Die Diskrepanz könnte nicht größer sein: Verfolgung und Bestrafung in den 1950er-Jahren – jährlich weit über 3.000 Verurteilungen nach Paragraph 175 und Paragraph 175a des Strafgesetzbuches zwischen 1957 und 1962 –, Aufhebung dieser Urteile durch den Deutschen Bundestag 2017 – dem Jahr, in dem auch die gleichgeschlechtliche Ehe Gesetzeskraft erlangte. Wer wollte bezweifeln, dass die Bundesrepublik Deutschland einen Prozess der sexualpolitischen „Fundamentalliberalisierung“ durchlaufen hatte, der sich zwar länger hinzog als in den Niederlanden, in Dänemark oder der DDR, aber am Ende eben doch zur Gleichstellung hetero- und homosexueller Liebesbeziehungen führte? Auf der rechtlichen und politischen Ebene ist diese Liberalisierung unbestreitbar, doch stellen sich die Dinge komplizierter dar, wenn man sie emotionsgeschichtlich betrachtet. Dies ist die These von Benno Gammerls wunderbarem Buch, das den Wandel der Gefühlslagen gleichgeschlechtlich Liebender untersucht und damit erstmals eine geschichtswissenschaftliche Gesamtdarstellung männlicher und weiblicher Homosexualität in der „alten“ Bundesrepublik bietet.
Dass Gammerl so differenziert argumentieren kann, geht vor allem auf eine klug gewählte Quellenbasis zurück, die nicht nur aus einschlägigen Szeneperiodika wie „Der Kreis“, „Du und Ich“ oder „Lesbenstich“ besteht – Archivmaterial wird nicht herangezogen –, sondern auch und insbesondere aus 32 lebensgeschichtlichen Interviews, mit denen der Autor gekonnt die historischen Gefühlslagen der Protagonistinnen und Protagonisten herauspräpariert (Schwule und Lesben der Geburtsjahrgänge 1935 bis 1970). Historiographisch argumentiert das Buch ganz auf der Höhe der deutsch- und englischsprachigen Forschung, die der Autor hervorragend überblickt. Das Buch ist chronologisch gegliedert in drei Hauptkapitel zu den „Nachkriegsdekaden“, den 1970er- und den 1980er-Jahren. Diese Kapitel sind wiederum systematisch aufgebaut: Zuerst wird jeweils die generelle Entwicklung des Feldes geschildert – Gesetzeslage, sexualpolitische Debatten, Aktivismus –, im zweiten Schritt werden die Orte gleichgeschlechtlicher Lebenswelten näher betrachtet, und schließlich wird drittens das zeitspezifische „anders Fühlen“ der Akteure herausgearbeitet. Dass die Pfade homosexuellen Lebens „verschlungen“ waren (so die Überschrift der Einleitung) und durch eine Fortschrittserzählung nicht bündig zu fassen sind, erschließt sich anhand der Überschriften der drei Hauptkapitel nicht auf den ersten Blick. Sie lauten „Ausweichen.“, „Aufbrechen!“, „Ankommen?“ und bestätigen somit eher die Erwartung einer Erfolgsgeschichte – lediglich das den 1980er-Jahren zugeordnete Fragezeichen deutet einen Vorbehalt an.
Bei der näheren Lektüre wird jedoch von Beginn an klar, warum der Autor eine lineare Fortschrittsgeschichte ablehnt, denn schon im ersten Kapitel, das die Nachkriegszeit großzügig bis ans Ende der 1960er-Jahre zieht und damit die Zeit der massivsten strafrechtlichen Repression bis zur Novelle des Paragraphen 175 von 1969 umfasst, wird deutlich, dass es zu kurz gegriffen wäre, Existenz und Liebesleben von Homosexuellen auf den Aspekt der Unterdrückung zu reduzieren. Zum einen waren Frauen von diesem Paragraphen ja nicht betroffen – was nicht bedeutet, dass lesbische Liebe nicht sanktioniert worden wäre. Zum anderen arbeitet Gammerl den Eigensinn der Akteure heraus und die Spielräume, die sie sich auch unter den Bedingungen von Ächtung und Verbot eroberten – kurz, die „Vielschichtigkeit zwischen Gehorchen und Auflehnen“ (S. 55). Hoch anzurechnen ist dem Autor, dass daraus wiederum keine Heldengeschichte wird. Er ignoriert weder den unter männlichen Homosexuellen anzutreffenden bürgerlich ausgerichteten „habituellen Distinktionswillen“ (S. 71) noch rassistische Tendenzen oder die Tatsache, dass homophile Argumente gegen die Homophobie durchaus NS-affin sein konnten.
Besonders überzeugend gelingen in allen drei Kapiteln die Passagen zum Gefühlsleben „männerliebender Männer und frauenliebender Frauen“, etwa die dichte Beschreibung von Interaktionen in der Schwulenbar (Blicke, Gespräche, Kontaktanbahnung) und das Erlernen von Praktiken der Anerkennung. Dabei galt „wildes Fühlen“ in den „Nachkriegsdekaden“ als „gefährlich“ (S. 113): Unter den Bedingungen der Repression war Affektkontrolle ratsam, was die Ausbildung geistiger Willenskraft zur Kontrolle des Körpers erforderte. Auch für die 1970er-Jahre erfasst die Erzählung des emanzipatorischen Aufbruchs nur einen Teil der Wirklichkeit. Vor allem sollte man nicht die lautstarken Akteure der Schwulen- und Lesbenbewegung für repräsentativ halten, denn im Gegensatz zu ihrer radikalen Coming-Out-Forderung gestaltete sich die Praxis vieler gleichgeschlechtlich Liebender selbst in der Aufbruchphase weitaus zögerlicher. Wie sich hier schon andeutet, brachten die neuen Freiheiten auch einen Optimierungsdruck mit sich, waren Selbstbewusstsein und Ängste gleichzeitig zu beobachten. Mit der Normalisierung gleichgeschlechtlicher Liebe in den 1980er-Jahren – wobei Gammerl wiederum Überhänge und Reaktualisierungen zuvor charakteristischer Tendenzen von Stigmatisierung und Emanzipation konstatiert – gingen neue Unsicherheiten einher, sodass die Signatur auch dieser Dekade ambivalent ist: Dem Freiheitsgewinn von Pluralisierung und Individualisierung standen Verluste und neue Anforderungen durch Fragmentierung und Flexibilisierung entgegen, sichtbar etwa im Aufkommen intersektionaler Perspektiven – der Spezifik schwarzer, migrantischer oder „behinderter“ Homosexueller – oder durch das Empfinden, sich zwischen subkultureller Existenz und der Anpassung an heterosexuelle Lebensweisen entscheiden zu müssen. Auf diese Weise verband sich in den 1980er-Jahren ein Mehr an Offenheit mit einem Mehr an Unsicherheit. Und ob „der Westen“ im Unterschied zu autoritären Regimes als Inkarnation sexueller Freiheit betrachtet werden kann, hält Gammerl angesichts der Lage in den USA oder dem gleichgeschlechtlich orientierten Sextourismus in autoritär regierte Länder der „Dritten Welt“ für zweifelhaft.
„anders fühlen“ definiert den aktuellen Standard der Geschichte der Homosexualitäten in der „alten“ Bundesrepublik. Doch im Grunde ist das Rubrum „Sexualitätengeschichte“ zu eng für dieses Buch, denn es geht hier in einem sehr viel grundsätzlicheren Sinne um den Wandel von Lebensstilen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der sich bei Homosexuellen besonders markant vollzog, aber über sie hinausweist. Dies wird besonders deutlich im Hinblick auf die 1980er-Jahre, wo Gammerl einen generellen „Bedeutungsverlust des Sexuellen“ konstatiert, was auf eine Annäherung hetero- und homosexueller Intimitätspraktiken hinausläuft. Er spricht von einer „promisk-monogamen Doppelnorm“ (S. 318), die von einem Gelingensdruck, einem Zwang zum Glücklichsein begleitet wird, dem nicht nur gleichgeschlechtlich Liebende ausgesetzt sind.
Die historiographische Bedeutung dieses Buches liegt auf zwei Ebenen: Es etabliert pointiert das Gefühl als geschichtsmächtigen Faktor, und es stellt gängige Periodisierungen infrage, indem es Differenzierungen herausarbeitet. Wie andere Arbeiten jüngerer Autorinnen und Autoren zur Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik profiliert sich auch dieses Buch gegen die inzwischen etwa 20 Jahre zurückliegende Forschung, die eine „Liberalisierung“ der Bundesrepublik konstatierte und sie als „Lernprozess“ verstand.1 Dabei konzentrierten sich die älteren Befunde vor allem auf die 1960er- und 1970er-Jahre, in denen ein Liberalisierungsschub gegenüber den 1950er-Jahren unübersehbar ist. Gammerls Ausrufungszeichen in der Kapitelüberschrift „1970er-Jahre: Aufbrechen!“ signalisiert diese übergeordnete Tendenz ebenfalls. Dass das Klischee der 1950er-Jahre als Dark Age der Komplexität dieser Dekade nicht gerecht wird, wissen wir seit den frühen 1990er-Jahren.2 Dass Traditionsüberhänge auch in den 1960er-Jahren noch wirkmächtig waren und sich im darauffolgenden Jahrzehnt zudem eine konservative „Tendenzwende“ anbahnte, gehörte schon für die ältere Forschung mit ins Bild. Gammerl hat nun mit Blick auf eine besonders stark ausgegrenzte Minderheit die lebensgeschichtlichen Polyvalenzen dieses Prozesses scharf herausgearbeitet und zeigt über die Untersuchung von Emotionen klarer als bisher, dass das, was auf der politischen und rechtlichen Ebene einen Liberalisierungsprozess bedeutete, nicht gleichzusetzen ist mit Freiheit von Angst. Wie die Transformationsforschung für die Jahre nach der viel gefeierten Zäsur von 1989/90 deutlich gemacht hat, ist „Fortschritt“ eine problematische Kategorie. Dass schon die 1980er-Jahre eine höchst widersprüchliche Dekade waren, belegt des Autors genauer Blick auf den sexualpolitischen Backlash, der nicht zuletzt mit der AIDS-Hysterie jener Jahre verbunden war. Aber selbst die danach gewachsene gesellschaftliche Akzeptanz homosexueller Orientierungen bedeutete nicht in jeder Hinsicht, dass das Leben einfacher wurde. Die Eröffnung von Freiheitsräumen, das lernen wir aus Benno Gammerls Buch, schafft stets neue Komplikationen, mit denen die Individuen zurechtkommen müssen.
Anmerkungen:
1 Paradigmatisch: Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte - eine Skizze, in: ders. (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49.
2 Axel Schildt / Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993.