch eingestand.5 Diese einzige tatsächlich neue Quelle wird von Völklein jedoch als „archivalisch nicht gesichert“ bezeichnet und daher absichtsvoll ausgelassen.6 Denn die Äußerungen Wirths’ im Verhör, in denen er die Ermordung der jüdischen Menschen in den ankommenden Transporten als „unter Kriegsbedingungen [...] noch erträgliche Lösung“ bezeichnete, taugen nicht zur Konstruktion einer Legende des vergeblichen Widerstandskämpfers gegen die „rassistische Vernichtungsorgie“.

Einleitend zitiert Völklein im ‚Märchenprinzen’ das medizinische Protokoll des Todeskampfes von Eduard Wirths in voller Länge. Drei Tage, nachdem er sich in seiner Zelle erhängt hatte, verstarb er im September 1945 in britischer Haft. Trotz der technischen Sprache ist ein solches Protokoll immer eine bedrückende Lektüre. Es relativiert sich freilich, wenn man demgegenüber an die Menschen denkt, die gleich an der Eisenbahn-Rampe in Auschwitz-Birkenau oder aus den Krankenbaracken als „arbeitsunfähig“ oder bei Lagerappellen von Wirths und anderen „ins Gas“ geschickt wurden.

Völklein verwendet zur Strukturierung seines Buches die von Wirths im Sommer 1945 für ein britisches Militärgericht verfasste Rechtfertigungsschrift, indem er sie häppchenweise über 23 unbenannte Kapitel verteilt.7 Ab Kapitel 7 besteht jedes zweite Kapitel aus einem Stück der Rechtfertigungsschrift. Vergeblich sucht man jedoch nach Interpretationen, Korrekturen oder nach einem Anhaltspunkt dafür, dass dem Biographen die Legitimationsproblematik einer „Verteidigungsschrift“ irgendwie bewusst gewesen ist. Tatsächlich sind ja solche autobiographischen Schriften durch Lügen und Legitimationsversuche in der Regel so entstellt, dass sie über die damals leitenden Motive der Schreiber jedenfalls explizit nichts mitteilen. Wie will Völklein den Motiven und der „Entwicklung“ von Wirths auf die Spur kommen, wenn er „zur Orientierung“ über Wirths’ Biographie dessen Selbstdarstellung in der Rechtfertigungsschrift wortgetreu folgt? Und wenn er die großen Lücken, die Wirths’ autobiographischer Text in der Vorkriegszeit des Zweiten Weltkriegs lässt, mit den angeblich „präzisen Erinnerungen“ des Bruders Helmut Wirths füllt?

Im Mai 1933 wurde Eduard Wirths NSDAP- und SA-Mitglied. Dass Völklein getreu seiner Rechfertigungsschrift sozusagen Wirths’ Legitimationen ausbuchstabiert, ist schon ärgerlich genug. Dass er aber – um Wirths Eintritt in die NSDAP und die SA zu begründen – eine „Entschließung des bayrischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultus vom 28. April 1933“ zitiert, die vorgesehen habe, die Fortsetzung des Studiums von der politischen Zuverlässigkeit abhängig zu machen – so Wirths in der Rechtfertigungsschrift – grenzt an eine Fälschung. Weder sind von deutschen Ministerien jemals „Entschließungen“ herausgegeben worden, noch hat es im April 1933 ein bayrisches Wissenschaftsministerium gegeben, sondern lediglich eine vom „alten Kämpfer“ und Gründer des NS-Lehrerbundes, Hans Schemm, kommissarisch geleitete Kultusbehörde. Die machte ausgerechnet am 28. April 1933 mit einer neuen bayrischen Studentenrechtsverordnung den „Ariernachweis“ für Mitglieder der Korporationen verpflichtend und führte einen Numerus Clausus für jüdische Studierende von 1,5 Prozent ein.8

Mit Studienbeginn im Jahr 1930 trat Eduard Wirths seinem Bruder Helmut zufolge einer angeblich vorzugsweise wandernden und bergsteigenden Studentenverbindung bei, „einer mit sehr idealistischen Männern – der Hochschulgilde“. Diese rechtsradikale, völkische und antisemitische Verbindung war 1921 vom ehemaligen Freikorpsmitglied Dr. med. Karl Astel gegründet worden, der 1933 Präsident des Thüringischen Amts für Rassewesen und Volkshygiene wurde.9 Die weiteren Karriereschritte von Wirths, der spätestens nach dessen Medizin-Examen von Astel protegiert wurde, sind in der medizinhistorischen Arbeit von Beischl beschrieben worden, die Völklein allerdings nur kursorisch erwähnt. Da Astel noch im Winter 1944 Wirths nach Besetzungsvorschlägen für eine Professur an der Universität Jena fragte, deren Rektor Astel seit 1939 war, weist darauf hin, dass der professionelle Kontakt zwischen beiden nie abriss.10 Dies verschweigen aber sowohl Wirths in seiner Rechtfertigungsschrift als auch Völklein in seiner Biographie. Was er nicht ganz verschweigt, bagatellisiert er oder legt ausgesprochene Fehlinterpretationen vor, so zur „rassehygienischen“ Tätigkeit Wirths’ in Thüringen zwischen 1936 und 1938, zum Heiratsgesuch an Heinrich Himmler im Jahr 1936 und zu Wirths’ Verhältnis zum Lagerwiderstand.

Die Karriere Wirths’ zwischen 1939 und 1942 bleibt weiterhin ein Forschungsdesiderat. Es liegen auch keine Briefe Wirths’ während seiner Beschäftigung mit „Umvolkungsmaßnahmen“ und während seiner Fronteinsätze vor. Frontkommandierungen bilden im Kontext von Karrieren der KZ-SS unverfängliche, sozusagen nicht weiter erklärungsbedürftige Phasen. Für die „Mitläufer-Phase“ der Biographie geht es Völklein um den Nachweis, dass Wirths kein Antisemit gewesen sei: Um angesichts knapper Stellen „in seinem Beruf bevorzugt Verwendung zu finden“, habe Wirths im Oktober 1934 seine Aufnahme in die SS beantragt. Dessen ungeachtet habe Eduard Wirths „in seiner Landarztpraxis im fränkisch-badischen Merchingen Juden noch behandelt, als dies ihm von Gesetzes wegen längst verboten“ gewesen sei. Diese Behauptung wird noch zwei weitere Male in anderen Kontexten des Lebenslaufs von Wirths wiederholt. Um ihn des Antisemitismus’ gänzlich unverdächtig zu machen, heißt es im Quellenband erst, Wirths habe, bevor er sich den britischen Behörden im Juli 1945 stellte, „Verbindung zu einem jüdischen Rechtsanwalt“ aufgenommen, „der ihn einschränkungslos unterstützte“. Später wird daraus – realistischer – ein nach NS-Kriterien „halb-jüdischer“ Rechtsanwalt, der in Hamburg, beruflich degradiert, hatte überleben können. Dieser Rechtsanwalt konnte im Frühjahr 1945 über Auschwitz vermutlich nicht mehr wissen als durch die Alliierten bis dahin bekannt gemacht worden war, und scheint deshalb der Selbststilisierung Wirths’ zum Retter der europäischen Juden nicht misstraut zu haben, wäre aber keineswegs ein Zeuge dafür gewesen, dass Wirths in Auschwitz nicht als Antisemit aufgefallen war.

Die hoch selektive Quellenedition sowie die Darstellung von Wirths’ Biographie im „Märchenprinzen“ genügt wissenschaftlichen Ansprüchen daher in keinerlei Hinsicht. Die Zusammenstellung ist insgesamt tendenziös und geleitet von dem Bemühen, den „einen guten Menschen von Auschwitz“ doch noch zu finden. Dabei wird Völklein sowohl in die Selbstentlastungslügen des Bruders, Dr. med. Helmut Wirths, wie in die posthume Apologie des Vaters, Albert Wirths, verstrickt. Helmut Wirths, 1947 in Hamburg wegen Zwangssterilisationen von „Zigeunerinnen“ zu einer Bewährungsstrafe verurteilt – was er in seinem Nachkriegsleben konsequent verschwieg – versuchte seine eigene Beteiligung an den Experimenten seines Bruders an Häftlingsfrauen im Block 10 des Stammlagers Auschwitz als Assistent des Hamburger Gynäkologen Dr. Hinselmann zu verschleiern.11 Der Vater Albert Wirths wiederum strebte zeitlebens danach, entlastende Aussagen über Eduard Wirths zusammen zu tragen. Die Verantwortung für das Verbleiben von Eduard Wirths auf seinem Posten als Standortarzt wollte er sogar selbst übernehmen.

Wie kommt es, dass ein ansonsten sorgfältig arbeitender Zeithistoriker und Journalist so weit hinter den Stand der Forschung zu den NS-Verbrechen in Auschwitz zurückfällt? Ist es der Umstand, dass Eduard Wirths nach der militärischen Niederlage der Deutschen regressiv-zärtliche Briefe an seine Ehefrau schrieb, in denen er geradezu verzweifelt versicherte, er würde gern für sie und die vier Kinder sorgen? Wo man sich doch einen Massenmörder am liebsten als gefühl- und skrupellosen Menschen vorstellt, der ganz gewiss – auch im Privaten – anders ist als man selbst? Schon in seiner „familien- und ortsgeschichtlichen Untersuchung“ zu Geroldshausen, dem Herkunftsort von Wirths, ließ Völklein im Jahr 2001 seinen eigenen Vater, der als sehr junger Mann der SS beitrat, ein Gespräch mit dem SS-Standortarzt Wirths führen, das jedoch noch deutlich als fiktiv gekennzeichnet war.12 Auch wenn sich der eigene Vater nach Völkleins Recherchen nicht an den Massenmorden der SS beteiligte, so scheint ihn die historische Möglichkeit dazu doch nicht loszulassen, so dass er nun gegen alle Evidenz zu einer Exkulpation desjenigen SS-Offiziers ansetzt, der in Auschwitz „den Massenmord orchestrierte“ (Lifton). Die Besetzung der Stelle des SS-Standortarztes von Auschwitz mit Eduard Wirths war Folge eines Revirements im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (VWHA), das Oswald Pohl im Frühjahr 1942 vornahm. Einer Weisung Himmlers zufolge sollte durch einen verstärkten Arbeitseinsatz auch von jüdischen KZ-Häftlingen zum deutschen „Endsieg“ beigetragen werden. Gerade weil Wirths die im Lager befindlichen SS-Leute und Häftlinge vor dem Sterben an Seuchen bewahren wollte, hatte er mit der Konzentration der Selektionsbefugnis in seiner Hand die entscheidende Stelle in der Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz übernommen. Er hielt diese Maschinerie nach Dienstplan so lange am Laufen, bis Himmler im Oktober 1944 den Befehl gab, die fortlaufende Ermordung ankommender jüdischer Deportierter einzustellen. Eduard Wirths’ Tätigkeit als SS-Standortarzt befand sich daher im Schnittpunkt von Interessen der SS einerseits und des internationalen Lagerwiderstands, der für das Überleben möglichst vieler Häftlinge kämpfte, andererseits.

Bisher war das einzig bekannte Beispiel eines Widerstandsversuchs innerhalb der SS-Vernichtungsmaschinerie das des SS-Untersturmführers Kurt Gerstein, der die Evangelische Kirchenführung über die Ermordung der Juden informierte und gleichzeitig einige Tausend Kilo des Zyklon B verschwinden ließ, das er auftragsgemäß in die Vernichtungslager transportierte.13 Über Wirths berichtete seine Witwe, dass er einmal geweint habe, als er vom Rampendienst nach Hause kam und ihr zum ersten Mal seine Tätigkeit dort beschrieb.14 Einmal Weinen, wenn man in fast zweieinhalb Jahren Hunderttausende von Menschen in den Tod dirigiert, ist aber noch kein Widerstand. Wirths’ Larmoyanz in seiner Rechtfertigungsschrift erinnert vielmehr an den Generalleutnant der Waffen-SS Dr. med. Karl Brandt, einer der Organisatoren der Euthanasie, der sich in seinem Gefängnistagebuch in alliierter Haft weiterhin zu einem guten und idealistischen Menschen stilisierte. Zutreffender charakterisierte vielmehr Claudia Koonz diesen Typ von NS-Tätern, als sie von der Transformierung ihres Gewissens zum „Nazi-Gewissen“ schrieb. Mit Beginn der NS-Herrschaft habe sich eine fortschreitende ethnische Verengung weiterhin gültiger moralischer Maßstäbe auf „arische Deutsche“ vollzogen.15 Dies ermöglichte es einem Teil der Täter, sich guten Gewissens am Massenmord zu beteiligen. Wirths bestand im Lager Auschwitz auf einer vollständigen Segregation der jüdischen Funktionshäftlinge, die „Arier“ nicht behandeln durften. Auch weinte er den „Zigeunern“, deren Lagerabschnitt im August 1944 „liquidiert“ wurde, keine Träne nach.16 Polen und Polinnen dagegen scheint Wirths im Verlauf seiner Tätigkeit als SS-Standortarzt und in Kooperation mit dem internationalen Lagerwiderstand in Auschwitz zunehmend als zum Leben prinzipiell „berechtigte“ Menschen wahrgenommen, sie also in sein moralisches Universum aufgenommen zu haben. Wirths verabscheute Exzess-Täter wie den SS-Untersturmführer Maximilian Grabner der Lager-Gestapo, nicht aber die SS insgesamt oder die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz, die er dirigierte. Noch im Herbst 1944 schrieb Wirths in einem Brief an seine Frau, man müsse den Sommer und Herbst gemeinsam in Auschwitz verbringen, den Winter aber zuhause im Badischen. Wirths musste sich an das Morden ganz und gar gewöhnt haben, um Auschwitz für den geeigneten Ort einer regelmäßigen Sommerfrische von SS-Familien halten zu können, waren doch im Sommer 1944 binnen zweieinhalb Monaten nahezu eine halbe Million Menschen, Jüdinnen und Juden aus Ungarn, dort ermordet worden.

Hätte Völklein seine Quellenedition und die Biographie nicht als Beitrag zur Motivforschung der NS-Täter, als „Aufklärung der inneren Tatseite“ angekündigt und mit Beschreibungen der Realität von Auschwitz garniert, so könnte man beides getrost ignorieren und sich einreden, dass über die Massenverbrechen des Nationalsozialismus eben auch schlechte Romane geschrieben werden. Aber Romane, deren Fiktion so nah an der unvorstellbaren Realität der NS-Massenverbrechen bleibt und die eine Beteiligung der Mörder nicht erklären helfen, sondern schönreden, gehören in den Kontext einer Gegenaufklärung, der gerade jetzt, wo die letzten Überlebenden der Konzentrationslager, die persönlich die planvolle Menschenvernichtung im Nationalsozialismus bezeugen können, in absehbarer Zeit verstorben sein werden, energisch widersprochen werden muss. Ist doch zu befürchten, dass ein fachhistorisch nicht ausgebildetes Publikum effekthascherisch aufbereitete neue Mythen über eine tragische Verstrickung gewöhnlicher deutscher Akademiker in die nationalsozialistischen Massenverbrechen daraus beziehen kann.

Anmerkungen:
1 Langbein, Hermann, Menschen in Auschwitz, Wien 1972.
2 Lifton, Robert Jay, The Nazi Doctors, New York 1986; deutsch: Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart 1988.
3 Beischl, Konrad, Dr. med. Eduard Wirths und seine Tätigkeit als SS-Standortarzt im KL Auschwitz, Würzburg 2005. Vgl. dazu die Rezension von Sven Keller in H-Soz-u-Kult vom 30. August 2006.
4 Alle wörtlichen Zitate finden sich gleichlautend in der Einführung zur Quellenedition sowie in „Der ‚Märchenprinz’“.
5 Völklein, Ulrich, Der Judenacker - eine Erbschaft. Eine familien- und ortsgeschichtliche Untersuchung, Gerlingen 2001, S. 76f.
6 Vgl. dazu die Anmerkung 15 in: Dirks, Christian, Karrieresprung Vernichtungslager, in: Kramer, Helgard (Hg.), NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006. Dirks schätzt das Protokoll des Verhörs jedoch vom Sprachduktus her als plausibel ein.
7 Wirths’ Rechtfertigungsschrift wurde bereits abgedruckt in: Beischl, Konrad, Dr. med. Eduard Wirths und seine Tätigkeit als Standortarzt im KZ Auschwitz, S. 237–251 (ÖStA Wien E 1797:278/1), in der Fassung, die die westdeutschen Staatsanwaltschaften verwendet haben. Demgegenüber hat Völklein im Quellenband eine ungekürzte Original-Fassung veröffentlicht. Der folgende Satz, der in der Gerichts-Fassung fehlt und der Wirths’ fortdauernde Loyalität gegenüber der SS belegt, wird jedoch in der Biographie von Völklein wieder ausgelassen: „Meine Gewissensbisse, mich hierdurch des Verrats schuldig zu machen, wurden mir durch den Hinweis genommen, daß die berichteten Tatsachen nur dazu verhelfen sollten, Greuel und Unmenschlichkeiten abzustellen“ (Quellenband, S. 51). Eine genaue Diskussion der Rechtfertigungsschrift findet sich in: Kramer, Helgard, Das „doppelte Selbst“ des SS-Standortarztes von Auschwitz, in: dies. (Hg.), NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006.
8 Vgl. Spitznagel, Peter, Studentenschaft und Nationalsozialismus in Würzburg 1927–1933, Diss. phil. Universität Würzburg 1974, S. 34ff, S. 272, S. 283.
9 Möglicherweise wurde Wirths bereits 1930 zum Protegé Astels. Dafür spricht, dass Völklein Eduard Wirths’ Abiturnoten (lauter „gut“, aber in Mathematik, Physik und Chemie nur „mangelhaft“) als „im Jahresdurchschnitt [..] recht gutes Zeugnis“ apostrophiert. Wie Wirths mit drei Fünfern im deutschen Bildungssystem das Abitur schaffen und dann noch das Numerus-Klausus-Fach Medizin studieren konnte, ist jedenfalls ein Rätsel.
10 Abgedruckt bei Klee, Ernst, Auschwitz und die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt/M. 1997, S. 410.
11 Für die Überlassung von Kopien dieser Dokumente aus der Gedenkstätte KZ Neuengamme danke ich Christian Dirks.
12 Siehe Völklein, 2001.
13 Vgl. Jersak, Tobias, Die vermeintliche Ambivalenz des Bösen: Der SS-Offizier Kurt Gerstein, in: ders./Hirschfeld, Gerhard (Hg.), Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt/New York 2004, S. 255–262.
14 Vgl. Orthel, Rolf/Fels, Hans, Dr. Eduard Wirths. Dokumentarfilm, Niederlande 1975.
15 Koonz, Claudia, The Nazi Conscience, New Haven 2003.
16 Vgl. dazu die Vernehmung Hermann Langbeins am 24. Tag des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses: Am Tag nach der „Liquidierung des Zigeunerlagers“ in Birkenau erkundigte sich Langbein beim Standortarzt, ob es sich bei der statistischen Stärke-Meldung „Null“ um einen Fehler handele. „Dann sagte er: ‚Schreiben Sie sie zu den Gestorbenen’“ (Quellenedition, S. 167).

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