Die Mediävistik im deutschen Sprachraum besitzt traditionell eine besondere Stärke im Bereich der politischen und sozialen Theorie des Mittelalters. Angefangen von der jetzt in vielen Beziehungen weit überholten, aber als Klassiker zu lesenden, bahnbrechenden Arbeit von Otto von Gierke, hat die deutsche Mediävistik über mehrere Generationen eine Reihe von Berühmtheiten hervorgebracht, deren Arbeiten ein internationales Ansehen erreicht haben. Im Bereich der Forschung der Fürstenspiegel hat die Arbeit von Wilhelm Berges lange Zeit einen internationalen Forschungsstandard markiert und ihre Relevanz immer noch nicht völlig eingebüßt.1 Einen ironischen Kontrast zu diesem Reichtum an ausgezeichneten Arbeiten bildet der ebenso ins Auge stechende Mangel an Bemühungen, diesen bereits sprachlich schwer zugänglichen Forschungsbereich einem breiteren Publikum unseres immer lateinfreier werdenden Zeitalters zugänglich zu machen, etwa durch Übersetzung. Nur Friedrich Schreyvogls Übersetzung von ‚De regimine principum ad regem Cypri’ des Thomas von Aquin (Stuttgart 1971), Fritz Bleiensteins Übersetzung von ‚De potestate regia et papali’ von Johannes Quidort aus Paris (Stuttgart 1969), die von Walter Kunzmann und Horst Kusch gemeinsam erarbeitete Übersetzung des ‚Defensor pacis’ des Marsilius von Padua (Leipzig 1958) und dann Jürgen Miethkes für den Ockham-Forscher besonders hilfreiche Auswahlübersetzung des ‚Dialogus’ (Darmstadt 1994) sind hier im Wesentlichen zu nennen. Dieser bedauerliche Mangel trägt dazu bei, das bereits wegen gängiger Vorurteile weit gesunkene Interesse an der politischen Theorie des Mittelalters weiterhin zu senken und jede Lehrveranstaltung zu diesem wegen der immensen theologischen und philosophischen Konnotationen besonders anspruchsvollen Themengebiet noch schwieriger zu machen. Daraus entwickelt sich ein Teufelskreis, der die Zukunft des bereits unter dem Einfluss der kulturwissenschaftlichen Wende der Mediävistik immer mehr ins Hintertreffen geratenen Forschungsbereichs verdunkelt. Gerade in einer solch deprimierenden Situation wirkt die Ausgabe der ‚Fürstenspiegel des Frühen und Hohen Mittelalters’, ein von Hans Hubert Anton, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Trier, verwirklichtes Sammelwerk mit lateinisch-deutschsprachigen Auszügen repräsentativer Fürstenspiegel, wie ein lang ersehnter Regen.
Zuerst zur Gattungsbezeichnung Fürstenspiegel: Der Begriff Spiegel, im Lateinischen speculum, war in der mittelalterlichen Literatur als Name eines Buches gängig. Es geht dabei um die Erkenntnis und die Belehrung durch die Betrachtung dessen, was dort widergespiegelt wird, sowie darum, sich einen Spiegel der Selbsterkenntnis vorzuhalten und den Weg der moralischen, geistigen und sittlichen Besserung vorzuzeichnen.2 Eine kompakte, aber gut verständliche Erörterung der Gattungsbestimmung, der Genese, der wichtigsten Stationen der Entwicklung und der generellen Struktur erhält man in der Einleitung vom Herausgeber und Übersetzer selbst, der, wie seine immer noch als Standardwerk geltende Arbeit ‚Fürstenspiegel und Herrschaftsethos in der Karolingerzeit’ (Bonn 1968) zeigt, einer der wenigen guten Kenner in diesem Bereich ist. Hier sei nur die knappste Basisbestimmung der Gattung aus der Einleitung herausgeholt. „Ein Fürstenspiegel ist eine in paränetischer Absicht verfasste Ausarbeitung, gerichtet an einen König, Fürsten oder Regenten jeweils, als Person oder an einen (fiktiven) Amtsträger als Repräsentanten einer sozialen Gruppe. […] Die Paränese kann sich ausdrücken in direkten Ermahnungen zur Gestaltung der herrscherlichen Ethik und Amtsführung, darüber hinaus in der Erörterung von auf den Empfänger bezogenen staats- und gesellschaftstheoretischen Zusammenhängen.“ (S. 4) Die Bezeichnung speculum regum oder speculum principum ist erst vom 12. und 13. Jahrhundert an nachweisbar, ist jedoch bereits auf die an Könige und Fürsten sowie an die aristokratischen Amtsträger gerichteten Mahnwerke der karolingischen Zeit zu übertragen und zwar nicht zuletzt deswegen, weil die Spiegelmetapher bereits in ihnen vielfältig zur Anwendung kam (S. 5). Der Herausgeber hat die Fürstenspiegel in drei Gruppen eingeteilt. In der ersten Gruppe handelt es sich um die Werke aus dem karolingischen Frankreich, aus denen die Werke des Jonas von Orléans (‚De institutione regia’), des Sedulius Scottus (‚Liber de rectoribus Christianis’) und Hinkmars von Reims (De regis persona et regio ministerio ad Carolum Calvum regem’ und ‚Admonitio ad episcopos et ad regem Karlomannum’) im besprochenen Band übersetzt und kommentiert sind. Die zweite Gruppe bilden der Königsspiegel des Gottfried von Viterbo (‚Speculum regum’) und die Regentenspiegel des Johannes von Viterbo (‚Liber de regimine civitatum’). Die Absonderung der zweiten Gruppe von der ersten geschieht aus der Einsicht, dass die unreflektierte theokratische Königsherrschaft im karolingischen Ostfrankenreich keine Herrscherspiegel hervorgebracht hat, und dass diese Situation ohne Änderung bis in die Ottonen- und Salierzeit hinein angedauert hat (S. 23). Ferner wirkte sich vor allem die politische und gesellschaftliche Sonderformation Reichsitaliens neben dem Fortleben der lehrhaften Historie stark auf die Prägung der dortigen Fürstenspiegel aus, nämlich das podestà- oder Kommune-Regententum (S. 24). Die dritte und letzte Gruppe bilden dann die Werke des Gilbert von Tournai (‚Eruditio regum et principum’) und des Vinzenz von Beauvais (‚De morali principis institutione’), die inmitten des geistigen Umbruchs des hohen Mittelalters entstanden sind. Damit gelangt man an den Zenit des europäischen Fürstenspiegels im hohen Mittelalter, dem dann die Blütezeit des spätmittelalterlichen Fürstenspiegels mit der Rezeption der politischen und ethischen Werke des Aristoteles folgt.
Antons Ausgabe der Fürstenspiegel weist viele Vorzüge auf. Neben der kurzen, aber sehr informativen Einleitung tritt die klare und gut verständliche Übersetzung der einzelnen Werke schon auf den ersten Seiten hervor. Der lateinische Text bietet zwar keine kritische Ausgabe, ist aber durchaus gut erarbeitet und mit wertvollen Sachkommentaren versehen. Spezialisten wären mit der Auslassung einzelner Kapitel oder Autoren wohl nicht immer einverstanden. Beispielsweise dürften Kenner der in der letzten Zeit von der Cambridge-Schule initiierten Diskussion um die Anfänge des europäischen Republikanismus gewiss über den Wegfall der Begriffsbestimmungen zu regimen und civitas in der Übersetzung des Johannes von Viterbo enttäuscht sein, da die aktuelle Diskussion stets auf die Neuheit dieser Begriffsbestimmungen aufmerksam macht.3 Die auf nur eine Seite komprimierte Behandlung, ja geradezu das Ausfallen des ‚Policraticus’ des Johannes von Salisbury ist angesichts seiner massiven Bedeutung für die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung besonders schmerzlich. Zwar kann man keine ausführliche Behandlung dieses in der modernen Ausgabe rund 800 Seiten starken Werkes erwarten, jedoch wäre zu wünschen gewesen, dass die berühmten Stellen der organologischen Staatsauffassung und zum Tyrannenmord wenigstens auszugsweise berücksichtigt worden wären. Die Nichtberücksichtigung einzelner Autoren und Teile der Werke ist Hans Hubert Anton selbst sicherlich am schwersten gefallen. An vielen Seiten spürt man das Bemühen des Herausgebers und Übersetzers um die weniger spezialisierten Leser. Anton hat neben seinen Spezialforschungen mit diesem Band einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der mittelalterlichen politischen Theorien geleistet, dem der Dank der Leser gewiss ist.
Anmerkungen:
1 Berges, Wilhelm, Die Fürstenspiegel des Hohen und Späten Mittelalters, Leipzig 1938 (Nachdruck 1952).
2 Roth, Gundhild, Art. ‚Spiegelliteratur: I. Mittellateinische Literatur’, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 2101.; Bradley, Ritamary, ‚Backgrounds of the Title Speculum in Medieval Literature’, in: Speculum 29 (1954), S. 100-115; Grabes, Herbert, Speculum, Mirror und Looking-Glass, Tübingen 1973.
3 Meier, Ulrich‚ Freiheit in der Florentiner Stadtgesellschaft, in: Schreiner, Klaus; Meier, Ulrich (Hrsg.), Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Göttingen 1998, S. 37-83, bes. S. 50.