Anna Michaelis setzt sich in ihrer Monographie mit dem umfassenden Thema der jüdischen Sozialpflege und soziologischen Forschung zwischen 1890 und 1917 auseinander. Diesen Zeitrahmen begründet sie mit dem Beginn der spezifischen, auf die jüdische Minderheit bezogenen Sozialforschung, welche in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte (S. 18), sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs aber wieder abschwächte und 1917 fast ganz zum Erliegen kam. Darüber hinaus kam es 1917 zur Gründung der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (ZWSt), wodurch die Sozialpflege und dessen Erforschung auf eine andere Grundlage gestellt wurde (S. 19). Inhaltlich stellt Michaelis die Thematik im Wesentlichen nicht als Betrachtung der damaligen „Gegenwart“ dar, sondern betrachtet diese unter der Fragestellung der Zukunft der Juden in Deutschland. Die hier wesentlichen Faktoren sind Fragen der (sinkenden) Geburtenraten, der „Mischehen“ zwischen Juden und Christen, der Migration entweder als Ein- oder Durchwanderung (Transmigration) osteuropäischer Juden bzw. die Auswanderungspläne der in Deutschland lebenden Juden in das damals zum Osmanischen Reich gehörende Palästina. Die Spannbreite dieser Diskurse wird durch die beiden ideologischen Hauptströmungen des deutschen Judentums jener Zeit bestimmt: einerseits durch den 1893 in Berlin entstandenen Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (Centralverein) und andererseits durch die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD), die 1894 in Köln gegründet wurde. Vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte dieser beiden großen ideologisch bestimmten Institutionen des deutschen Judentums ist das von Michaelis gewählte Einstiegsdatum für Ihre Untersuchung überzeugend gewählt.
Neben der zeitlichen Einordnung ist ein erster Ausgangspunkt für die Untersuchung die Frage, was überhaupt an sich „jüdisch“ ist und was nicht. In diesem Zusammenhang verwirft Michaelis in Bezugnahme auf einen knappen Text von Dan Diner1 den Begriff „Identität“ bzw. „jüdische Identität“ als „Schwundbegriff“ und schlägt stattdessen den Begriff der „Zugehörigkeit“ vor (S. 32). Sicherlich ist die Einschätzung Diners richtig, dass der Begriff der „jüdischen Identität“ im Forschungsdiskurs reichlich abgegriffen ist und nach einem treffenderen Ersatz verlangt. Der alternativ vorgeschlagene Begriff „Zugehörigkeit“ ist aber für die hier vorliegende Untersuchung ebenfalls ungenau, da ein autonomes Subjekt über seine Zugehörigkeit selbst entscheiden kann, während „Identität“ dem jeweiligen Subjekt unwillentlich verliehen wird.
Im zweiten Kapitel, „Dimensionen jüdischer Sozialpolitik – Geschichte und Räume“, (S. 45–83) stellt Michaelis die untersuchten jüdischen Gemeinden vor, die zu den größten Gemeinden im damaligen Deutschen Reich gehörten. Dabei verweist Michaelis in einer kurzen Ausführung auf die in der jüdischen Rechtslehre (Halacha) vorgesehene soziale Wohlfahrt und Wohltätigkeit (Zedaka), welche in den größeren jüdischen Gemeinden Anwendung fand. Für ihre Studie wählte Michaelis die drei Städte Hamburg, Berlin und Frankfurt am Main aus und legte neben der Größe der Gemeinden auch die Eigenheiten dieser Städte zugrunde. Des Weiteren suchte Michaelis die drei Gemeinden aufgrund ihres Charakters als „eindeutig deutsche Gemeinden“ (S. 54) aus und schloss damit vor allem die wichtige Gemeinde in Breslau aus. Diese Entscheidung der Autorin ist hinsichtlich der ausgeprägten „schlesischen“ Identität der Breslauer Juden nachvollziehbar. Jedoch wies Breslau eines der ältesten und ausgeprägtesten jüdischen Sozialfürsorgesysteme auf, dessen Berücksichtigung zu einer Erweiterung der Erkenntnisse über die Sozialfürsorge in der Grenzregion zu Polen bzw. dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn sowie die jüdische Transmigration hätte beitragen können.
Im Folgekapitel, „Koordinaten des wissenschaftlichen Diskurses über die Zukunft der Juden“, (S. 84–111) stellt Michaelis drei wichtige jüdische Sozialwissenschaftler und ihre Hauptwerke vor, die sie als „Schlüsselpersonen“ präsentiert (S. 100), was sich erst in den drei Folgekapiteln erschließt. Diese sind der zionistische Sozialwissenschaftler Arthur Ruppin (1876–1943), der zionistische Dermatologe und Schriftsteller Felix A. Theilhaber (1884–1956) und der dem Centralverein nahestehende Arzt und Statistiker Jacob Segall (1883–1959). Irritierend ist an dieser Stelle die starke Akzentuierung der zionistischen Protagonisten, obwohl der Centralverein hinsichtlich der Mitgliederzahlen eine mindestens ebenbürtige jüdische Organisation zur ZVfD war und dieser gegenüberstand. Michaelis führt dazu aus, dass ein beträchtlicher Teil der Demographen, Mediziner und Soziologen, die sich mit der Zukunft der Juden beschäftigten, Zionisten gewesen seien (S. 98). Ein erweiterter Blick auf andere Berufsgruppen wie etwa der jüdischen Juristen hätte hinsichtlich der ideologischen Präferenzen ein ganz anderes Bild ergeben, wodurch dieses Kapitel nicht vollständig überzeugen kann.
Die folgenden drei Kapitel setzen sich mit den Untersuchungen zur jüdischen Sozialforschung um die Jahrhundertwende auseinander, wobei sich Michaelis hier für eine thematische Gliederung entschied, was den zuvor eingeführten Fokus auf die drei Gemeinden schwächt. Im Kapitel „Zukunft als ‚Schwächlinge’ oder ‚Normalmenschen‘ – Jüdische Sozialpolitik und Wissenschaft über jüdische Psyche und Körper“ (S. 112–171) stellt Michaelis eine durchaus gelungene Untersuchung der jüdischen Sozialforschung in Bezug auf den „Jüdischen Körper“ vor. Ausgehend von der Prämisse der Effekte von religiös-kulturellen Einwirkungen auf den Körper von Jüdinnen und Juden erfolgen hier vorwiegend gesundheitliche und medizinische Untersuchungen. So untersucht Michaelis die Effekte, die durch die Beschneidung (Brit-Milah) der Männer hinsichtlich sexueller Hygiene oder der Hemmung sexuellen Verlangens (S. 119), die jüdischen Speisegeboten (Kaschrut) wie auch die regelmäßig vorgeschriebenen Mikwenbesuche für Frauen entstehen. Sie setzt diese Effekte der Religionsvorschriften zu den Geburtenraten, zur militärischen Wehrfähigkeit und den physischen Stärken und Schwächen im jüdischen Kollektiv (S. 120) in Bezug. Das Folgekapitel, „Platzierung in Gemeinschaft, Positionierung in Gesellschaft – Jüdische Berufsstatistik, Berufsvorsorge und Zukunft“, (S. 172–232) geht dann auf das Thema der spezifischen jüdischen Berufsschichtung und der Berufsumschichtung im Sinne einer emanzipatorischen Vision einer „Normalisierung“ ein. Das letzte Kernkapitel der Studie ist „Jüdische Gemeinschaft in Zukunft – Demographische Observation und Community Building“ (S. 233–286) und beschäftigt sich schließlich mit der Frage der Transmigration bzw. der Frage der Beziehung der in Deutschland ansässigen und den ein- oder durchwandernden Juden.
In ihrem Fazit (S. 287–307) bietet Michaelis einen Ausblick auf die Frage der Zukunft der Juden über das Jahr 1917 hinaus an, welchen sie in drei Szenarien einteilt: erstens die aus der zionistischen Denkschule stammende zugespitzte Sichtweise „Keine jüdische Zukunft in Deutschland“ (S. 292), welche sich auf das Schlagwort „Zionismus oder Niedergang durch Akkulturation“ verengt und den Thesen Arthur Ruppins und Felix A. Theilhabers entspricht. Das zweite Szenario ist „Keine Zukunft in jüdischer Eigenheit“ (S. 295), die ein vollständiges Aufgehen des Judentums durch „Normalisierung“ voraussagte. Das dritte Szenario ist die „Bewahrung der jüdischen Eigenheit in Deutschland“ (S. 298), wie sie auch der Sichtweise des Centralvereins entspricht und in Michaelis’ Studie durch Jakob Segall vertreten wird. Anzumerken bleibt an dieser Stelle, dass der Centralverein weder „assimilatorisch“ war – wie es die ZVfD in ihren Schriften häufiger propagierte – noch „akkulturiert“, da die im Centralverein organisierten deutschen Juden sich auf eine Entwicklungsgeschichte bezogen, die das deutsche Judentum bereits seit Jahrhunderten als deutsche Kulturträger einordnete. Die Neuerung war ihr Bewusstsein, gleichberechtigte Staatsbürger zu den nichtjüdischen Deutschen zu sein und diese durch die Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert gewonnenen Rechte zu verteidigen sowie sich als gute Staatsbürger zu erweisen.
Insgesamt legt Anna Michaelis besonders durch die Kapitel 4 bis 6 eine lesens- und erkenntnisreiche Studie zu Fragen der jüdischen Sozialforschung und der Wohlfahrtspraxis großstädtischer jüdischer Gemeinden vor. Der Forschungsansatz, die theoretische Ebene mit der Ebene des „tatsächlich Machbaren“ zu konfrontieren, ist hier ausdrücklich als innovativ zu loben und führt zu einer kritischen Einhegung abstrakter soziologischer Theorien durch die Wirklichkeit. Zu kritisieren ist die leider unverkennbare „Schlagseite“ in die jüdisch-nationale Richtung, welche durch eine gründlichere Beschäftigung mit dem Centralverein und seinen Protagonisten hätte vermieden werden können. Durch die fachliche Verengung auf das nähere Umfeld der Sozialwissenschaften sind Michaelis diejenigen jüdischen Protagonisten entgangen – zu nennen ist hier unter vielen anderen der Rechtsanwalt Eugen Fuchs (1856–1923) –, die einen anderen wissenschaftlichen Zugang zur Frage der jüdischen Zukunft in Deutschland wählten.
Anmerkung:
1 Dan Diners Vorwort zu Susanne Zepp / Natascha Gordinsky, Kanon und Diskurs. Über die Literarisierung jüdischer Erfahrungswelten, Göttingen 2009, S. 7–8.