Die Anthologie fokussiert auf die Periode zwischen etwa 1960 und 1980, in der neuartige, global-lokale Beziehungen zwischen Design, Märkten und Institutionen entstanden, auf die junge Designer und Designerinnen mit einem sozialen und politischen Verständnis von Gestaltung reagierten. In ihr erfolgt eine Auseinandersetzung mit skandinavischem Design, das nach einer ersten Welle zwischen 1930 und 1960 entstanden ist, die vor allem von einzelnen Designstars (etwa Alvar Aalto, Finn Juhl) geprägt wurde. Dementsprechend stehen nicht in erster Linie Objekte im Zentrum, sondern Methoden, Ideologien, Praktiken und Prozesse – die nun ebenfalls gestaltet werden wollten.
Der Band entstand im Zuge einer Serie von Workshops (2019–2021), über die sich eine Gruppe von Designhistorikern und -historikerinnen sowie Museumsfachleute aus verschiedenen nordischen Ländern und darüber hinaus austauschten. Er gliedert sich in die drei Teile: Schlüsseldiskurse, die Transformation von Institutionen und sich verändernde Praktiken. Als Basiszugang wurde eine „archäologisch“ vorgehende kulturhistorische Methode gewählt, das heißt Diskurse der Zeit werden minutiös nachgezeichnet und oft werden auch kleine Initiativen, einzelne Fallbeispiele und Mikro-Diskurse rekonstruiert. Dafür wurden zudem Interviews geführt, öffentliche Vorträge ausgehoben, Bilder und historische Publikationen recherchiert und herangezogen.
In Kapitel eins zeigt Kjetil Fallan, wie Institutionen der Designausbildung in dieser Periode eine stärkere wissenschaftliche Grundlage für Design schaffen wollten. Dies verschränkte sich mit einem Aktivismus der Studenten und Studentinnen, die in Seminaren und Workshops Themen wie Antikonsum und Antiautoritarismus diskutierten. Auf diese Weise entstanden Studienprogramme, die auf die Fragen reagierten, warum Design gesellschaftlich relevant sei und wie es praktiziert werden sollte. Kapitel zwei stellt ein Kernkapitel des Bandes dar. In ihm setzen sich Anders V. Munch und Hans-Christian Jensen umfassend mit dem Begriff „Umwelt“ im dänischen Designdiskurs um 1970 auseinander. Aus heutiger Sicht überrascht, dass „Umwelt“ nicht in erster Linie die natürliche Umwelt und globale Fragen meinte, sondern die visuelle Umwelt, also öffentliches Design sowie die kreative, die häusliche und die soziale Umwelt. Als Basisbedeutung verwies dieser Begriff jedoch auf die Verbundenheit und das Feedback zwischen Individuen und ihrer Umgebung und die systematische Entwicklung desselben. In Kapitel drei stellt Beata Labuhn dann Ausstellungen ins Zentrum, über die Studenten und Studentinnen der Architektur in Schweden und Norwegen versuchten, Wissen über die ökologische Krise zu verbreiten. Zentrales Merkmal dieser Wissenskommunikation war der Versuch, sich über eine wütende, unbequeme, ernste und asketische Ästhetik jenseits der Dichotomie „links-rechts“ zu positionieren. Kapitel vier ist in Form eines Gespräches zwischen Christina Zetterlund und Gunilla Lundahl gestaltet und fokussiert auf Prozesse, in denen die Grenzen von Praktiken und Disziplinen des Wissens transzendiert werden. Anhand von Beispielen selbstorganisierter Räume wird deutlich gemacht, dass Ausstellungen als demokratische Werkzeuge eingesetzt wurden. Malin Graesse und Kaisu Savola zeigen dagegen in Kapitel fünf auf, wie die Kunsthandwerksbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen nordischen Ländern als Antwort auf eine gesteigerte Urbanisierung und Industrialisierung sowie eine damit verbundene Zentralisierung von Macht entstanden ist. Dabei wurde Handwerk häufig als das Andere der Industrie konzipiert und mit Definitionen nationaler Identität verbunden. In Spannung dazu verfolgte diese Bewegung jedoch auch sozialistische Ziele in Bezug auf Selbstbestimmung und flache Hierarchien. In unmittelbarem Anschluss daran untersucht Anna Westman Kuhmunen in Kapitel sechs, in welcher Weise sich die zweite Welle der Mobilisierung der indigenen Samen seit den späten 1960er-Jahren politisch, sozial und kulturell ebenfalls über die Wiederentdeckung und Neubewertung von Handwerk („doudji“) formierte. Im Zentrum stehen auch hier Ausstellungen und Museumsgründungen. Selbstbestimmung in Bezug auf das kulturelle Erbe der Samen wurde seit den 1970er- und 1980er-Jahre vor allem über eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den nordischen Ländern durchgesetzt.
Kapitel sieben markiert den Übergang zum Abschnitt „Transformation der Institutionen“. In ihm arbeiten Peder Valle, Sabina Maria Rossau und Leena Svinhufvud heraus, in welcher Form Designausstellungen um 1968 den Begriff „Design“ auf technische und industrielle Güter, Anwendungen, Maschinen und kommerzielle Verpackungen anwandte. Adressiert wurden in diesen Ausstellungen jedoch hauptsächlich Institutionen wie Museen und die nationalen Design-Gesellschaften und weniger das allgemeine Publikum. In Kapitel acht setzt sich Pekka Korvenmaa mit Veränderungen von Institutionen der Ausbildung auseinander. Er untersucht, wie eine traditionelle Handwerksschule in Finnland zur Universität ernannt und wie sie zugleich durch den Kalten Krieg herausgefordert wurde. In dieser Schule setzten sich nämlich in etwa zeitgleich mit dem neuen Universitätsstatus politisch kommunistische Tendenzen durch, und zwar in Form eines eher orthodoxen, dogmatischen Marxismus-Leninismus, der vom Kreml ausging, was zu einer rigiden Polarisierung führte. Kapitel neun besteht aus Interviews, die Vibeke Riisberg, Anders V. Munch und Patricia Fie Nielsen mit ehemaligen Studentinnen der Kopenhagener School auf Arts and Crafts (heute Royal Danish Academy – Architecture, Design, Conservation) über die Gründe für ihre Rebellion um 1969 führten. Neben dem Wunsch nach Veränderung der damals noch sehr rigiden Curricula werden dabei vor allem das Erlangen individueller kreativer Freiheit und stärkere Partizipation als Motive genannt. Die internationale Studentenbewegung wurde zwar als Inspiration erwähnt, ansonsten gab es aber kaum eine Bezugnahme auf Sozialkritik oder politischen Aktivismus. In Kapitel zehn rekonstruieren Anders V. Munch, Alison J. Clarke, Vibeke Riisberg und Lene Kjærbye Petersen die Involvierung des Designers und Pädagogen Victor Papanek in die Geschichte der Revolte an dieser Designausbildungsstätte und die Auseinandersetzungen und blockierenden Polarisierungen, die sich im Zuge dessen ergaben.
Kapitel elf leitet zum Abschnitt „Transformation der Praktiken“ über und stellt ein weiteres Kernkapitel des Buches dar, da in ihm der „kooperative Design-Zugang“ rekonstruiert wird, der in den nordischen Ländern um 1970 entstand. Maria Göransdotter bezieht sich in ihrem Beitrag auf Feldstudien, in denen Designer und Designerinnen mit Einzelpersonen in ihrer häuslichen Lebenswelt zusammenarbeiteten – oft auch mit Personen, die körperliche Partikularitäten aufweisen. Auf diese Weise entstand das sogenannte „Ergonomiedesign“, das mit dem Konzept verbunden war, Design solle mit und durch Menschen praktiziert und nicht wie bislang in erster Linie für Menschen konzipiert werden. Kapitel zwölf, dreizehn und vierzehn bearbeiten schließlich spezielle Bereiche des Designs, die sich in dieser Periode herausgebildet haben: Mode-Design und Grafik-Design. Tone Rasch und Trine Brun Petersen zeigen auf, dass sich Mode um 1970 zunehmend von anderem Bereich des Designs getrennt hatte, wobei Designerinnen dem auch entgegenarbeiteten, indem sie Design und die Kunst des Handwerks zusammenführten und nicht allein dem Wunsch der Industrie nach effizienten Produktionsmethoden und raschem Umsatz entsprachen. Designerinnen wie Sigrun Berg können dementsprechend als Vorbilder für heutige slow fashion-Zugänge gesehen werden. Tau Lenskjold untersucht anschließend die Verkaufsinszenierung solcherart kreierter Objekte in einem kooperativen Geschäft in Kopenhagen, das Teil der damaligen gegenkulturellen Szene war und vor allem von Designerinnen betrieben wurde. Hier wird der in dieser Epoche entstehende frauenpolitische Zugang rekonstruiert und das Untersuchungsobjekt mit dem Begriff „Schwesternschaft“ in Beziehung gesetzt. Mit einer weiteren Graswurzelinitiative setzt sich Thomas T. Nordby auseinander, indem er rekonstruiert, wie sich das Design von Büchern von den Bereichen der Bildenden Kunst und des Drucks hin zu einer Domäne von Grafikdesign bewegte.
Der gleichsam „archäologische“, kultur- und sozialhistorisch angelegte Zugang dieses Buches impliziert, dass die einzelnen Fallstudien sehr genau und detailreich rekonstruiert sind. Dabei wird der gemeinsame Entstehungskontext der Beiträge durch viele Querbezüge sehr gut greifbar. Größere globale und strukturelle Zusammenhänge sowie internationale historische Umbrüche werden in manchen Kapiteln (etwa eins, zwei, fünf, sieben, zehn und elf) stärker angesprochen als in anderen. Insgesamt stellt diese Anthologie einen sehr lesenswerten und informativen Beitrag zur Design- und Umweltgeschichte dar. Aus heutiger Sicht überrascht, wie „Umwelt“ in dieser Periode definiert worden ist, aber auch wie viele historisch wegweisende Entwicklungen in dieser Zeit ihren Ausgang genommen haben. Dadurch, dass in dem Band nicht nur Erfolgsgeschichten erzählt werden, sondern auch verschiedene historische Irrläufe, Sackgassen und ideologischer Verhärtungen aufzeigt werden, hinterfragt er herkömmliche Klischees in Bezug auf die Studentenbewegung um 1968 und erweitert bestehende Arbeiten zur Kulturgeschichte dieser Bewegung 1 durch einen Fokus auf Nordeuropa und Design. „Nordic Design Cultures in Transformation“ zeichnet ein komplexes und ambivalentes Bild des Zusammenhangs von Kultur, Ästhetik, politischer Bewegung und sozialer Innovation in Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland zwischen 1960 und 1980.
Anmerkung:
1 Z.B. Martin Klimke / Joachim Scharloth (Hrsg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart 2007; rezensiert von Sebastian Haumann, in: H-Soz-Kult, 14.08.2007, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-10046 (02.07.2024).